Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 19.01.2005, Az.: 8 LA 3/05
Abschiebungshindernis; Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG; Abschiebungsstopp; allgemeine Gefahr; individuelle Gefahr; individuelles Abschiebungshindernis; Kosovo; psychische Erkrankung; Rechtsschutzbedürfnis; Rechtsschutzinteresse; Roma
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 19.01.2005
- Aktenzeichen
- 8 LA 3/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 50509
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 30.11.2004 - AZ: 2 A 1551/02
Rechtsgrundlagen
- § 60 Abs 7 AufenthG
- § 53 Abs 6 AuslG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Auch Roma aus dem Kosovo, deren Abschiebung nach dem Erlass des Nds. Innenministeriums vom 25.6.2004 i.d.F. vom 23.9.2004 ausgesetzt ist, haben jedenfalls in ihrem Asylerstverfahren Anspruch auf Prüfung, ob ihrer Abschiebung (zusätzlich) aus individuellen Gründen ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegensteht.
Gründe
Die Berufung kann nicht zugelassen werden, weil die geltend gemachten Berufungszulassungsgründe des § 78 Abs. 3 Nr. 1 (grundsätzliche Bedeutung) und Nr. 2 (Divergenz) AsylVfG nicht gegeben sind.
Der Frage, “ob individuelle Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG“ - bzw. nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - “auch dann vom Gericht zu prüfen sind, wenn gemäß Erlasslage eine Abschiebung der entsprechenden Bevölkerungsgruppe in absehbarer Zeit“ nicht möglich ist, kommt keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG zu. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass diese Frage zu bejahen ist.
Besteht - wie vorliegend für Roma aus dem Kosovo nach dem Erlass des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 25.6.2004 i. d. F. vom 23.9.2004 - ein Abschiebungsstopp, weil die Abschiebung der Betroffenen aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist und wird ihnen deshalb eine Duldung gemäß § 60 a Abs. 2 AufenthG erteilt, so haben die Betroffenen ungeachtet dessen Anspruch auf eine gerichtliche Überprüfung, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (entsprechend vormals § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) gegeben sind. Durch die erstrebte Verpflichtung würden die Betroffenen nämlich eine zusätzliche und jedenfalls nicht schwächere Schutzposition erlangen. Das genügt, um das erforderliche Rechtschutzinteresse zu bejahen (BVerwG, Urt. v. 12.7.2001 - 1 C 2/01 -, BVerwGE 114, 379, 381, 386 f.).
Einem generellen Abschiebestopp, wie er vorliegend für Roma aus dem Kosovo besteht, kommt allerdings bei der Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Bedeutung zu, wenn diejenige Gefahr, aus der der betroffene Ausländer ein Abschiebungshindernis im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ableitet, zugleich eine Gefahr darstellt, der die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist. Solche Gefahren sind nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG grundsätzlich für die Feststellung eines Abschiebungshindernisses im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unerheblich. Sie werden stattdessen bei Entscheidungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Beruft sich der einzelne Ausländer auf solche “allgemeinen“ Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, kann er daher Abschiebungsschutz regelmäßig nur im Rahmen eines generellen Abschiebungsstopps nach § 60 a Abs. 1 AufenthG erhalten. Ausnahmsweise steht Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebungsstopp nach § 60 a Abs. 1 AufenthG nicht besteht, ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Dies wiederum ist jedoch nur der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde und der betroffene Ausländer nicht in einer anderen gleichwertigen Form vor der Abschiebung geschützt ist. In letzterem Fall bedarf er nämlich nicht des zusätzlichen Schutzes durch verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.7.2001 - 1 C 2/01 -, BVerwGE 114, 379 ff.). Da aber ein solcher gleichwertiger Schutz aufgrund des generellen Abschiebungsstopps zugunsten u.a. von Roma aus dem Kosovo gegeben ist, besteht für die Betroffenen hinsichtlich allgemeiner Gefahren keine Schutzlücke, die durch verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu schließen wäre (vgl. BVerwG, Beschl. v. 12.4.2001 - 1 B 21/01 -, Buchholz 402.240 § 54 AuslG Nr. 3; Senatsbeschl. v. 22.11.2001 - 8 LB 2106/01 -; VGH Mannheim, Urt. v. 20.9.2001 - 14 S 2130/00 -, InfAuslR 2002, 102 ff.).
Auch Angehörige von Minderheiten aus dem Kosovo, deren Abschiebung aufgrund des o.a. Erlasses des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport ausgesetzt ist, haben daher Anspruch auf Prüfung, ob Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gegeben sind. Da kein Anlass für eine verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG besteht, kann sich ein solches Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AuslG allerdings nur aus “individuellen“ Gefahren ergeben, d. h. aus Gefahren, denen nicht zugleich die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist.
Aus diesen Ausführungen folgt zugleich, dass ein Rechtssatz mit dem Inhalt, “ein individuelles Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann nicht festgestellt werden, wenn gemäß Erlasslage eine Abschiebung der entsprechenden Bevölkerungsgruppe in absehbarer Zeit nicht in Betracht kommt,“ im Widerspruch zur genannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts stünde. Die Klägerin beruft sich aber für das Vorliegen des Berufungszulassungsgrundes der Divergenz im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG zu Unrecht darauf, dass das Verwaltungsgericht einen solchen Rechtssatz aufgestellt habe. Das Verwaltungsgericht hat den von der Klägerin behaupteten Rechtssatz in seinem Urteil weder ausdrücklich aufgestellt noch ist ein solcher Rechtssatz dem Urteil sinngemäß zu entnehmen; die Berufung kann daher auch nicht wegen der geltend gemachten Divergenz zugelassen werden.
Das Verwaltungsgericht hat offen gelassen, ob sich aus der geltend gemachten Erkrankung der Klägerin ein Abschiebungshindernis im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) ergibt. Zu der Frage, ob es sich bei der von der Klägerin geltend gemachten Nichtbehandelbarkeit ihrer psychischen Erkrankung um eine individuelle oder allgemeine Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 AuslG bzw. nunmehr § 60 Abs. 7 AufenthG handelt, hat das Verwaltungsgericht nichts ausgeführt. Es kann auch nicht - wie dies die Klägerin in ihrem Zulassungsantrag sinngemäß tut - gleichsam selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass es sich bei der von ihr geltend gemachten Erkrankung um eine individuelle Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG handelt. Denn eine allgemeine Gefahr im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG bzw. nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG kann auch vorliegen, wenn eine Erkrankung im Herkunftsland so verbreitet ist, dass die Frage, ob ihretwegen Abschiebungsschutz gewährt werden soll, eine politische Leitentscheidung nach § 54 AuslG bzw. nunmehr § 60 a Abs. 1 AufenthG erfordert (BVerwG, Urt. v. 27.4.1998 - 9 C 13/97 -, NVwZ 1998, 973 f.). Ob diese Voraussetzung für die Gruppe der psychisch Erkrankten im Kosovo gegeben ist, wird in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 16.2.2004 - 14 A 548/04 -; OVG Saarlouis, Beschl. v. 20.9.1999 - 9 Q 286.98 -; VG Oldenburg, Urt. v. 27.1.2004 - 12 A 550/03 -, m. w. N.). Daher kann ohne - hier fehlende - weitere Ausführungen nicht angenommen werden, dass das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil die von der Klägerin geltend gemachte Erkrankung als ein (mögliches) individuelles Abschiebungshindernis i.S.d. § 53 Abs. 6 AuslG bzw. nunmehr § 60 Abs. 7 AufenthG angesehen, aber gleichwohl ungeprüft als unbeachtlich eingestuft hat.