Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 17.06.2011, Az.: 11 K 70/11
Widerrufbarkeit eines Einverständnisses mit einer Entscheidung durch den Einzelrichter und des Verzichts auf mündliche Verhandlung
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 17.06.2011
- Aktenzeichen
- 11 K 70/11
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 30686
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2011:0617.11K70.11.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BFH - AZ.: I R 74/11
Rechtsgrundlage
- § 46 Abs. 1 FGO
Fundstelle
- StBW 2012, 10
Haftung für Umsatzsteuer 2004, 2005, I/2006, II/2006 und III/2006
Haftung für Körperschaftsteuer 2004 und 2005
Haftung für Solidaritätszuschlag zur Körperschaftssteuer 2004 und 2005
Haftung für Gewerbesteuer 2004 und 2005
Das Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Einzelrichter und der Verzicht auf mündliche Verhandlung sind nicht frei widerrufbar.
Eine vom Insolvenzschuldner erhobene Klage ist wegen des Übergangs der Verwaltungs- und Verfügungsrechte auf den Insolvenzverwalter grundsätzlich unzulässig.
Tatbestand
Streitig ist die Zulässigkeit der Klage, insbesondere. ob dem Kläger für seine nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erhobene (Untätigkeits-)Klage gegen einen Haftungsbescheid die Prozessführungsbefugnis zusteht.
Am 10. Dezember 2009 wurde über das Vermögen des Klägers das Insolvenzverfahren eröffnet. Am 16. Februar 2011 erhob der Kläger, vertreten durch einen Prozessbevollmächtigten, (Untätigkeits-)Klage gegen den Haftungsbescheid des Beklagten vom 22. Juni 2010.
Der Kläger beantragt,
den Haftungsbescheid vom 22. Juni 2010 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er meint, die vom Kläger erhobene (Untätigkeits-)Klage sei unzulässig, weil dem Kläger mehrfach ein zureichender Grund dafür genannt worden sei, warum das Einspruchsverfahren nicht fortgesetzt werden könne.
Die Beteiligten haben zunächst übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet und sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter einverstanden erklärt. Mit Schriftsatz vom 8. Juni 2011, eingegangen am 10. Juni 2011, teilt der Kläger mit, dass aufgrund der in Verfahren zur Aussetzung der Vollziehung und Prozesskostenhilfe vertretenen Rechtsauffassung des Berichterstatters ein Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Einzelrichter nicht mehr bestehe und in einem Termin zur mündlichen Verhandlung Rechtsgründe vertieft darzustellen seien.
Entscheidungsgründe
1.
Die Entscheidung kann trotz des Schreibens des Klägers vom 8. Juni 2011 nach § 79a Abs. 3 Finanzgerichtsordnung (FGO) durch den konsentierten Einzelrichter und nach § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung getroffen werden. Sowohl das Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter als auch der Verzicht auf mündliche Verhandlung können als Prozesshandlung nicht frei widerrufen werden. Insbesondere ist ein solcher Widerruf nicht aus dem Grund gerechtfertigt, weil eine vom Berichterstatter vertretene Rechtsansicht vom Kläger nicht geteilt wird.
2.
Die Klage ist unzulässig. Dem Kläger fehlt es nämlich, worauf das Gericht ihn bereits mehrfach hingewiesen hat, an der Prozessführungsbefugnis.
Da die Verwaltungs- und Verfügungsrechte des Klägers mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens von diesem auf den Insolvenzverwalter übergangen sind, ist der Kläger - für die Dauer des Insolvenzverfahrens - selbst nicht berechtigt, die sich aus seinem Vermögen ergebenden Rechte auszuüben. Dieser Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis erstreckt sich auch auf die Vornahme von Prozesshandlungen. Der Kläger ist zwar auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens prozessfähig (geblieben). § 80 Abs. 1 InsO hat ihm aber hinsichtlich der zur Insolvenzmasse gehörenden Gegenstände die Prozessführungsbefugnis entzogen und diese dem Insolvenzverwalter übertragen (Uhlenbruck, InsO, 12. Auflage, München 2003, § 80 RdNr. 68). Diese Abspaltung der Prozessführungsbefugnis von der materiellrechtlich begründeten Rechtsträgerschaft hat zur Folge, dass nur der Insolvenzverwalter berechtigt - d.h. befugt - ist, die behauptete Rechtsverletzung des Klägers, hier Anfechtung eines Haftungsbescheids, prozessual geltend zu machen. Dies bedeutet, dass die Klage unzulässig ist, weil der Kläger die Klage erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erhoben hat. Der erkennende Senat schließt sich damit den Ausführungen des Finanzgerichts des Landes Sachsen-Anhalt im Urteil vom 18. November 2008 4 K 203/05 (EFG 2009, 860 [FG Sachsen-Anhalt 18.11.2008 - 4 K 203/05]) an.
3.
Selbst wenn man aber mit der Ansicht des Klägers die Prozessführungsbefugnis bejahte, so wäre die Klage als Untätigkeitsklage dennoch unzulässig.
Die Klage ist unzulässig, weil im Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht über den außergerichtlichen Rechtsbehelf entschieden war (§ 44 Abs. 1 FGO) und die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Untätigkeitsklage nach § 46 Abs. 1 FGO nicht vorlagen.
Ohne vorherigen Abschluss eines Vorverfahrens ist eine Klage nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO abweichend von § 44 FGO zulässig, wenn über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Im Streitfall hat jedoch, worauf der Beklagte zutreffend hinweist, ein solcher zureichender Grund vorgelegen und ist dies dem Kläger mitgeteilt worden.
Aus § 46 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 FGO folgt, dass eine Frist von bis zu sechs Monaten nach Einlegung des Einspruchs regelmäßig als angemessen anzusehen ist (z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 27. April 2006 IV R 18/04, BFH/NV 2006, 2017, m.w.N.). Das Tatbestandsmerkmal "in angemessener Frist" ist aber auch nach Ablauf von sechs Monaten zu prüfen. Dabei ist nach den gesamten Umständen des Falles zu beurteilen, ob eine darüber hinausreichende Frist noch "angemessen" ist. Abzuwägen sind auf der einen Seite der Umfang und die rechtlichen Schwierigkeiten des Falles und auf der anderen Seite das Interesse des Rechtsbehelfsführers an einer baldigen Entscheidung (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2006, 2017; BFH-Beschluss vom 7. März 2008 VI B 78/04, BFH/NV 2006, 1018; von Beckerath in Beermann/Gosch, FGO, § 46 Rz 88 und 95). Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO muss ein Steuerpflichtiger eine Verzögerung der Entscheidung über seinen außergerichtlichen Rechtsbehelf über eine angemessene Frist hinaus nur dann hinnehmen, wenn dafür ein zureichender Grund besteht und dieser ihm mitgeteilt worden ist.
Ein zureichender Grund liegt vor, wenn es nach den besonderen Umständen des Einzelfalles einleuchtend erscheint, dass das Rechtsbehelfsverfahren noch nicht abgeschlossen wurde (von Groll in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 46 Rz 19). Im Streitfall ist als zureichender Grund i.S. des § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO das Abwarten der strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen anzusehen, weil, wie der Beklagte ausführt, die dort gewonnenen Erkenntnisse für das Einspruchsverfahren förderlich sein können und ein Aufbauen auf diese Erkenntnisse bei der Sachentscheidung über die Haftungsinanspruchnahme des Klägers ermöglicht.
4.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).