Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 08.02.2002, Az.: 6 B 180/02

Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung; Recht eines Schülers auf Teilnahme am Unterricht; Hinreichende Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
08.02.2002
Aktenzeichen
6 B 180/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 29598
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2002:0208.6B180.02.0A

Fundstelle

  • SchuR 2004, 11-12 (Volltext)

Verfahrensgegenstand

Vorläufiger Rechtsschutz

In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Hannover - 6. Kammer -
am 8. Februar 2002
beschlossen:

Tenor:

Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, die Antragstellerin vorläufig, längstens jedoch bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, bei ihr am Unterricht teilnehmen zu lassen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 2.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

1

I.

Die Antragstellerin begehrt im Wege eines Antrages auf vorläufigen Rechtsschutzes, ihr nach dem Umzug ihrer Eltern den weiteren Schulbesuch bei der Antragsgegnerin zu ermöglichen.

2

Die im Jahr 1987 geborene Antragstellerin wohnte zunächst mit ihren Eltern in Dort besuchte sie die 9. Klasse der Realschule bei der Antragsgegnerin. Nachdem die Eltern der Antragstellerin im August 2001 nach ... umgezogen waren, wäre für die Antragstellerin nunmehr die Realschule Isernhagen zuständig.

3

Unter dem 23.09.2001 beantragten die Eltern der Antragstellerin daher, ihr ab sofort nach § 63 Abs. 3 Satz 4 des Niedersächsischen Schulgesetzes (NSchG) den weiteren Besuch der Realschule bei der Antragsgegnerin zu gestatten. Zur Begründung gaben die Eltern der Antragstellerin an, diese werde durch ihre Großeltern betreut. Dieser Antrag wurde unter dem 25.09.2001 von der Schulleitung der Antragsgegnerin befürwortet, weil der Antragstellerin "aus Gründen der Kontinuität" der Besuch dieser Schule bis zum Ende der Klasse 10 ermöglicht werden solle. Die Schulleitung der Realschule Isernhagen befürwortete den Antrag hingegen nicht.

4

Die Bezirksregierung Hannover lehnte den Antrag vom 23.09.2001 mit Bescheid vom 24.10.2001 ab und wies den dagegen erhobenen Widerspruch vom 30.10.2001 mit Widerspruchsbescheid vom 12.11.2001 als unbegründet zurück. Zur Begründung machte die Bezirksregierung Hannover im Wesentlichen geltend, die Antragstellerin sei nach § 63 Abs. 3 Satz 1 NSchG verpflichtet, die Realschule zu besuchen, in deren Schulbezirk sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt habe. Dies sei gegenwärtig die Realschule Isernhagen. Der Besuch einer anderen Schule könne nach § 63 Abs. 3 Satz 4 NSchG nur gestattet werden, wenn der Besuch der zuständigen Schule für die Antragstellerin eine unzumutbare Härte darstellen würde oder der Besuch der anderen Schule aus pädagogischen Gründen geboten erscheine. Diese Voraussetzungen lägen nicht vor. Die hiergegen von der Antragstellerin am 12.12.2001 erhobene Klage ist noch zu Aktenzeichen 6 A 5406/01 bei dem beschließenden Gericht anhängig.

5

Mit Schreiben vom 21.12.2001 teilte die Schulleitung der Antragsgegnerin den Eltern der Antragstellerin mit, nach Rücksprache mit der Bezirksregierung Hannover müsse ihnen mitgeteilt werden, dass die Antragstellerin ab sofort die Realschule Isernhagen besuchen müsse. Gegen dieses Schreiben erhob der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin mit Schreiben vom 03.01.2002 bei der Antragsgegnerin "vorsorglich Widerspruch" und erklärte, die Antragstellerin werde nach den Schulferien dort wieder zum Unterricht erscheinen. Nach Angaben der Antragstellerin forderte der Schulleiter der Antragsgegnerin sie jedoch am 10.01.2002 auf, die Schule zu verlassen, woraufhin sie umgehend erkrankt sei.

6

Die Antragstellerin hat am 14.01.2002 um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.

7

Zur Begründung trägt sie vor, sie sei zwischenzeitlich - offenbar im November 2001 - zu ihren Großeltern Ilona und Günter Bleicher, wohnhaft ... gezogen. Dort sei sie mit Hauptwohnsitz gemeldet und wohne dort während der Schulzeit an den Werktagen einschließlich Freitag. Bei ihren Eltern halte sie sich nur noch an den Wochenenden und in den Schulferien auf. Zur Glaubhaftmachung legt sie insoweit eine entsprechende eidesstattliche Versicherung ihrer Großeltern vor.

8

Durch diesen Umzug habe sich der Antrag vom 23.09.2001 erledigt.

9

Außerdem neige sie zu depressiv-introvertiertem Verhalten. Da sie sich daher schlechter an neue Situationen anpassen könne, würde ein Schulwechsel ihre seelische Gesundheit gefährden. Zur Glaubhaftmachung legt sie insoweit einen Brief an ihre Eltern vom 29.10.2001 sowie eine ärztliche Bescheinigung der Ärztin für Kinderheilkunde Dr. Maija Dallmeier, Hannover, vom 15.01.2002 vor. In dieser empfiehlt die Ärztin "dringend", der Antragstellerin den Besuch ihrer bisherigen Schule zu erlauben.

10

Nachdem die Antragstellerin zunächst beantragt hatte,

festzustellen, dass der "Widerspruch" vom 03.01.2002 gegen die "Verfügung" der Antragsgegnerin vom 21.12.2001 aufschiebende Wirkung habe,

11

beantragt sie nunmehr,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig, längstens aber bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, den Schulbesuch in der Gerhart-Hauptmann-Schule zu gestatten.

12

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

13

Zur Begründung macht sie geltend, die Behauptung der Antragstellerin, nunmehr bei ihren Großeltern zu leben, sei nicht glaubhaft. Die Antragstellerin sei vielmehr auch vor dem Umzug ihrer Eltern von ihren Großeltern betreut worden, ohne dass es offenbar erforderlich gewesen sei, während der Schultage bei diesen zu übernachten. Die Umstände des "Rückumzuges" nach ... sprächen vielmehr für die Annahme eines bloßen "Scheinwohnsitzes" bei den Großeltern.

14

Demgegenüber könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin einen gesetzlichen oder gewillkürten Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Schulbezirk der Antragsgegnerin habe. Letzteres sei auch erst im Rahmen des gerichtlichen Eilverfahrens behauptet worden, während sich der Begründung des Widerspruches vom 30.10.2001 noch nicht entnehmen lasse, dass die Antragstellerin bei den Großeltern den Schwerpunkt ihrer Lebensbeziehungen gehabt habe.

15

Die ärztliche Bescheinigung vom 15.01.2002 sei ebenfalls nicht überzeugend, da das Krankheitsbild der Antragstellerin bereits im Jahr 2001 bekannt gewesen sein müsse. Daher sei es nicht nachvollziehbar, warum dieses nicht auch schon bei der Antragstellung am 23.09.2001 erwähnt worden sei.

16

Schließlich sei die Befürwortung des Antrages vom 23.09.2001 durch die Antragsgegnerin nicht maßgeblich, da die Begründung hierfür die Ausnahmevoraussetzungen des § 63 Abs. 3 Satz 4 NSchG verkenne und eine dortige Rückfrage ergeben habe, dass besondere pädagogische Gründe für einen Verbleib der Antragstellerin an der Schule nicht gegeben seien.

17

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der beigezogenen Gerichtsakten zum Verfahren 6 A 5406/01 und der dort beigezogenen Verwaltungsvorgänge (dort Beiakte A) Bezug genommen.

18

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ist zulässig und begründet. Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 295 ZPO).

19

Der Anordnungsanspruch ergibt sich nach Auffassung der Kammer daraus, dass die Antragstellerin zum Schulbesuch bei der Antragsgegnerin nicht nur berechtigt, sondern nach § 63 Abs. 3 Satz 1 NSchG sogar verpflichtet ist. Denn nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur gebotenen summarischen Prüfung geht die Kammer davon aus, dass die Antragstellerin jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt zumindest ihren gewöhnlichen Aufenthalt bei ihren Großeltern in ... und damit im Schulbezirk der Antragsgegnerin hat.

20

Der gewöhnliche Aufenthalt wird an dem Ort begründet, wo nach dem Willen des Betroffenen bzw. seiner Erziehungsberechtigten der Schwerpunkt der Lebensbeziehungen liegen soll (vgl. Woltering/Bräth, NSchG, Kommentar, 4. Aufl., Anm. 2 zu § 63 NSchG). Dies ist im Zweifel der Ort der vorwiegend benutzten Wohnung (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 3 des Niedersächsischen Meldegesetzes - NMG -). Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I) hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort nicht nur vorübergehend verweilt. Nach Nr. 3.1.2 Satz 1 und 2 der "Ergänzenden Bestimmungen zur Schulpflicht und zum Rechtsverhältnis zur Schule" (- Erg.Best. -, abgedruckt u.a. bei Seyderhelm/Nagel/Brockmann, NSchG, Kommentar, Stand: 19. Nachlieferung Januar 2002, bei § 63 NSchG) sind für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthaltes die tatsächlichen Verhältnisse maßgebend, wobei für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes ein Aufenthalt von fünf Tagen genügt.

21

Dementsprechend genügt es für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes, wenn der betroffene Schüler während der Schulzeit an fünf Tagen in der Woche bei Verwandten wohnt, wobei der Zweck des Aufenthaltes bei den Verwandten auch und gerade darin liegen kann, den Besuch einer bestimmten Schule zu ermöglichen (vgl. Woltering/Bräth, a.a.O.).

22

Diese Voraussetzungen hat die Antragstellerin hier aus Sicht der Kammer glaubhaft gemacht. Denn sie hat eine eidesstattliche Versicherung ihrer Großeltern vorgelegt, in der die vorstehend genannten Voraussetzungen bestätigt werden. Die Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung ist im Verfahren nach § 123 VwGO ein zulässiges Beweismittel (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO), dem zunächst Beweiskraft zukommt. Es wäre Sache der Antragsgegnerin, die Glaubhaftigkeit des darauf gestützten Tatsachenvortrags oder die Glaubwürdigkeit der Erklärenden durch substantiierten Tatsachenvortrag zu erschüttern. Dies ist der Antragsgegnerin hier jedoch nicht gelungen. Allein der Umstand, dass die Antragstellerin erst im Verlaufe des gerichtlichen Eilverfahrens und nicht etwa schon im Rahmen ihrer Widerspruchsbegründung vom 30.10.2001 vorgetragen hat, bei ihren Großeltern zu wohnen und dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet zu haben, spricht noch nicht gegen die Glaubhaftigkeit dieses Vorbringens. Denn es ist durchaus nachvollziehbar, dass sich die Antragstellerin und ihre Eltern dazu entschlossen haben könnten, die Antragstellerin nunmehr bei den Großeltern wohnen zu lassen, um ihr kurzfristig den weiteren Schulbesuch bei der Antragsgegnerin zu ermöglichen, nachdem die Bezirksregierung Hannover mit ihrem Widerspruchsbescheid vom 12.11.2001 auch den Widerspruch vom 30.10.2001 abgelehnt hatte und eine schnelle Erteilung einer Gestattung nach § 63 Abs. 3 Satz 4 NSchG damit nicht zu erwarten war. Bestimmte Tatsachen, die maßgeblich gegen die Richtigkeit der eidesstattlichen Versicherung der Großeltern der Antragstellerin sprechen, hat die Antragsgegnerin weder dargelegt noch glaubhaft gemacht.

23

Der erforderliche Anordnungsgrund ergibt sich für die Kammer daraus, dass die Antragsgegnerin der Antragstellerin offensichtlich die Teilnahme am Unterricht bei ihr verweigert und die Antragstellerin dadurch daran hindert, ihrer Schulpflicht nach § 63 Abs. 3 Satz 1 NSchG ordnungsgemäß nachzukommen, was wiederum den Verdacht einer Ordnungswidrigkeit nach § 176 Abs. 1 Nr. 1 NSchG begründen könnte. Dies kann der Antragstellerin auch nicht nur vorübergehend zugemutet werden.

24

Im Übrigen spricht insoweit einiges für die Annahme, dass die Antragstellerin auch nicht unerheblich an ihrer Gesundheit gefährdet sein könnte, wenn ihr der Schulbesuch bei der Antragsgegnerin bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Hauptsacheverfahrens verweigert werden würde. Die Zweifel der Antragsgegnerin an der Richtigkeit und Schlüssigkeit der ärztlichen Bescheinigung vom 15.01.2002 teilt die Kammer zumindest nach summarischer Prüfung nicht.

25

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Streitwertbeschluss:

Danach beträgt der Streitwert im vorliegenden Verfahren des vorliegenden Rechtsschutzes die Hälfte des für ein entsprechendes Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwertes nach § 13 Abs. 1 Satz 2 VwGO (Auffangwert) in Höhe von 4.000,00 Euro, mithin 2.000,00 Euro.

Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß § 25 Abs. 2 Satz 1 GKG und beruht der Höhe nach auf § 20 Abs. 3 i.V.m. § 13 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. I. 7. Satz 1 der Empfehlungen des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt u.a. bei Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 11. Aufl., nach § 189 VwGO).

Littmann
Oppenborn
Heidmann