Sozialgericht Hannover
Urt. v. 24.07.2014, Az.: S 25 SB 556/12
Erhöhung des Grades der Behinderung bei Verschlimmerung des Erstleidens durch Hinzutreten von "Morbus Crohn"
Bibliographie
- Gericht
- SG Hannover
- Datum
- 24.07.2014
- Aktenzeichen
- S 25 SB 556/12
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2014, 24773
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGHANNO:2014:0724.S25SB556.12.0A
Rechtsgrundlagen
- § 69 Abs. 1 SGB IX
- § 30 Abs. 1 BVG
Tenor:
- 1.
Der Bescheid vom 12. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. August 2012 wird abgeändert und der Beklagte wird verurteilt, bei dem Kläger ab Mai 2012 einen Grad der Behinderung von 80 festzustellen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
- 2.
Der Beklagte erstattet dem Kläger 1/2 seiner außergerichtlichen Kosten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) und hierbei konkret darüber, mit welchem Einzel-GdB die bei dem Kläger vorliegende Erkrankung Morbus Crohn zu bewerten ist.
Bei dem 1963 geborenen Kläger wurde mit Bescheid vom 9. Februar 2007 ein GdB von 40 festgestellt. Die Entscheidung stützte sich auf die Funktionsbeeinträchtigungen:
1. Degeneratives Wirbelsäulenleiden, Bandscheibenschaden mit Muskelatrophie und Sensibilitätsstörungen (Einzel-GdB: 30) 2. Allergisches Asthma bronchiale (Einzel-GdB: 20).
Am 31. Mai 2007 stellte der Kläger einen Verschlimmerungsantrag. Das bereits festgestellte Wirbelsäulenleiden habe sich verschlechtert.
Der Beklagte holte zur Aufklärung des Sachverhalts einen Befundbericht des den Kläger behandelnden Arztes H. vom 30. Juli 2007 ein, der u. a. Angaben zu dem Bewegungsausmaß der Wirbelsäule enthält. Anschließend ließ der Beklagte diesen Befundbericht sowie den beigefügten Fremdbefund vom I. durch seinen ärztlichen Dienst auswerten, der in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 15. August 2007 zu der Einschätzung gelangte, dass das Wirbelsäulenleiden weiterhin mit einem Einzel-GdB von 30 und das allergische Asthma bronchiale mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten seien. Es verbleibe bei einem Gesamt-GdB von 40.
Mit Bescheid vom 19. September 2007 lehnte der Beklagte den Verschlimmerungsantrag des Klägers ab.
Am 28. Mai 2008 stellte der Kläger erneut einen Antrag auf Feststellung eines höheren GdB sowie auf Zuerkennung des Merkzeichens "G".
Der Beklagte holte zur Aufklärung des Sachverhalts einen Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin J. vom 27. Januar 2009 ein und ließ den Bericht durch seinen ärztlichen Dienst auswerten, der in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 19. März 2009 ausführt, dass eine Anhebung des Einzel-GdB für das Wirbelsäulenleiden und damit auch des Gesamt-GdB nicht gerechtfertigt sei.
Mit Bescheid vom 3. April 2009 lehnte der Beklagte den Verschlimmerungsantrag ab.
Am 10. Mai 2012 stellte der Kläger einen weiteren Verschlimmerungsantrag. Er leide unter der Erkrankung Morbus Crohn.
Der Beklagte holte zur Aufklärung des Sachverhalts einen Befundbericht des Facharztes für Innere Medizin und Gastroenterologie K. vom 6. Juni 2012 ein. Der Bericht enthält als Diagnose eine Colitis ulcerosa. Dem Bericht kann u. a. entnommen werden, dass es sich um eine ausgedehnte Colitis ulcerosa mit steroidabhängigem Verlauf handelt.
Der Beklagte ließ diesen Befundbericht durch seinen ärztlichen Dienst auswerten, der in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 30. Juni 2012 zu der Einschätzung gelangte, dass die chronische Darmerkrankung Colitis ulcerosa mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten sei. Das Wirbelsäulenleiden sei weiterhin mit einem GdB von 30 und das allergische Asthma bronchiale mit einem GdB von 20 zu bewerten. Insgesamt sei der GdB nun mit 70 festzustellen.
Mit Bescheid vom 12. Juli 2012 stellte der Beklagte einen entsprechenden Gesamt-GdB von 70 fest.
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 30. Juli 2012 Widerspruch. Er benötige einen Einzel-GdB von 60 für die chronische Darmerkrankung, um eine Parkerleichterung beantragen zu können.
Der Beklagte legte den Widerspruch des Klägers seinem ärztlichen Dienst vor, der in der gutachtlichen Stellungnahme vom 14. August 2012 ausführte, dass die Darmerkrankung mit einem Einzel-GdB von 50 zutreffend bewertet sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27. August 2012 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück.
Der Kläger hat am 10. September 2012 Klage beim Sozialgericht Hannover erhoben. Er hat ausgeführt, der aktuelle Einzel-GdB von 50 für die Darmerkrankung sei zu niedrig. Selbst unter der Therapie mit Azathioprin und Adalimumab sei es täglich zu häufigen Durchfällen gekommen. Daher bekomme er jetzt nicht mehr alle zwei Wochen, sondern jede Woche 40 mg Adalimumab gespritzt. Dennoch leide er weiterhin unter imperativem Stuhldrang. Dieser schränke ihn in seiner Bewegungsfreiheit stark ein, da immer eine Toilette in der Nähe sein müsse. Insbesondere auf dem Weg zur Arbeit komme es häufig zu unangenehmen Situationen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 12. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. August 2012 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm ab Mai 2012 einen Grad der Behinderung von 100 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung beruft er sich auf die Feststellungen seines ärztlichen Dienstes. Nach dessen Einschätzung sei die Erkrankung Morbus Crohn mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten. Die Erkrankung sei nach dem Crohn-disease-score in Remission und der Kläger leide nicht an nächtlichen Durchfällen oder einer Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte des Beklagten beigezogen und Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des Facharztes für Innere Medizin und Gastroenterologie K. vom 18. Dezember 2012, des Facharztes für Innere Medizin L. vom 17. Dezember 2012 und des Facharztes für Allgemeinmedizin M. vom 8. Januar 2013.
Dem Befundbericht von K. ist zu entnehmen, dass bei dem Kläger seit September 2011 ein Morbus Crohn bekannt sei, der zunächst als Colitis ulcerosa diagnostiziert worden sei. Bei dem Kläger bestünden immer wieder ausgeprägte abdominelle Beschwerden in Verbindung mit einer deutlichen entzündlichen Aktivität des Morbus Crohn, der einen steroidabhängigen Verlauf zeige, weshalb auch die Therapie mit der Einleitung einer immunsuppressiven Therapie mit Azathioprin habe eskaliert werden müssen.
Nach dem Befundbericht von L. habe eine relevante Einschränkung der Lungenfunktion unter Therapie nicht festgestellt werden können. Der Verlauf des allergischen Asthma bronchiale sei stabil.
Ferner hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Innere Medizin, N. vom 27. August 2013. Der Sachverständige ist darin zu dem Ergebnis gekommen, dass die Erkrankung Morbus Crohn mit einem Einzel-GdB von 60 und der Gesamt-GdB mit 70 festzustellen sei. Mit Schreiben vom 21. Februar 2014 hat der Sachverständige zu Einwänden des Beklagten gegen die Bewertung des Morbus Crohn Stellung genommen. Er hat darin an seiner Einschätzung festgehalten, dass der Einzel-GdB für den Morbus Crohn mit 60 festzustellen sei.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Grundlage der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 12. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. August 2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit bei ihm ab Mai 2012 kein GdB von 80 festgestellt wurde.
Gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX ist eine Person behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit nicht nur vorübergehend von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten. Aus dieser Definition folgt, dass für die Feststellung einer Behinderung sowie die Einschätzung ihres Schweregrades nicht allein das Vorliegen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes entscheidend ist, sondern es vielmehr auf die Funktionsstörungen ankommt, die durch einen regelwidrigen Zustand verursacht werden.
Nach § 69 Abs. 1 S. 4 und 6 SGB IX sind die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung (GdB) nach Zehnergraden abgestuft von 20 bis 100 festzustellen. Dabei gelten die im Rahmen des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) normierten Maßstäbe für die Bestimmung des GdB entsprechend (§ 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX). "Entsprechend" bedeutet, dass bei der Anwendung dieser dem Versorgungsrecht entspringenden Maßstäbe auf dem Gebiet des Schwerbehindertenrechts Sinn und Zweck des SGB IX zu beachten sind. Dieses hat die Aufgabe, die sozialen Benachteiligungen auszugleichen, denen Personen infolge eines Körperschadens in allen Bereichen des beruflichen und des gesellschaftlichen Lebens ausgesetzt sind.
Bei der konkreten Festsetzung des GdB ist auf die seit 1. Januar 2009 geltende Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (Versorgungsmedizinische Grundsätze - VMG -) abzustellen.
Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben und der Anspruch neu festzustellen, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Bescheides vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen kann sowohl im Sinne einer Besserung als auch im Sinne einer Verschlimmerung eingetreten sein. Für die Feststellung einer solchen Änderung ist ein Vergleich zwischen den Verhältnissen des bindend gewordenen letzten Bescheides das heißt des Bescheides vom 09. Februar 2007 und dem nachweisbar bestehenden derzeitigen Gesundheitszustand erforderlich. Wesentlich ist eine Änderung nur, wenn ein veränderter Gesundheitszustand für die Dauer von mehr als 6 Monaten bestanden hat oder voraussichtlich anhalten wird und die Änderung des GdB wenigstens 10 beträgt.
Eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, die dem Bescheid vom 09. Februar 2007 zugrunde lagen, ist vorliegend eingetreten. Denn seit September 2011 leidet der Kläger zusätzlich zu den im Feststellungsbescheid vom 09. Februar 2007 festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen an der Erkrankung Morbus Crohn.
Die Erkrankung Morbus Crohn ist bei dem Kläger mit einem GdB von 60 zu bewerten.
Maßgebend für die Bewertung eines Morbus Crohn ist Teil B, Ziff. 10.2.2 VMG. Dieser enthält folgende Regelungen:
Morbus Crohn mit geringer Auswirkung (geringe Beschwerden, keine oder geringe Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes, selten Durchfälle) 10 bis 20,
Morbus Crohn mit mittelschwerer Auswirkung (häufig rezidivierende oder länger anhaltende Beschwerden, geringe bis mittelschwere Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes, häufiger Durchfälle) 30 bis 40,
Morbus Crohn mit schwerer Auswirkung (anhaltende oder häufig rezidivierende erhebliche Beschwerden, erhebliche Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes, häufige, tägliche, auch nächtliche Durchfälle) 50 bis 60,
Morbus Crohn mit schwerster Auswirkung (häufig rezidivierende oder anhaltende schwere Beschwerden, schwere Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes, ausgeprägte Anämie) 70 bis 80,
Fisteln, Stenosen, postoperative Folgezustände (z. B. Kurzdarmsyndrom, Stomakomplikationen), extraintestinale Manifestationen (z. B. Arthritiden), bei Kindern auch Wachstums- und Entwicklungsstörungen, sind zusätzlich zu bewerten.
Nach Untersuchung des Klägers am 21. August 2013 ist der Sachverständige N. in seinem Gutachten vom 27. August 2013 zu der Einschätzung gelangt, dass der Kläger unter einem Morbus Crohn mit schwerer Auswirkung im oberen Bereich leide, so dass der Einzel-GdB für diese Erkrankung mit 60 einzuschätzen sei. Die Schwere der Erkrankung spiegele sich insbesondere in der Notwendigkeit einer TNF-alpha-Therapie wider. Seit der Erstdiagnose im September 2011 habe der Kläger trotz einer systemischen und topischen Steroidtherapie sowie der Gabe von Mesalazin und Azathioprin unter einer Stuhlfrequenz von etwa 10x/Tag gelitten. Erst mit Beginn der TNF-alpha-Therapie habe die Stuhlfrequenz vermindert werden können, wobei der Kläger immer noch unter einer erhöhten Stuhlfrequenz von etwa 1-3x/Tag leide. Der Kläger sei insbesondere infolge der häufigen Stuhlgänge mit imperativem Stuhldrang, meist in Stresssituationen, unangenehmen Situationen ausgesetzt. Diese würden z. B. den Weg zur Arbeit erschweren, da der Kläger einen täglichen Arbeitsweg mit dem Auto von etwa 30 Minuten und dann zu Fuß vom Parkplatz zur Arbeitsstätte von etwa 10 Minuten zurücklegen müsse. Der Kläger habe berichtet, dass auf diesem Weg schon häufiger nicht mehr rechtzeitig eine Toilette erreichbar gewesen sei. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 21. Februar 2014 führt der Sachverständige aus, dass bei dem Kläger häufig rezidivierende, schwere Beschwerden aufträten. Trotz Maximaltherapie leide der Kläger unter Stuhldrang mit imperativem Charakter, der schon häufig dazu geführt habe, dass der Kläger seine Notdurft am Wegesrand habe verrichten müssen. Der imperative Charakter des Stuhldrangs müsse daher berücksichtigt werden, auch wenn dieser nicht in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannt sei.
Die Kammer folgt den nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen N., dass bei dem Kläger ein Morbus Crohn mit schweren Auswirkungen im oberen Bereich im Sinne der Versorgungsmedizinischen Grundsätze vorliegt. Diese Einschätzung folgt insbesondere aus den Beeinträchtigungen und Risiken der TNF-alpha-Therapie und den Einschränkungen durch die trotz eskalierter Therapie weiter vorhandenen Durchfälle in Verbindung mit imperativem Stuhldrang.
Sowohl die Auswirkungen und Nebenwirkungen einer TNF-alpha-Therapie als auch die Einschränkungen durch den imperativen Stuhldrang sind unter Teil B, Ziffer 10.2.2 VMG zu berücksichtigen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat auf Anfrage des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen eine Stellungnahme zur Auslegung von Teil B, Ziffer 10.2.2 VMG abgegeben. Danach sind die in Teil B, Ziffer 10.2.2 VMG aufgeführten Symptome als Regelbeispiele zu verstehen und nicht abschließend (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13. Juni 2014 - L 13 SB 371/13 -, juris, Rn. 14). Dieses Verständnis ist auch praktikabel, weil der GdB ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens ist (vgl. Teil A, Ziff. 2 a VMG). Es ist unerlässlich, alle die Teilhabe beeinträchtigenden körperlichen, geistigen und seelischen Störungen im Einzelfall zu berücksichtigen (vgl. Teil B, Ziff. 1 a VMG). Daher sind auch nicht in Teil B, Ziff. 10.2.2 VMG aufgeführte Beeinträchtigungen bei der Bewertung des GdB zu berücksichtigen. Eine abschließende Regelung in Teil B, Ziff. 10.2.2 VMG würde eine sachgerechte Gesamtbetrachtung der Erkrankung Morbus Crohn erschweren oder sogar verhindern.
Schon die bei dem Kläger bestehende Therapiebedürftigkeit mit Adalimumab (Humira©) in Verbindung mit der immunsuppressiven Therapie mit Azathioprin führt dazu, dass die Kammer bei dem Kläger von einem Morbus Crohn mit schwerer Auswirkung ausgeht. Denn aufgrund der nicht selten auftretenden schweren Nebenwirkungen einer TNF-alpha-Therapie besteht die Zulassung hierfür nur bei einem aktiven und schwergradigen Morbus Crohn, wie sich aus der Leitlinie "Diagnostik und Therapie des Morbus Crohn" (Ergebnisse einer Evidenz-basierten Konsensuskonferenz der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten zusammen mit dem Kompetenznetz chronisch entzündliche Darmerkrankungen) aus dem Jahr 2008 ergibt:
"Die wesentliche Ursache der teilweise letal verlaufenden Nebenwirkungen der anti-TNF-alpha-Antikörpertherapie ist die Immunsuppression, die aber auch durch andere Substanzen ausgelöst werden kann. Die anti-TNF-alpha-Therapie hat zu größeren Serien von Tbc-Fällen durch Reaktivierung latenter Erkrankungen geführt. Vor jeder hoch dosierten immunsuppressiven Behandlung (wie z. B. der anti-TNF-alpha-Behandlung, aber auch einer Therapie mit Azathioprin) muss der Ausschluss einer Tuberkulose erfolgen. Dieser Ausschluss muss eine ausführliche klinische Anamnese, einschließlich einer Tuberkulosevorerkrankung oder möglichem Kontakt zu Tuberkulose-Kranken und einer vorherigen und/oder derzeitigen immunsuppressiven Therapie, umfassen. Geeignete Screeningtests, d. h. ein Tuberkulintest und eine Röntgenaufnahme des Thorax, müssen bei allen Patienten durchgeführt werden. Das Datum der Durchführung dieser Tests sollte dokumentiert werden. Eine alleinige Intrakutantestung (PPD-Hauttestung) ist auf Grund der häufigen falsch negativen Befunde nicht ausreichend. In-vitro-Bluttests (die die Reaktivität von Lymphozyten gegen mykobakterielle Antigene nachweisen), besitzen eine höhere Sensitivität und Spezifität, können aber eine latente Tuberkulose insbesondere bei immunsuppressiver Behandlung (z. B. Glukokortikoide) auch nicht immer ausschließen. Weiterhin wurden gehäufte Infekte, insbesondere Pneumonien, Weichteilinfekte und opportunistische Infektionen unter einer Therapie mit anti-TNF-alpha-Antikörpern berichtet und bei einer Kombinationstherapie mit Immunsuppressiva wurden bei jungen Patienten eine relevante Zahl an zumeist tödlich verlaufenden, seltenen Lymphomen (hepatosplenische T-Zell-Lymphome) beobachtet. Ansteigende ANA-Titer lassen sich recht häufig beobachten, ein medikamenteninduzierter Lupus tritt unter einer Therapie mit anti-TNF-alpha-Antikörpern jedoch nur selten auf. Zurzeit bestehen in Deutschland Zulassungen für Infliximab und Adalimumab zur Behandlung eines schwergradigen, aktiven Morbus Crohn bei Patienten, die trotz einer vollständigen und adäquaten Therapie mit einem Glukokortikoid und/oder einem Immunsuppressivum nicht ausreichend angesprochen haben oder die eine Unverträglichkeit oder Kontraindikationen für solche Therapien haben. Für Infliximab besteht weiterhin eine Indikation zur Behandlung des aktiven Morbus Crohn mit Fistelbildung."
Bei dem Kläger wird zusätzlich zu der TNF-alpha-Therapie eine immunsuppressive Therapie mit Azathioprin durchgeführt. Die Kombination dieser beiden immunsuppressiven Therapien bringt, wie oben dargestellt, besondere Risiken mit sich. Für die GdB-Bewertung dieser Therapie orientiert sich die Kammer an Teil B, Ziff. 16.11 VMG und an Teil B, Ziff. 18.2.3 VMG. Nach Teil B, Ziff. 16.11 VMG ist bei einem angeborenen Immundefekt mit erhöhter Infektanfälligkeit aber ohne außergewöhnliche Infektionen ein GdB von 20-40 festzustellen. Bei einer erhöhten Infektanfälligkeit mit außergewöhnlichen Infektionen (ein bis zwei pro Jahr) ist ein GdB von 50 festzustellen. Nach Teil B, Ziff. 18.2.3 VMG darf bei einer über sechs Monate anhaltenden aggressiven Therapie ein GdB von 50 nicht unterschritten werden.
Von einer deutlich erhöhten Infektanfälligkeit, auch für schwere Infekte oder Komplikationen, geht die Kammer nach den Ausführungen in der Leitlinie "Diagnostik und Therapie des Morbus Crohn" bei der Durchführung einer TNF-alpha-Therapie aus. Bei einer erhöhten Infektanfälligkeit im oberen Bereich im Sinne von Teil B, Ziff. 16.11 VMG ist ein GdB von 40 festzustellen. Ein GdB von 40 ist für eine TNF-alpha-Therapie mithin nicht zu unterschreiten. Ob es sich darüber hinaus auch um eine aggressive Therapie im Sinne von Teil B, Ziff. 18.2.3 VMG handelt, kann offen bleiben. Denn die Kammer ist davon überzeugt, dass die TNF-alpha-Therapie zumindest in Verbindung mit der immunsuppressiven Therapie mit Azathioprin und trotzdem weiterhin bestehenden Durchfällen mit einem GdB von 50 zu bewerten ist.
Der bei dem Kläger bestehende imperative Stuhldrang führt zu einer weiteren erheblichen Beeinträchtigung des Klägers im täglichen Leben und ist mit einem GdB von 30 zu bewerten. Dies führt zu einer Erhöhung des GdB für die Erkrankung des Morbus Crohn auf 60. Der Kläger hat sowohl bei der Untersuchung durch den Sachverständigen als auch in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass schon der Weg zur Arbeit für ihn eine erhebliche Anstrengung bedeute. Die imperativen, also plötzlich auftretenden und nicht zu haltenden Durchfälle, führten dazu, dass es immer wieder zu Situationen komme, in denen er nicht mehr rechtzeitig eine Toilette erreichen könne. Dies führe dazu, dass er bei der Planung von Fahrten und Freizeitaktivitäten immer sicherstellen müsse, dass schnell eine Toilette erreichbar sei. Diese Beeinträchtigung ist vergleichbar mit einer stärker behindernden psychischen Störung mit einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, die mit einem GdB von 30 bis 40 zu bewerten ist (vgl. Teil B, Ziff. 3.7 VMG). Vorliegend gibt es keine Anhaltspunkte darauf, dass der Kläger nahezu von jeglichen Freizeitaktivitäten ausgeschlossen ist. Ein GdB von 30 wird den Einschränkungen des Klägers durch den imperativen Stuhldrang daher gerecht.
Der Umstand, dass der Kräfte- und Ernährungszustand bei dem Kläger nicht beeinträchtigt ist, führt entgegen der Auffassung des Beklagten nicht zu einer anderen Beurteilung. Denn eine Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes ist keine zwingende Voraussetzung für das Vorliegen eines Morbus Crohn mit schwerer Auswirkung im Sinne von Teil B, Ziff. 10.2.2 VMG. Die in Teil B, Ziff. 10.2.2 VMG genannten Symptome der Erkrankungen Colitis ulcerosa und Morbus Crohn müssen, spätestens nach der Mitteilung des BMAS, dass die in Teil B, Ziff. 10.2.2 VMG genannten Symptome nicht abschließend sind, alternativ und nicht kumulativ vorliegen (für ein alternatives Verständnis bereits vor der Stellungnahme des BMAS: Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 25.05.2005 - L 6 SB 55/04 -, juris, Rn. 37). Denn das BMAS hat mit seiner Stellungnahme zum Ausdruck gebracht, dass eine Gesamtbetrachtung der Einschränkungen durch die Erkrankungen Colitis ulcerosa und Morbus Crohn bei der Bewertung des GdB vorgenommen werden muss und nicht starr auf das Vorliegen der Regelbeispiele abgestellt werden darf. Die in Teil B, Ziff. 10.2.2 VMG genannten Regelbeispiele sind lediglich Anhaltspunkte für die Bewertung der beiden Erkrankungen, müssen jedoch durch möglicherweise andere Beeinträchtigungen ergänzt werden. Unabhängig davon ergibt sich bei dem Regelbeispiel des Kräfte- und Ernährungszustandes die Problematik, dass ein steroidabhängiger Verlauf - wie beim Kläger - oftmals zu einer Gewichtszunahme durch die Steroidtherapie führt. Gerade in diesen Fällen ist der Kräfte- und Ernährungszustand daher oftmals ein unzureichender oder sogar irreführender Indikator für die Schwere der Erkrankung.
Der Beklagte weist zwar zu Recht darauf hin, dass bei dem Kläger nach dem Crohn's Disease Activity Index (CDAI) eine Remission vorliegt, dieses hat im vorliegenden Fall jedoch keine Auswirkungen auf die Bewertung des Morbus Crohn. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass bei dem Kläger ein CDAI-Wert von 65 vorliege. Eine Remission bei Morbus Crohn sei definiert als ein CDAI kleiner 150. Ab 220 Punkten sei ein Schub definiert und bei einem CDAI größer als 450 bestehe ein schwerer Schub. Es ist unstreitig, dass sich der Morbus Crohn bei dem Kläger derzeit in Remission befindet. Die klinischen und laborchemischen Variablen des CDAI berücksichtigten jedoch weder die Auswirkungen von Therapien noch die Auswirkungen eines imperativen Stuhldrangs. Diese Beeinträchtigungen sind beim Kläger jedoch gerade besonders schwerwiegend.
Bei den bereits mit Bescheid vom 9. Februar 2007 festgestellten Gesundheitsstörungen "degeneratives Wirbelsäulenleiden, Bandscheibenschaden mit Muskelatrophie und Sensibilitätsstörungen" (Einzel-GdB: 30) und "allergisches Asthma bronchiale" (Einzel-GdB: 20) ist keine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eingetreten. Seit dem Verschlimmerungsantrag des Klägers am 10. Mai 2012 aufgrund des Morbus Crohn war zwischen den Beteiligten nur die Bewertung dieser Erkrankung umstritten. Aus den vorliegenden Befundberichten der den Kläger behandelnden Ärzte sowie aus dem Gutachten des Sachverständigen N. ergeben sich ebenfalls keine Anhaltspunkte, die eine andere Beurteilung dieser Gesundheitsstörungen erforderlich machen würden.
Liegen wie im vorliegenden Fall mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so ist gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX der Gesamt-GdB nach den Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Gemäß Teil A, Ziff. 3 a VMG dürfen die Einzel-GdB bei der Ermittlung des Gesamt-GdB nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist daher ausgehend von der Funktionsbeeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch weitere Funktionsbeeinträchtigungen gesteigert wird (Teil A, Ziff. 3 c VMG). Ist dies der Fall, ist der höchste Einzel-GdB entsprechend zu erhöhen, wobei entsprechend Teil A, Ziff. 3 b VMG unter Berücksichtigung sozialmedizinischer Erfahrungen Vergleiche mit Gesundheitsstörungen vorzunehmen sind, für die in der Tabelle der Anlage feste GdB-Werte angegeben sind. Dabei ist zu beachten, dass gemäß Teil A, Ziff. 3 d ee VMG leichte Gesundheitsstörungen, die mit einem GdB von 10 zu bewerten sind, von Ausnahmefällen abgesehen nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung und damit in der Regel nicht zu einer Erhöhung des höchsten Einzel-GdB führen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.
Im Hinblick auf diese rechtlichen Vorgaben und unter umfassender Würdigung der Behinderungen des Klägers, die mit Einzel-GdB von 60, 30 und 20 zu bewerten sind, ist es gerechtfertigt, einen Gesamtgrad der Behinderung von 80 festzustellen. Die bereits mit Bescheid vom 9. Februar 2007 mit einem Gesamt-GdB von 40 festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen "degeneratives Wirbelsäulenleiden" und "allergisches Asthma bronchiale" erhöhen den mit einem GdB von 60 festgestellten Morbus Crohn um 20, da die drei Funktionsbeeinträchtigungen in ihren Auswirkungen voneinander unabhängig sind und sich auf verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens auswirken.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.