Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 24.02.1993, Az.: 4 L 2301/91
Eingliederungshilfe; Berufungsverfahren; Personalcomputer; Blindheit; Behindertenhilfe
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 24.02.1993
- Aktenzeichen
- 4 L 2301/91
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1993, 13699
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:1993:0224.4L2301.91.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Hannover - 08.10.1991 - AZ: 3 A 121/90
- nachfolgend
- BVerwG - 31.08.1995 - AZ: BVerwG 5 C 17.93
Tenor:
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 3. Kammer Hannover - vom 8. Oktober 1991 wird zurückgewiesen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 3.500,-- DM abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger ist seit seiner Geburt im Jahre 1958 blind. Er hat Rechtswissenschaft studiert, im August 1991 die Erste Juristische Staatsprüfung mit der Note befriedigend bestanden und befindet sich seit November 1991 in der Referendarausbildung.
Im Juni 1989 beantragte er, der Beklagte möge die Kosten für den Erwerb eines Personalcomputers mit blindengerechter Zusatzausrüstung übernehmen (laut Kostenvoranschlag 65.171,-- DM). Zur Begründung wies er bereits darauf hin, daß er die Anlage nicht nur für sein Studium benötige, sondern erst recht für die bevorstehende Referendarausbildung benötigen werde; wegen der Erforderlichkeit berief er sich auf die Unterlagen, die den Beklagten Anfang 1989 bewogen hätten, dem blinden Jurastudenten J. eine solche Anlage zur Verfügung zu stellen.
Mit Bescheid vom 29. September 1989 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Er führte aus: Für einen Jurastudenten sei ein blindengerechter Personalcomputer grundsätzlich nicht als Hilfsmittel erforderlich, weil es an der dringenden Notwendigkeit des Einsatzes fehle; ein Jurastudium könne weniger kostenaufwendig ausreichend und angemessen betrieben werden. Darüber hinaus sei es dem Kläger zuzumuten, die Anlage mitzubenutzen, die Herrn J. zur Verfügung stehe; zur Zeit werde nach einem geeigneten Raum für die gemeinschaftliche Nutzung der Anlage durch mehrere blinde Studenten gesucht.
Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Bescheid vom 21. Februar 1990 als unbegründet zurück.
Hiergegen hat der Kläger Verpflichtungsklage auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erhoben. Zur Begründung hat er wiederholt und vertieft, welche Bedeutung die begehrte Anlage für einen blinden Juristen in Studium und Referendarausbildung habe, wenn er die Chance haben wolle, mit Gesunden mitzuhalten. Ferner hat er darauf hingewiesen, daß es aus organisatorischen Gründen unmöglich sei, sich die Benutzung einer solchen Anlage mit anderen Studenten zu teilen; Herr J. sei auch nicht bereit, der Mitbenutzung zuzustimmen.
Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten.
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 8. Oktober 1991 der Klage stattgegeben und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt:
Der geltend gemachte Anspruch folge aus § 39 Abs. 1 in Verbindung mit § 40 Abs. 1 Nr. 2 BSHG. Für den Kläger sei ein blindengerechter Personalcomputer ein "anderes Hilfsmittel" im Sinne dieser Vorschriften; um Hilfe zur Ausbildung im Sinne von § 40 Abs. 1 Nr. 4 BSHG handele es sich hier nicht. Die begehrte Anlage zur Texterfassung und -verarbeitung sei dafür bestimmt und geeignet, zum Ausgleich der Behinderung des Klägers beizutragen. Für ihn als Juristen sei diese Ausrüstung auch erforderlich im Sinne des § 9 Abs. 3 EingliederungshilfeVO. Daß sie in der geltenden, noch aus dem Jahre 1975 stammenden Fassung der Eingliederungshilfeverordnung nicht erwähnt sei, stehe dem nicht entgegen, da die Verordnung die Hilfsmittel nur beispielhaft aufzähle. Es verstehe sich von selbst, daß der Stand der Technik nicht unberücksichtigt bleiben dürfe, wenn es darum gehe, über die Erforderlichkeit von Hilfsmitteln zu entscheiden. Der Beruf eines Juristen sei für den Kläger geeignet und angemessen; das sei zwischen den Beteiligten zu Recht nicht streitig. Es reiche nicht aus, ihm die Möglichkeit zu geben, seine Ausbildung "schlecht und recht" zu absolvieren. Das begehrte System sei zum Ausgleich einer durch Blindheit verursachten Behinderung durchaus sinnvoll. Mit der Entwicklung der Technik seien die qualitativen und quantitativen Anforderungen gerade an Juristen gestiegen. Wenn der Kläger auf herkömmliche Geräte für Blinde verwiesen werde, werde es ihm unzumutbar erschwert, mit Nichtbehinderten zu konkurrieren, denen es ohne weiteres möglich sei, Personalcomputer zu benutzen und dadurch ihre Leistungen noch zu steigern. Nachdem der Beklagte im vergleichbaren Falle des Studenten J. die Anlage noch selbst für erforderlich gehalten habe, seien für die Ablehnung im Falle des Klägers offenbar allein finanzielle Erwägungen ausschlaggebend gewesen. Der Beklagte lege den Begriff "erforderlich" fehlerhaft aus, wenn er ihn nunmehr unter Hinweis auf "Empfehlungen des Fachausschusses II der überörtlichen Sozialhilfeträger für die Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe für Behinderte zum Besuch einer Hochschule" vom September 1989 mit "dringend notwendig" gleichsetze und daraus ableite, daß elektronische Hilfsmittel grundsätzlich nicht mehr zu bewilligen seien. Ein gleichwertiges, preisgünstigeres Hilfsmittel habe der Beklagte nicht genannt; insbesondere sei er dem Vorbringen des Klägers nicht entgegengetreten, eine Mitbenutzung der Anlage des Studenten J. sei nicht möglich. Kostengesichtspunkte könne der Beklagte allerdings berücksichtigen, wenn er bei der Neubescheidung zu prüfen habe, ob er dem Kläger die Anlage übereignen oder nur leihweise zur Verfügung stellen wolle. Schließlich bleibe dem Beklagten auch noch zu entscheiden, wie die Anlage genau auszustatten sei.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt. Er hält an seiner Rechtsauffassung fest und beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
und verteidigt das angefochtene Urteil.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht den Anspruch des Klägers auf Bewilligung der begehrten Eingliederungshilfe bejaht. Der Senat stimmt den im angefochtenen Urteil niedergelegten Erwägungen zu, die er nicht zu wiederholen braucht (§ 130 b VwGO). Hinzuzufügen ist noch, daß der Senat auf das Argument des Beklagten, der Kläger könne eine Anlage gemeinsam mit Herrn J. benutzen, ohnehin nicht mehr einzugehen braucht, nachdem der Beklagte es im Berufungsverfahren ausdrücklich fallengelassen hat.
Der Senat hat in seinem Beschwerdebeschluß vom 13. März 1992 - 4 M 395/92 - im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zwischen den Beteiligten, in dem er eine vom Verwaltungsgericht erlassene einstweilige Anordnung gegen den Beklagten bestätigt hat, zur Sache folgendes ausgeführt:
Wie das Verwaltungsgericht in seinem Urteil vom 8. Oktober 1991 (3 A 121/90) zu Recht ausgeführt hat, findet das Begehren des Klägers seine Grundlage in § 39 Abs. 1 in Verbindung mit § 40 Abs. 1 Nr. 2 BSHG. Der Senat macht sich die Gründe dieses Urteiles zu eigen und wiederholt sie deshalb nicht. Im Hinblick auf den Vortrag des Beklagten ist noch zu ergänzen: Der Beklagte verkennt Umfang und Tragweite der §§ 39, 40 BSHG, 9 EingliederungshilfeVO. Zu Unrecht meint er, der Begriff des "Erforderlichen" bedeute mehr, als daß der Hilfeempfänger auf die Hilfe angewiesen sein müsse, vielmehr sei der Begriff dahin zu verstehen, daß ein Hilfeempfänger eine Ausbildung nicht betreiben oder einen Beruf nicht ausüben könne, solange ihm ein bestimmtes Hilfsmittel fehle. Indessen heißt es in § 9 Abs. 3 EingliederungshilfeVO, das Hilfsmittel müsse erforderlich sein, zu dem in Abs. 1 angegebenen Ausgleich beizutragen. Wie dieses gemeint ist, ist § 9 Abs. 2 Nrn. 1 bis 12 aaO zu entnehmen. Dort sind eine Reihe von Hilfsgeräten aufgeführt, die dem Behinderten dienen und zum Ausgleich seiner Behinderung beitragen, ohne daß damit gesagt ist, der Behinderte könne ohne solche Geräte nicht einer beruflichen Tätigkeit nachgehen. Als Beispiel sei das Tonbandgerät mit Zubehör für Blinde erwähnt (Nr. 5 aaO). Ein solches Gerät ist offensichtlich geeignet und erforderlich, zu dem Ausgleich der durch die Behinderung bedingten Mängel beizutragen; auf der anderen Seite läßt sich ein Beruf, bei dessen Ausübung ein solches Gerät hilfreich ist, häufig auch ohne ein solches Gerät ausüben. Der Senat sieht mit dem Verwaltungsgericht das vom Kläger verlangte Gerät als erforderlich an, weil es geeignet ist, einen Blinden nachhaltig zu unterstützen, in einem Beruf tätig zu sein, in dem es maßgebend darauf ankommt, Texte zu erfassen und zu verarbeiten. Instruktiv sind insoweit die von dem Kläger angeführten Beispiele. So überzeugt den Senat, daß es dem Kläger mittels des von ihm gewünschten Gerätes möglich sein wird, Texte, die ihm sonst nicht als Texte (sondern nur durch Vorlesen) zugänglich sind, selbst zu erfassen (er kann nämlich die auf Disketten gespeicherten Texte - etwa den Wortlaut von Gesetzen und anderen Normen oder den Inhalt von Zeitschriften - sich in Blindenschrift drucken lassen; solche Texte sind in der Regel - wie der Kläger glaubhaft versichert hat - nicht in Blindenschrift auf dem Markt zu erhalten). Ebenso leuchtet es ein, daß es ihm mittels eines - behindertengerecht erweiterten - Personalcomputers einfach und schnell möglich sein wird, Entwürfe zu überarbeiten und zu verbessern. Ein sehender Rechtsreferendar ist nicht in dem Maße wie ein Blinder auf ein elektronisches Hilfsmittel dieser Art angewiesen, weil es ihm ohne weiteres möglich ist, einen einmal erarbeiteten Text - beispielsweise - mit Einschüben und Anmerkungen zu versehen und so die Endfassung zu erarbeiten.
Angesichts dieser Überlegungen kommt es nicht darauf an, ob es heute bereits üblich ist, daß Rechtsreferendare mit einem Personalcomputer arbeiten. ...
Anlaß, von diesen Überlegungen abzurücken, sieht der Senat auch bei erneuter Prüfung nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO, ihre vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Der Senat läßt die Berufung zu, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hat.
Klay
Zeisler
RiOVG Claus hat Urlaub und ist deshalb verhindert zu unterschreiben Klay