Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 25.05.1988, Az.: 4 A 6/87

Pflegemittel; Pflege; Personenkreis; Vermögen; Grundstück; Öffentliche Fürsorge; Gruppenfürsorge

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
25.05.1988
Aktenzeichen
4 A 6/87
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1988, 12893
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1988:0525.4A6.87.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade - 13.10.1986 - AZ: 4 VG A 136/86
nachfolgend
BVerwG - 05.12.1991 - AZ: BVerwG 5 C 60.88

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade - 4. Kammer Lüneburg - vom 13. Oktober 1986 wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Beklagte; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 2.600,-- DM abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

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Die am 5. November 1926 geborene Klägerin lebt in einem Pflege- und Altenheim. Der Beklagte gewährte ihr Hilfe zur Pflege. Sie ist zur ideelen Hälfte Eigentümerin des in ... gelegenen Hausgrundstücks Flurstück ..., Flur ..., das mit einem Behelfsheim bebaut ist. Ihrem Ehemann, der das Haus bewohnt, gehört die andere Hälfte des Grundstücks.

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1Mit Bescheid vom 17. Oktober 1985 teilte der Beklagte der Klägerin mit, die Hilfe zur Pflege werde ab dem 1. August darlehnsweise gewährt, weil die Klägerin den ihr gehörenden Grundstücksanteil als verwertbares Vermögen einsetzen müsse. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 16. April 1986 zurück. Das Verwaltungsgericht hat der Klage mit Urteil vom 13. Oktober 1986 stattgegeben und den Beklagten verpflichtet, die Hilfe vorbehaltlos zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, möglicherweise sei das Vermögen der Klägerin nach § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG geschont, jedenfalls müsse aber die Härtevorschrift des § 88 Abs. 3 BSHG durchgreifen.

3

Gegen das ihm am 16. Dezember 1986 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit seiner Berufung vom 7. Dezember 1986, mit der er geltend macht: § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG stelle darauf ab, ob der Hilfeempfänger selbst noch ein Hausgrundstück bewohne; es reiche nicht aus, wenn ein Mitglied des in § 28 BSHG genannten Personenkreises in dem Haus lebe; eine Härte sei in der Inanspruchnahme nicht zu sehen.

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Er beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern und die Klage abzuweisen.

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Die Klägerin beantragt,

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die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Verpflichtung des Beklagten auf die Zeit bis zum 16. April 1986 beschränkt wird.

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Sie verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichts.

9

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung ist nicht begründet.

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Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, es sei der Klägerin nicht zuzumuten, die Mittel für ihre Pflege aus ihrem Vermögen aufzubringen (§§ 28, 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG). Das Vermögen der Klägerin unterfällt der letztgenannten Vorschrift. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (FEVS 33, 163) ist allerdings der Auffassung, der Wortlaut des § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG erlaube es nicht, ein Grundstück unter diese Vorschrift einzuordnen, wenn nicht der Hilfesuchende, sondern nur eine andere Person des in § 28 BSHG bezeichneten Personenkreises das Hausgrundstück bewohne. Diese Ansicht ist mit Recht nicht unwidersprochen geblieben (vgl. Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 12. Aufl., RdNr. 53 zu § 88; Mergler/Zink, Bundessozialhilfegesetz, 4. Aufl., RdNr. 50 zu § 88; Gutachten des Deutschen Vereins zur öffentlichen und privaten Fürsorge, NDV 1984, 349). Allerdings setzt der Wortlaut einer Vorschrift die Grenze für ihre Auslegung. Das gilt indessen dann nicht, wenn die Fassung eines Gesetzes auf einem "Reaktionsversehen" beruht. So ist es hier. Die in § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG verwandten Formulierungen sind ohne eingehende Prüfung aus dem früheren Fürsorgerecht übernommen worden und entsprechen nicht mehr dem systematischen Aufbau des Bundessozialhilfegesetzes (vgl. Schellhorn/Jirasek/Seipp, aaO). § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG entspricht fast wörtlich dem § 8 a Abs. 1 f der Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge (i.d.F. der Bekanntmachung v. 1. August 1931, RGBl I S. 441). Die Reichsgrundsätze aber kannten nicht den Grundsatz der individuellen Anspruchsberechtigung, wie er nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 18. 12. 1975, BVerwGE 50, 73) und des Senats gilt. Vielmehr trugen die Reichsgrundsätze den Gedanken des "Gruppenanspruchs" und der "Gruppenfürsorge" Rechnung; so ist in § 8 a Abs. 1 f der Reichsgrundsätze vorgesehen, daß auch die das Hausgrundstück bewohnenden Angehörigen ihrerseits "minderbemittelt" sein mußten (vgl. auch § 5 Reichsgrundsätze).

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Geht man hingegen von der Konzeption der individuellen Anspruchsberechtigung aus, so ist § 88 Abs. 2 Nr. 7 - bezogen auf die Verwertung eines Hausgrundstücks - vor dem Hintergrund des § 28 BSHG zu sehen. Konsequenterweise muß dann der in dieser Vorschrift bezeichnete Personenkreis auch in §§ 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG erfaßt sein, und das bedeutet, daß ein "kleines Hausgrundstück" auch dann zum geschonten Vermögen zählt, wenn nicht der Hilfeempfänger, wohl aber eine Person des in § 28 BSHG bezeichneten Personenkreises das Hausgrundstück bewohnt. Für die vom Senat gefundene Auslegung spricht auch der Wortlaut des § 88 Abs. 3 BSHG. Dort sind derjenige, der sein Vermögen einzusetzen hat, und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen erwähnt; § 88 Abs. 3 ergänzt aber den § 88 Satz 2 BSHG lediglich dahin, daß auch die atypischen Lebenssachverhalte, die in den Regelvorschriften nicht erfaßt sind, zu einem den Leitvorstellungen des § 88 Abs. 2 BSHG entsprechenden Ergebnis führen.

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Schließlich sind Fallkonstellationen zu erwähnen, bei der eine andere Auslegung des § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG zu Ergebnissen führte, die den Leitvorstellungen des Bundessozialhilfegesetzes nicht gerecht würden. Geht es zum Beispiel um Hilfe in besonderen Lebenslagen für ein in einem Heim lebendes minderjähriges Kind, dessen Eltern Eigentümer eines "kleinen Hausgrundstückes" sind, so müßten die Eltern dieses "kleine Hausgrundstück" - jedenfalls gemäß § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG - einsetzen, um damit die Kosten für die Unterbringung ihres Kindes in einem Heim zu bestreiten. Eine derartige Reichweite soll § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG ersichtlich nicht haben, und diese - typische - Konstellation muß mit der Regelvorschrift aufgefangen werden und nicht mit der Ausnahmevorschrift des § 88 Abs. 3 BSHG.

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Die kostenrechtlichen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 154 Abs. 2, 167, 188 Satz 2 VwGO, 708 nr. 10, 711 ZPO.

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Die Revision ist zuzulassen, weil es von grundsätzlicher Bedeutung ist (§ 132 Abs. 2 VwGO), wie die Vorschrift des § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG auszulegen ist, wenn der Hilfeempfänger ein "kleines Hausgrundstück" nicht (mehr) bewohnt, wohl aber eine Person des in § 28 BSHG genannten Personenkreises.

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Jacobi

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Klay

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Atzler