Sozialgericht Hannover
Urt. v. 07.04.2014, Az.: S 64 R 858/12

Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit

Bibliographie

Gericht
SG Hannover
Datum
07.04.2014
Aktenzeichen
S 64 R 858/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2014, 24336
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHANNO:2014:0407.S64R858.12.0A

Tenor:

  1. 1.

    Der Bescheid der Beklagten vom 26. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. August 2012 wird aufgehoben.

  2. 2.

    Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit für die Zeit vom 1. November 2011 bis zum 30. Juni 2016 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

  3. 3.

    Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

  4. 4.

    Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Der am H. geborene Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Er stellte am 26. April 2011 einen Antrag auf Gewährung einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme und nahm dann vom 4. August 2011 bis zum 15. September 2011 an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme teil. Nach dem Entlassungsbericht vom 21. September 2011 bestand auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ein Leistungsvermögen von mehr als drei, aber weniger als sechs Stunden arbeitstäglich. Der Bericht beschreibt qualitative Einschränkungen insbesondere des geistigen Leistungsvermögens.

Der Kläger beantragte bei der Beklagten am 26. September 2011 die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Die Beklagte ließ den Kläger im Rentenverfahren durch Dr. I. nervenärztlich begutachten. Gegenüber dem Gutachter beschrieb der Kläger Konzentrationsschwierigkeiten und eine mangelnde geistige Ausdauer. Dr. I. kam zu dem Schluss, dass der Kläger unter gewissen qualitativen Einschränkungen noch einer Tätigkeit von mehr als sechs Stunden am Tag nachgehen könne. Die Beklagte lehnte den Antrag daher mit Bescheid vom 26. März 2012 ab, da der Kläger nicht erwerbsgemindert sei. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. August 2012 zurück.

Am 21. September 2012 hat der Kläger vor dem Sozialgericht Hannover Klage erhoben.

Er behauptet, dass er nicht mehr in der Lage sei, noch einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und beantragt,

1. den Bescheid der Beklagten vom 26. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. August 2012 aufzuheben und 2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ab dem 1. Mai 2011 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die getroffene Entscheidung für richtig.

Die Kammer hat von den behandelnden Ärzten des Klägers Dr. J. und Dipl.-Med. K. Befundberichte eingeholt.

Es ist Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens erhoben worden. Dr. L. ist in ihrem psychiatrischen Gutachten vom 2. Juli 2013 aufgrund der eingehenden Untersuchung des Klägers am 18. Juni 2013 im Ergebnis dazu gekommen, dass dieser noch sechs Stunden und mehr am Tag einer körperlich leichten bis mittelschweren Tätigkeit unter gewissen qualitativen Einschränkungen nachgehen könne. Dabei könnten an die Arbeiten nur geringe Anforderungen an die geistigen Fähigkeiten der Konzentration, der Reaktion, der Übersicht und der Aufmerksamkeit gestellt werden. Die Einschränkungen seien einer Besserung zugänglich und bestünden seit Rentenantragstellung.

Im Anschluss ist ein berufskundliches Gutachten durch den Sachverständigen Dr. M. erstattet worden. Nach seinem Gutachten vom 10. Januar 2014 seien für den Kläger unter Berücksichtigung der festgestellten Einschränkungen keine Tätigkeiten mehr denkbar, die der Kläger mit dem vorhandenen Restleistungsvermögen in der Lage auszuüben wäre.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 26. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. August 2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger dadurch in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit unter Zugrundelegung eines Leistungsfalles am 26. April 2011 (Antragstellung für die Gewährung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation) für die Zeit vom 1. November 2011 bis zum 30. Juni 2016 gemäß § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI).

Danach haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie

1. voll erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI).

Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung besteht für die Versicherten, die, bei Vorliegen der genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch drei, jedoch nicht mehr mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein können (§ 43 Abs. 1 SGB VI).

Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Denn was sein allgemeines Leistungsvermögen angeht, so ist der Kläger nicht mehr in der Lage, noch eine Tätigkeit wenigstens drei Stunden arbeitstäglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verrichten.

Die Sachverständige Dr. L. legt in ihrem Gutachten vom 2. Juli 2013 die Leistungsfähigkeit des Klägers nachvollziehbar und schlüssig und im Einklang mit den erhobenen Befunden ausführlich dar.

Bei dem Kläger liegen folgende Gesundheitsstörungen vor:

1. Zustand nach einer akuten vorübergehenden psychotischen Störung; 2. Bekannter kompletter Linksschenkelblock; 3. Refluxösophagitis.

Die Leistungsfähigkeit des Klägers unterliegt gewissen Einschränkungen. So kann er nur noch körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten in wechselnder Körperhaltung verrichten. Dabei sind dem Kläger noch Arbeiten im Knien, im Hocken oder verbunden mit Bücken möglich. Auch Überkopf- oder Überschulterarbeiten kann er noch ausüben. Vom Kläger können Lasten bis 10 Kilogramm getragen und gehoben werden. Tätigkeiten auf Gerüsten oder Leitern kann der Kläger nicht mehr verrichten. Dem Kläger sind Arbeiten sowohl im Freien als auch in geschlossenen Räumen zumutbar. Die Arbeiten dürfen nicht unter extremen Temperaturschwankungen und lediglich unter Ausschluss von Nässe, Staub, Gas, Dampf, Rauch oder Schmutz ausgeübt werden. Arbeiten in Wechsel- oder Nachtschicht sind ebenso ausgeschlossen wie Arbeiten unter besonderem Zeitdruck oder Arbeiten mit häufigem Publikumsverkehr. Es bestehen keine Einschränkungen in der Gebrauchsfähigkeit der Hände oder der Feinmotorik.

Der Kläger berichtet gegenüber der Sachverständigen Dr. L., dass er nach einer gewissen Zeit "platt" sei. Er könne nur etwa zwei Stunden am Stück arbeiten. Es sei ja auch kein Druck von außen da. Der Kläger lebt mit seiner Mutter auf einem Hof. Dabei kümmert sich seine Mutter um den Haushalt, der Kläger selbst um alles andere. Der überwiegende Teil des dazugehörigen Lands ist verpachtet. Der Kläger führte gegenüber Dr. L. aus, dass ihn die Arbeit auf dem Hof und im Garten komplett auslaste, bis vor wenigen Jahren habe er dies erst nach Feierabend gemacht. Das Gute sei, dass er sich die Zeit frei einteilen könne. So lege er sich nach dem Mittagessen meistens für etwa zwei Stunden ins Bett und schlafe dann auch fest ein.

Die Sachverständige Dr. L. schildert eine beim Kläger vorliegende verminderte Stresstoleranz. Diesbezüglich ist der Kläger derzeit nur noch in der Lage, geistig einfache Arbeiten mit nur noch geringen Anforderungen an die geistigen Fähigkeiten der Konzentration, der Reaktion, der Übersicht und der Aufmerksamkeit zu verrichten. Auch Tätigkeiten mit einer gehobenen Verantwortung für Personen oder Sachen scheiden aus. Auch eine Überwachung oder Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge kommt nicht in Betracht. Der Kläger sollte keine Flurförderfahrzeuge bedienen.

Mit diesen - qualitativen - Einschränkungen ist der Kläger grundsätzlich in der Lage, noch einer Erwerbstätigkeit von mehr als sechs Stunden arbeitstäglich nachzugehen. Der Kläger ist allerdings nicht mehr in der Lage, einer Erwerbstätigkeit von wenigstens drei Stunden unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nachzugehen.

Aufgrund der bestehenden Einschränkungen hinsichtlich der Anforderungen an die geistigen Fähigkeiten beschreibt die Sachverständige Dr. L. im Ergebnis kein auf dem Arbeitsmarkt noch wettbewerbsfähig verwertbares berufliches Leistungsvermögen (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 13. Juli 2012 - L 2 R 240/12). So legt der berufskundliche Sachverständige Dr. M. in seinem Gutachten vom 10. Januar 2014 einleuchtend dar, dass für den Kläger zumutbare und von ihm zu bewältigende Aufgaben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die es in mehr als unbedeutendem Umfang gibt, nicht vorhanden sind. Insbesondere kann der Kläger nicht auf die von der Beklagten in ihrem Schriftsatz vom 26. August 2013 genannten Tätigkeiten als Verpacker, Versandfertigmacher, Sortierer und Pförtner an der Nebenpforte zumutbar verwiesen werden. Denn die medizinisch festgestellten Einschränkungen des Leistungsvermögens schließen allgemein zugängliche Tätigkeiten in der Produktion oder in produktionsnahen Bereichen aus. Dies gilt nicht zuletzt mit Blick auf den Umgang mit aufgebautem Leistungsdruck und auf die Stresstoleranz und das Entscheidungsvermögen. Im Bereich von Büro und Verwaltung werden von potenziellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neben der Beherrschung der neuen Informationstechnologien und ausgeprägter Service- und Kundenorientierung vor allem Fähigkeiten in den Bereichen Kommunikation, Innovationsbereitschaft und Teamarbeit verlangt. Selbst Arbeitsangebote als Bürohilfe werden immer anspruchsvoller. Sie umfassen heute typischerweise Anforderungen wie "Telefonate führen, Postein- und -ausgang bearbeiten, allgemeine administrative Tätigkeiten, Datenerfassung und -verarbeitung, Pflege von Kunden-, Stamm- und Bewegungsdaten, Unterstützung der Fachkräfte, bürotypische Arbeiten, Teamunterstützung, Büroorganisation, Bewerbermanagement". Anforderungen an eine solche Tätigkeit als Bürohilfe werden mit "möglichst abgeschlossene Berufsausbildung, gute Kenntnisse MS-Office und Deutsch in Wort und Schrift, Eigeninitiative, Selbständigkeit, freundliches und gepflegtes Auftreten, Teamfähigkeit, Organisationsgeschick, Zuverlässigkeit" umschrieben. Hilfstätigkeiten stehen immer weniger zur Verfügung. Grund hierfür sind ein "Outsourcing" und der Umstand, dass "Hilfstätigkeiten" immer mehr von Schülern und Studenten neben Schule oder Studium ausgeführt werden. Die von der Beklagten als Verweisungstätigkeiten genannten Alternativen sind deshalb als zumutbare Tätigkeiten nicht geeignet. Fehler- und mängelfreies Verpacken ist nicht nur mit einem Höchstmaß an Verantwortung verbunden, sondern fordert in vielen Fällen auch exzellente, dauerhafte Aufmerksamkeit und Konzentration, die selbst Menschen ohne jegliche Einschränkungen nicht ohne weiteres aufbringen können. Als Verpacker wäre der Kläger einem beträchtlichen Leistungsdruck ausgesetzt. Auch hier werden Aufmerksamkeit, Konzentrationsvermögen und Durchhaltefähigkeit erfahrungsgemäß stark gefordert. Gleiches gilt für Sortierer oder Versandtfertigmacher. Die Tätigkeit eines Pförtners an der Nebenpforte ist bundesweit nicht mehr in nennenswertem Umfang vorhanden und scheidet schon deshalb als geeignete Verweisungstätigkeit aus.

Der Kläger leidet damit unter einer Minderbelastbarkeit, die ihm die Verrichtung von Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (derzeit) unmöglich macht.

Der Kläger erfüllt ausweislich des Versicherungsverlaufes vom 25. Januar 2013 die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Leistungsfall am 26. April 2011. Er hat in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung mehr als drei Jahre Pflichtbeiträge entrichtet. Er hat auch die allgemeine Wartezeit vor dem Eintritt der Erwerbsminderung erfüllt.

Die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist gemäß § 102 Abs. 2 SGB VI befristet zu leisten, da nicht unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Dr. L. hat insoweit nachvollziehbar dargelegt, dass durch eine erneute Rehabilitationsmaßnahme in einer psychosomatischverhaltenstherapeutisch ausgerichteten Einrichtung der positive Verhandlungsverlauf nachhaltig und längerfristig stabilisiert werden kann. Insbesondere könne dabei das Vertrauen in die geistige Leistungsfähigkeit weiter ausgebaut werden.

Die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist dem Kläger gemäß §§ 101 Abs. 1, 116 Abs. 2 SGB VI unter Zugrundelegung eines Leistungsfalles bei Antragstellung bezüglich der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme am 26. April 2011 an zu gewähren. Durch die in der Zeit vom 4. August 2011 bis zum 15. September 2011 durchgeführten stationären Rehabilitationsmaßnahme konnte das vorhandene Leistungsvermögen - insbesondere hinsichtlich der qualitativen Einschränkungen - nicht verbessert werden. So werden im Entlassungsbericht vom 21. September 2011 letztlich dieselben qualitativen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit des Klägers beschrieben, die später auch Dr. L. feststellen konnte. Die Kammer sah es als sachgerecht an, die Rentengewährung bis zum 30. Juni 2016 (drei Jahre nach der Begutachtung bei Dr. L. am 18. Juni 2013) zu befristen.

Soweit der Entlassungsbericht bzgl. der vom 4. August 2011 bis zum 15. September 2011 durchgeführten stationären Rehabilitationsmaßnahme ein über drei-, aber unter sechsstündiges Leistungsvermögen beschreibt, muss hierauf nicht weiter eingegangen werden. Denn selbst bei der Annahme eines solchen Leistungsvermögens wäre dieses unter Berücksichtigung der genannten Einschränkungen einer Besserung zugänglich, sodass auch eine entsprechende Rente auf Zeit zu gewähren wäre, diese aber ohnehin hinter der Rente wegen voller Erwerbsminderung zurücktritt.

Soweit mit der Klage die Gewährung einer Dauerrente - mit der Folge eines früheren Rentenbeginns - begehrt worden ist, war sie abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.