Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 23.06.2011, Az.: 16 K 48/11

Grundsatz der Geltung der formellen Bescheidlage im Falle irriger Annahme einer Organschaft

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
23.06.2011
Aktenzeichen
16 K 48/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 24025
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2011:0623.16K48.11.0A

Abrechnungsbescheid zur Umsatzsteuer 2008

Grundsatz der Geltung der formellen Bescheidlage auch in den Fällen, in denen sich die Annahme einer Organschaft als irrig erweist.

Tatbestand

1

Die Klägerin reichte beim Beklagten am 26. Mai 2010 die Umsatzsteuerjahreserklärung für das Streitjahr 2008 ein, in der sie selbst eine verbleibende Umsatzsteuer in Höhe von 4.868.984,39 EUR errechnete. Der Beklagte stimmte der Steuererklärung zu und erließ einen entsprechenden Jahressteuerbescheid am 6. Dezember 2010. In diesem Steuerbescheid wies der Beklagte bereits getilgte Steuerbeträge im Umfang von 51.817.313,54 EUR aus, mit der Folge, dass sich ein Restguthaben in Höhe von 46.948.329,15 EUR für die Umsatzsteuer und ein Erstattungszinsbetrag in Höhe von 1.877.932 EUR ergab. Der Beklagte zahlte das Guthaben nicht an die Klägerin aus. Im Steuerbescheid ist der Hinweis enthalten, dass über die Verwendung des Guthabens eine besondere Mitteilung ergehe. In einer Anlage zum Steuerbescheid hat der Beklagte erläutert, dass das Guthaben im Gesamtumfang von 48.826.261,15 EUR umgebucht werde auf Umsatzsteuer 2008 der Firma K. GmbH.

2

Die Klägerin wandte sich mit Schreiben vom 15. Dezember 2010 gegen diese Umbuchung und begehrte die Auszahlung des Guthabens auf ihr Bankkonto. Der Beklagte sah hierin einen Antrag auf Erteilung eines Abrechnungsbescheides. Diesen erteilte er am 14. Januar 2011. Dort führt der Beklagte aus, dass in Höhe der Guthaben eine Verrechnung mit Steuerschulden der K. GmbH i. L. (nachfolgend: GmbH) erfolgt sei. Gegen den letztgenannten Bescheid richtet sich die Sprungklage der Klägerin, zu der der Beklagte seine Zustimmung erklärt hat.

3

Dem geschilderten Vorgang liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:

4

Seit 1949 verpachtete die Klägerin wesentliche Betriebsgrundlagen im Wege einer sogenannten Betriebsaufspaltung an die GmbH. An der Klägerin waren diverse Einzelpersonen als Kommanditisten beteiligt. Keiner der Kommanditisten verfügte über einen Anteil, der größer als 20 v.H. war. Die GmbH-Anteile wurden zum großen Teil durch dieselben Einzelpersonen gehalten. Auch dabei ist festzustellen, dass keine Einzelperson eine Beteiligung hatte, die über 20 v.H. lag.

5

Nach dem zwischen der Klägerin und der GmbH geschlossenen Pachtvertrag, dessen Grundlage der Vertrag vom 30. Januar 1949 ist, verpachtete die Klägerin an die GmbH Grundstücke, Gebäude, Maschinen und Einrichtungsgegenstände und erhielt hierfür X v.H. des Rohertrages der GmbH zuzüglich der Erstattung von Abschreibungen für die verpachteten Gegenstände. Nach § 3 a des Vertrages übernahm die GmbH (auch) die öffentlichen Abgaben und Steuern mit Ausnahme der seitens der Klägerin zu tragenden Einkommen- und Vermögensteuern.

6

Am 8. April 2009 wurde für die GmbH das Insolvenzverfahren vor dem Amtsgericht O. beantragt. Das Verfahren wurde durch Beschluss dieses Gerichts am 29. Juni 2009 eröffnet.

7

Erstmalig im Zusammenhang mit der Abgabe einer Umsatzsteuervoranmeldung für den Monat März 2009 machte die Klägerin gegenüber dem Beklagten geltend, dass die bis dahin einvernehmlich angenommene umsatzsteuerliche Organschaft mindestens seit März 2009 beendet gewesen sei. Danach entwickelte sich zwischen Klägerin und Beklagtem ein Rechtsstreit über die Frage der zutreffenden Besteuerungsgrundlagen für die Voranmeldungen März bis Juni 2009. Im Ergebnis nahm der Beklagte nach Rücksprache mit der Oberfinanzdirektion an, dass tatsächlich die Voraussetzungen einer Organschaft nicht vorlägen und beendete diese Rechtsstreitigkeit durch Erlass von geänderten Umsatzsteuervorauszahlungsbescheiden.

8

Eine Betriebsprüfung, die die Jahre 2002 bis 2005 betraf, hatte noch im Betriebsprüfungsbericht vom 14. Januar 2009 angenommen, dass die Voraussetzungen der umsatzsteuerlichen Organschaft für die geprüften Jahre vorgelegen hätten.

9

Noch für das Jahr 2008 gab die Klägerin monatlich Umsatzsteuervoranmeldungen ab, in der sie die Besteuerungsgrundlagen für den bis dahin noch angenommenen Organkreis einarbeitete. Die entsprechenden Umsatzsteuervorauszahlungsbeträge wurden auf das Steuerkonto der Klägerin beim Beklagten einbezahlt.

10

Aufgrund der (wohl zutreffenden) Rechtsauffassung beider Beteiligten, wonach jedenfalls im Streitjahr die Voraussetzungen einer umsatzsteuerlichen Organschaft nicht mehr vorgelegen hatten, erklärte die Klägerin in ihrer Umsatzsteuerjahreserklärung für das Streitjahr nur noch die selbst von ihr bewirkten Verpachtungsumsätze unter Berücksichtigung von Vorsteuerabzugsbeträgen. Dies führte dann im Ergebnis zu der in Rede stehenden Überzahlung.

11

Ihre Klage, mit der die Klägerin im Wesentlichen die Auszahlung des Guthabens an sich selbst begehrt, begründet die Klägerin im Wesentlichen wie folgt:

12

Eine Verrechnung mit Steuerschulden der GmbH sei nicht möglich. Es bestehe weder die vom Beklagten angenommene Verrechnungsvereinbarung, noch könne sich der Beklagte auf den Grundsatz von Treu und Glauben berufen, um die Auszahlung an sie zu verhindern. Eine Aufrechnungslage bestehe mangels Gegenseitigkeit der Ansprüche nicht. Die Klägerin sei Erstattungsgläubigerin aus dem ihr erteilten Jahressteuerbescheid. Die GmbH sei Schuldnerin ihrer Umsatzsteuerbeträge. Soweit die GmbH Zahlungen auf die Umsatzsteuer-voranmeldungen des Jahres 2008 geleistet habe, sei nach dem Willen der GmbH, wie er im Zeitpunkt der Zahlung gegenüber dem Beklagten durch Verwendung der Steuernummer der Klägerin erkennbar hervorgetreten sei, nicht für eigene Rechnung der GmbH, sondern auf Rechnung der Klägerin zur Tilgung vermeintlicher Steuerschulden der Klägerin geleistet worden. Dies erkläre sich auch durch einen abgekürzten Zahlungsweg. Denn die GmbH sei aufgrund des Pachtvertrages zur entsprechenden Zahlung der Umsatzsteuer im Verhältnis zur Klägerin verpflichtet gewesen. Die Klägerin habe ihren Erstattungsanspruch aus Umsatzsteuer 2008 auch nicht an die GmbH abgetreten. Die Klägerin habe auch keiner Verrechnung mit Steuerschulden der GmbH zugestimmt. Eine derartige Verrechnungsvereinbarung bestehe weder ausdrücklich, noch bestehe sie konkludent, wie der Beklagte annehme. Sie habe keine konkludente, auf den Abschluss einer entsprechenden Verrechnungsvereinbarung gerichtete Willenserklärung abgegeben.

13

Soweit sich der Beklagte für die vorgenommene Verrechnung auf den Grundsatz von Treu und Glauben berufe, greife dieser nicht durch. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH könne eine derartige Berücksichtigung im Abrechnungsverfahren nicht erfolgen. Auf die Entscheidung des BFH vom 30. März 2010, VII R 17/09, werde verwiesen. Maßgeblich sei im Verfahren über Abrechnungsbescheide nach ständiger Rechtsprechung die sogenannte formelle Bescheidlage. Nach dieser stehe ihr der Auszahlungsanspruch zu. Die Klägerin verhalte sich auch nicht widersprüchlich, wenn sie die Auszahlung des Guthabens beantrage. Ihr könne nicht vorgeworfen werden, dass sie die Umsatzsteuerjahreserklärung 2008 entsprechend der Gesetzeslage abgegeben habe und dabei eben keine Umsätze im Organkreis mit berücksichtigt habe. Sie berücksichtige mit dieser Jahreserklärung lediglich die Rechtsauffassung, wie sie der Beklagte nunmehr auch annehme. Dagegen habe zum Zeitpunkt der Abgabe der Voranmeldungen für die jeweiligen Voranmeldungszeiträume des Streitjahres noch die Annahme bestanden, es läge eine Organschaft vor. Hierin liege kein vorwerfbares widersprüchliches Verhalten der Klägerin. Ein Vergleich mit dem Sachverhalt, der den Urteil des BFH X R 47/88 vom 17. Juni 1992 zugrunde liege und auf das der Beklagte abstelle, könne nicht gezogen werden. Soweit der Beklagte meine aus § 85 Abgabenordnung - AO - ein eigenes Prüfungsrecht herleiten zu können und damit entgegen der formellen Bescheidlage handeln zu können, werde dem entgegengetreten.

14

Die Klägerin beantragt,

den Abrechnungsbescheid dahingehend abzuändern, dass für 2008 ein Umsatzsteuerguthaben in Höhe von 46.948.329,15 EUR zuzüglich Erstattungszinsen von 1.877.932 EUR an die Klägerin auszuzahlen sind.

15

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

16

Der Beklagte hält im Ergebnis an dem fest, was er bereits als Begründung seines Abrechnungsbescheides zum Ausdruck gebracht hat. Es bestünden in einer angenommenen Organschaft zwischen den Rechtssubjekten Organmutter und Organtochter Verrechnungsvereinbarungen aufgrund konkludenten Verhaltens. Dieses bestehe darin, dass gemeinschaftlich Umsatzsteuererklärungen und Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben wurden, auf die im Regelfall die Organtochter die Umsatzsteuer leiste. Dann stehe auch der Tochter im Ergebnis die Überzahlung zu. Auch nach den Grundsätzen von Treu und Glauben könne die Klägerin nicht die Auszahlung an sich selbst begehren. Alle Beteiligten hätten sich seit Jahren darauf berufen, dass eine Organschaft bestehe. Sie hätten entsprechend gehandelt. Die Klägerin habe auch gegenüber dem Insolvenzverwalter der GmbH bereits geltend gemacht, dass sie es ablehne das Umsatzsteuerguthaben, dass sie vom Beklagten ausbezahlt bekommen möchte, der Insolvenzmasse zur Verfügung zu stellen. Es widerspreche allen Grundsätzen von Treu und Glauben, wenn die Klägerin damit im Ergebnis das erstrebte Geld für sich behalten wolle und sich dabei gegenüber dem Insolvenzverwalter der GmbH auf die notariell beurkundete Vereinbarung vom 25. März 2010 des Notars Wi. zu Urkunden-Nr. 150/2010 W - dort Textziffer 13.2.4 - berufe.

17

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte.

Entscheidungsgründe

18

Die Klage ist begründet.

19

Der Klägerin steht nach § 37 Abs. 2 Satz 1 AO der Anspruch auf Erstattung der überzahlten Umsatzsteuer für das Streitjahr 2008 zu. Nach dieser Norm ist eine Steuer, eine Steuervergütung, ein Haftungsbetrag oder eine steuerliche Nebenleistung, die ohne rechtlichen Grund gezahlt oder zurückgezahlt worden ist, an denjenigen zu erstatten, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist.

20

Im Streitfall steht fest, dass die Umsatzsteuervorauszahlungen für das Jahr 2008 für die Klägerin geleistet worden sind. Diese Vorauszahlungen entsprachen der Höhe nach den von der Klägerin erklärten geschuldeten Beträgen für die einzelnen Voranmeldungszeiträume. Mit Erlass des Umsatzsteuerjahresbescheides ist der Rechtsgrund für das Behalten dieser Beträge in dem Umfang weggefallen, in dem die Jahressteuerfestsetzung gegenüber der Summe der Voranmeldungsfestsetzungen sich verringerte. Die Klägerin hat einen Anspruch auf diesen Differenzbetrag.

21

Grundsätzlich gilt, dass im Abrechnungsverfahren auf die formelle Bescheidlage abzustellen ist. Dies ist ständige Rechtsprechung des hierfür zuständigen 7. Senats des Bundesfinanzhofs, wie sie beispielhaft im Urteil VII R 17/09 vom 30. März 2010 zum Ausdruck kommt. Dabei gilt, dass eine Zahlung auf Rechnung desjenigen bewirkt worden ist, dessen Steuerschuld nach dem Willen des Zahlenden, wie er im Zeitpunkt der Zahlung dem Finanzamt gegenüber erkennbar hervorgetreten ist, getilgt werden sollte. Danach ist anzunehmen, dass die Umsatzsteuervorauszahlungen des Jahres 2008 auf Rechnung der Klägerin bewirkt worden sind. Dies gilt unabhängig davon, ob die Zahlungen tatsächlich von Konten der GmbH erfolgten oder nicht. Es ist im Streitfall auszuschließen, dass die GmbH mit den Zahlungen auf die Umsatzsteuervorauszahlungsschuld eine eigene Umsatzsteuerschuld hätte begleichen wollen.

22

Eine Verrechnungsvereinbarung dergestalt, dass der Erstattungsbetrag aus der Umsatzsteuer 2008 mit Umsatzsteuerschulden der GmbH verrechnet werden sollte, existiert nicht. Sie ist auch nicht erkennbar konkludent zwischen Klägerin und GmbH vereinbart gewesen. Die insoweit vom Beklagten vorgetragenen Begründungen sind rechtlich nicht haltbar. Die von der Klägerin für das Jahr 2008 abgegebenen Voranmeldungen sind keine "gemeinschaftlichen" Voranmeldungen der Klägerin und der GmbH gewesen. Sie waren allein Voranmeldungen der Klägerin. Auch insoweit greift erneut der Grundsatz der formellen Bescheidlage.

23

Schließlich war der Beklagte auch nicht aus den Rechtsgrundsätzen von Treu und Glauben befugt die Auszahlung an die Klägerin zu verweigern und insoweit eine Umbuchung auf Steuerschulden der GmbH vorzunehmen. Derartiges hätte zur Voraussetzung, dass seitens der Klägerin eine treuwidrige Vereitelung der Durchsetzung der Steuerforderung des Finanzamts vorläge. Derartiges ist im Streitfall nicht ersichtlich. Der Beklagte hat von der Möglichkeit seine Steuerforderungen gegenüber der GmbH zur Insolvenztabelle anzumelden, Gebrauch gemacht. Derartiges hat die Klägerin in keiner Weise zu vereiteln versucht. Wenn sich die Klägerin - möglicherweise erfolgreich - gegenüber dem Insolvenz-verwalter der GmbH darauf beruft, dass der insoweit zwischen ihr und dem Insolvenz-verwalter geschlossene Vertrag einen Verzicht auf die Zahlung des Umsatzsteuer-Erstattungsbetrages an die Insolvenzmasse zum Inhalt hat, so liegt hierin kein treuwidriges Verhalten der Klägerin gegenüber dem Beklagten.

24

Damit steht der Beklagten der Erstattungsanspruch bezüglich Umsatzsteuer 2008 nebst Erstattungszinsen nach § 37 Abs. 2 AO zu. Entsprechend ist die Klage vollumfänglich begründet.

25

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Finanzgerichtsordnung - FGO -.

26

Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

27

Der Senat sieht keinen Grund zur Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 1 FGO.