Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 04.01.2005, Az.: 7 ME 249/04
Anspruch auf Errichtung und Betrieb einer Abfallumschlagstation; Rechtliche Einordnung einer Abfallumschlagstation als privilegiertes Vorhaben; Anforderungen an eine Abfallbeseitigungsanlage; Begriff des "Lagerns"; Zweck einer Abfallumschlagstation; Voraussetzungen für die Annahme der öffentlichen Zugänglichkeit einer Abfallumschlagstation; Notwendigkeit der Qualifizierung der Anlage als Vorhaben von überörtlicher Bedeutung; Zwingende Einleitung eines behördlichen Beteiligungsverfahrens; Vereinbarkeit der Anlage mit den bauplanerischen Vorschriften
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 04.01.2005
- Aktenzeichen
- 7 ME 249/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 36115
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2005:0104.7ME249.04.0A
Verfahrensgang
Rechtsgrundlagen
- § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG
- §§ 30 ff. BauGB
- § 38 S. 1 BauGB
- § 27 Abs. 1 KrW-/AbfG
- § 31 Abs. 1 KrW-/AbfG
Fundstellen
- AbfallR 2005, 90
- BauR 2006, 569 (amtl. Leitsatz)
- NVwZ-RR 2005, V Heft 5 (amtl. Leitsatz)
- NVwZ-RR 2006, 25-26 (Volltext mit red. LS)
- ZfBR 2006, 63 (amtl. Leitsatz)
- ZfW 2008, 57
Verfahrensgegenstand
Genehmigung der Errichtung und des Betriebs einer Abfallumschlagstation.
Gründe
Die Beschwerde ist unbegründet.
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht den von der Antragstellerin begehrten vorläufigen Rechtsschutz verweigert. Die Klage der Antragstellerin gegen den der Beigeladenen erteilten Genehmigungsbescheid vom 29. Juni 2004 über die Errichtung und den Betrieb einer Abfallumschlagstation in Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Braunschweig vom 1. Dezember 2004 wird voraussichtlich keinen Erfolg haben. Unter diesen Umständen überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin. Die geltend gemachten Beschwerdegründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) geben zu einer anderen Beurteilung keinen Anlass.
1.
Vorschriften des Bauplanungsrechts stehen der Erteilung der angegriffenen Genehmigung nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG nicht entgegen. Anders als die Antragstellerin meint, nimmt die streitige Anlage an der Privilegierung des § 38 Satz 1 BauGB teil. Die Abfallumschlagstation stellt eine öffentlich zugängliche Abfallbeseitigungsanlage im Sinne dieser Vorschrift dar.
a)
Die der Genehmigung nach den Vorschriften des Bundes-Immissionsschutzgesetzes unterliegenden ortsfesten Abfallbeseitigungsanlagen sind Anlagen zur Lagerung oder Behandlung von Abfällen zur Beseitigung (§ 31 Abs. 1, § 27 Abs. 1 KrW-/AbfG). Anlagen zum bloßen Einsammeln oder Befördern von Abfällen sind demgegenüber keine Abfallbeseitigungsanlagen (vgl. Senat, Beschl. v. 17. 7. 1985 - 7 OVG A 29/84 -, OVGE 38, 493; Hess. VGH, Beschl. v. 12. 3. 1996 - 14 TH 2775/94 -, NVwZ-RR 1997, 404; Paetow, in: Kunig/Paetow/Versteyl, KrW-/AbfG, 2. Aufl., § 27 Rn. 23). Der Begriff des "Lagerns" in § 31 Abs. 1, § 27 Abs. 1 KrW-/AbfG umfasst (auch) die Zwischenlagerung von Abfällen. Entscheidend kommt es für die Erfüllung des Anlagenbegriffs auf die Zweckbestimmung an. Dient eine Anlage zumindest auch der Lagerung, ist sie als Abfallbeseitigungsanlage anzusehen. Anders verhält es sich z.B., wenn sich die Funktion der Anlage darin erschöpft, der Beförderung zu dienen, indem in ihr nicht mehr als ein den Beförderungsvorgang nur kurzzeitig unterbrechendes, bloßes Umladen von Abfällen auf andere Transportmittel stattfindet (vgl. Hess. VGH, a.a.O.; von Lersner/Wendenburg, Recht der Abfallbeseitigung, Bd. 1, § 27 Abs. 1 KrW-/AbfG Rn. 12).
Zweck der streitigen Abfallumschlagstation ist nicht nur das Umladen von einem Fahrzeug in ein anderes als Teil des Beförderungsvorgangs. Sie hat vielmehr auch die Funktion eines Zwischenlagers. Die Sammelfahrzeuge entladen die Hausmüll- und Gewerbeabfälle in einen in der Halle befindlichen Flachbunker; von dort werden mit Hilfe von Radlader und Bagger die Abfälle zusammengeschoben und auf Sattelzüge zum Weitertransport verladen. Zwar ist beabsichtigt, die Abfälle in der Regel unmittelbar nach dem Abkippen in den Flachbunker umzuschlagen und die Halle arbeitstäglich von Abfällen zu räumen. Es ist aber tatsächlich damit zu rechnen, dass Restabfälle in der Anlage verbleiben, soweit gegen Ende des Arbeitstages eine vollständige Füllung der Transportbehälter nicht mehr erreicht werden kann oder aus anderen Gründen ein Abtransport nicht mehr durchgeführt wird. Darüber hinaus ist vorgesehen, dass Restabfälle, die vor dem Wochenende nicht mehr abgefahren werden können, in den Transportbehältern abgedeckt verbleiben und am nächsten Arbeitstag zur Entsorgungsanlage transportiert werden. Unter diesen Umständen hat die vorübergehende Aufbewahrung der Abfälle in der Umschlagstation ein eigenes Gewicht. Die Funktion der Anlage erschöpft sich nicht darin, allein den Umschlag von Abfällen in einer ununterbrochenen Beförderungskette zu gewährleisten. Die gegebenenfalls mehrtägige Zwischenlagerung der Abfälle kann nicht allein als Zwischenschritt des Transportvorgangs angesehen werden.
Dem Umstand, dass die Beigeladene in ihrem an ein benachbartes Unternehmen gerichteten Informationsschreiben vom 4. November 2003 den Zweck der vorgesehenen Halle "als Müllumschlagplatz, nicht lagern oder deponieren" bezeichnet hat, kommt keine wesentliche Bedeutung zu. Für die rechtliche Einordnung der Anlage ist deren tatsächliche Zweckbestimmung entscheidend. Zudem wollte die Beigeladene offenbar zum Ausdruck bringen, dass eine dauerhafte oder auch nur längerfristige Lagerung nicht beabsichtigt ist.
b)
Dass die Abfallumschlagstation öffentlich zugänglich im Sinne des § 38 Satz 1 BauGB ist, erscheint nicht zweifelhaft. Als nicht öffentlich zugänglich sind nur solche Anlagen anzusehen, die als betriebseigene Anlagen ausschließlich der Eigenversorgung dienen, also keinen anderen Erzeugern oder Besitzern von Abfällen offen stehen (vgl. Paetow, a.a.O., § 30 Rn. 6). Um eine solche Anlage handelt es sich hier offenkundig nicht. Die Antragstellerin bestreitet aber die überörtliche Bedeutung der Anlage. Damit missversteht sie freilich den Regelungsgehalt des § 38 Satz 1 BauGB. Soweit diese Vorschrift Planfeststellungsverfahren und sonstige Verfahren mit den Rechtswirkungen der Planfeststellung betrifft, muss es sich nach ihrem Wortlaut um ein Vorhaben von überörtlicher Bedeutung handeln. Für die Errichtung und den Betrieb öffentlich zugänglicher Abfallbeseitigungsanlagen stellt das Gesetz ein entsprechendes Erfordernis ausdrücklich nicht auf. Ob § 38 Satz 1 BauGB insoweit einschränkend ausgelegt werden muss (vgl. Paetow, a.a.O., § 31 Rn. 67a; Kuchler, NuR 1999, 259) oder der Gesetzgeber bei diesen Anlagen davon ausgegangen ist, dass ihnen typischerweise eine überörtliche Bedeutung zukommt und diese jedenfalls für den Regelfall fingiert wird, kann dahinstehen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl.Beschl. v. 31. 10. 2000 - 11 VR 12.90 -, NVwZ 2001, 90) reichen überörtliche Bezüge eines Vorhabens für die Anwendung des § 38 Satz 1 BauGB aus, so dass Beseitigungsanlagen mit einem übergemeindlichen Einzugsbereich in aller Regel eine überörtliche Bedeutung haben. Ernstliche Zweifel daran, dass die Abfallumschlagstation tatsächlich eine solche überörtliche Bedeutung hat, bestehen nicht. Sie dient ihrer Zweckbestimmung nach nicht nur der Standortgemeinde, sondern darüber hinaus dem gesamten Landkreis. Insoweit besteht ein über die Interessen der Standortgemeinde hinausgehender Regelungsbedarf, der das Zurücktreten der bauplanungsrechtlichen Befugnisse der Gemeinde rechtfertigt.
2.
Unterfällt die Abfallumschlagstation somit der Vorschrift des § 38 Satz 1 BauGB, so sind die §§ 29 bis 37 BauGB nicht anzuwenden, wenn die Gemeinde beteiligt wird. Unter diesen Voraussetzungen steht auch eine der Sicherung der gemeindlichen Bauleitplanung dienende Veränderungssperre nach § 14 BauGB dem Vorhaben nicht entgegen.
a)
Die Antragstellerin ist von dem Antragsgegner sogleich nach Eingang der Antragsunterlagen beteiligt worden. Die Beteiligung war nicht etwa deshalb - wie die Antragstellerin meint - verspätet und fehlerhaft, weil zu diesem Zeitpunkt bereits ein konkreter Standort ins Auge gefasst war. Vor der Beantragung der Genehmigung für ein konkretes Vorhaben kann eine Beteiligung nicht stattfinden. Da § 38 Satz 1 BauGB zudem regelmäßig nur die Beteiligung der Standortgemeinde verlangt, muss der vorgesehene Standort im Zeitpunkt der Beteiligung erkennbar sein. Die Entscheidung über den Standort fällt erst mit der Erteilung der Genehmigung.
b)
Wenn § 38 Satz 1 BauGB ferner bestimmt, dass städtebauliche Belange zu berücksichtigen sind, so erfordert dies eine die gesetzlichen Vorgaben und Wertungen konkretisierende nachvollziehende Abwägung. Bei dieser Abwägung ist einerseits das Interesse daran zu berücksichtigen, die Anlage zum Zweck einer ordnungsgemäßen Abfallbeseitigung gerade an dem vorgesehenen Standort zu errichten und zu betreiben. Andererseits ist die Bedeutung der städtebaulichen Gesichtspunkte zu beachten, die dem Vorhaben bei unterstellter strikter Anwendung der §§ 29 ff. BauGB entgegenstehen (vgl. Paetow, a.a.O., § 31 Rn. 67b). Es handelt sich dabei indes nach dem Wechsel des Zulassungsregimes (Genehmigung statt Planfeststellung) nicht um eine planerische Entscheidung, sondern bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen um eine gebundene Erlaubnis, bei deren Erteilung es insbesondere auf eine Bedarfs- und Alternativenprüfung nicht ankommt (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16. 6. 1998 - 10 S 909/97 -, NVwZ-RR 1999, 298; Paetow, a.a.O., § 31 Rn. 8 ff., 41).
Der Antragsgegner hat geprüft, ob das Vorhaben mit den §§ 30 ff. BauGB in Einklang steht. Das ist der Fall. Das Anlagegrundstück befindet sich im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der die Festsetzung als Industriegebiet enthält. Eine Anlage der hier in Rede stehenden Art ist dort grundsätzlich zulässig. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass im Bebauungsplan enthaltene Festsetzungen hinsichtlich Art und Maß der Nutzung nicht eingehalten werden. Unzumutbare Umweltbelastungen sind nach der vorgesehenen Betriebsweise und unter Berücksichtigung der mit der Genehmigung verfügten Nebenbestimmungen nicht zu erwarten. Insoweit kann ergänzend auf die Darlegungen im Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Braunschweig vom 1. Dezember 2004 (S. 4 f.) verwiesen werden, die mit dem Beschwerdevorbringen nicht erschüttert werden. Sollte nach Inbetriebnahme der Umschlagstation ein zusätzlicher Regelungsbedarf sichtbar werden, könnte dem durch nachträgliche Anordnungen Rechnung getragen werden. Das mit dem Betrieb der Abfallumladestation verbundene Verkehrsaufkommen ist mit dem Gebietscharakter vereinbar. Es fehlt auch an Anhaltspunkten dafür, dass der zusätzliche Verkehr nicht von den vorhandenen Straßen aufgenommen werden kann. Abgesehen davon, dass die Antragstellerin eine Standortalternativenprüfung - wie sie dem Planfeststellungsverfahren eigen ist - nicht beanspruchen kann, hat der Antragsgegner die Gesichtspunkte, die für die Errichtung und den Betrieb der Abfallumschlagstation an dem vorgesehenen Standort sprechen, zumindest vertretbar gewürdigt. Es ist nicht ersichtlich, dass mindestens ebenso geeignete und vorzugswürdige Alternativstandorte zur Verfügung stehen. Auch die Antragstellerin vermag solche Standorte nicht konkret zu benennen. Hinsichtlich des Geländes der Deponie E. hat der Antragsgegner nachvollziehbar auf die insoweit bestehenden rechtlichen Hindernisse verwiesen.
Im Kern hält die Antragstellerin den vorgesehenen Standort deshalb für ungeeignet, weil eine Abfallumschlagstation nicht in ein Gebiet passe, das von den dort ansässigen Hochtechnologieunternehmen geprägt sei. Damit will die Antragstellerin dem Gebiet einen Gebietscharakter zuzuschreiben, mit dem die genehmigte Anlage nicht vereinbar sein soll. Sie vernachlässigt jedoch bei dieser Argumentation die Zweckbestimmung des festgesetzten Baugebietes. Die Zweckbestimmung eines Industriegebiets besteht darin, ausschließlich der Unterbringung von Gewerbebetrieben zu dienen, und zwar vorwiegend solcher Betriebe, die in anderen Baugebieten unzulässig sind (§ 9 Abs. 1 BauNVO), insbesondere also erheblich belästigender Gewerbebetriebe. Mit diesen bauplanungsrechtlichen Vorgaben wäre es unvereinbar, wenn der Gebietscharakter jedenfalls tendenziell derart beschränkt würde, dass nur oder ganz überwiegend nicht erheblich störende Gewerbebetriebe der vorhandenen Art im Plangebiet zulässig sein sollen. Damit wäre die Zweckbestimmung des Industriegebiets nicht mehr gewahrt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 6.5.1993 - 4 NB 32.92 -, NVwZ 1994, 292). Ein "Milieuschutz" - wie er der Antragstellerin offenbar vorschwebt - ist dem Bauplanungsrecht fremd und kann mit seiner Hilfe nicht gewährleistet werden (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 23.8.1996 - 4 C 13.94 -, NVwZ 1997, 384).
3.
Da nach allem die Klage der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, kann ein überwiegendes Interesse der Antragstellerin daran, die Durchsetzung des voraussichtlich rechtmäßigen Genehmigungsbescheides einstweilen zu verhindern, nicht anerkannt werden. Im Übrigen könnte eine von den Erfolgsaussichten abgelöste Interessenabwägung zu keinem für die Antragstellerin in diesem Verfahren günstigeren Ergebnis führen. Die Ablagerung der Abfälle auf der Zentraldeponie des Landkreises ist nach dem 31. Mai 2005 nicht mehr möglich. Der Abfall soll deshalb zu einem Heizkraftwerk in Magdeburg verbracht werden. Eine geordnete Abfallentsorgung erfordert, dass die anfallenden Abfälle gebietsnah umgeschlagen und mit geeigneten Transportfahrzeugen zu dieser Anlage befördert werden. Unter diesen Umständen liegt es auch im dringenden öffentlichen Interesse, dass diese Entsorgung, die die Errichtung und Inbetriebnahme einer Abfallumschlagstation bis zu dem genannten Zeitpunkt erfordert, gewährleistet ist. Hinter diesem Interesse muss das gegenläufige Interesse der Antragstellerin, dass die Anlage vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht auf ihrem Gebiet an dem vorgesehenen Standort errichtet und in Betrieb genommen wird, zurückstehen.