Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.02.2003, Az.: 1 LA 52/02
Anspruch auf Einschreiten; Bauaufsichtsbehörde; Baugenehmigung; Beseitigungsanordnung; Ermessen; Ermessensreduzierung; Folgenbeseitigungsanspruch; Folgenbeseitigungslast; Nachbarschutz
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 10.02.2003
- Aktenzeichen
- 1 LA 52/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 47899
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 13.12.2001 - AZ: 4 A 488/01
Rechtsgrundlagen
- § 89 Abs 1 BauO ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Aufhebung einer Baugenehmigung wegen Verstoßes gegen nachbarschützende Vorschriften begründet nicht automatisch einen Anspruch des Nachbarn gegen die Bauaufsichtsbehörde, vom Bauherrn die vollständige Beseitigung des in Ausnutzung der aufgehobenen Genehmigung geschaffenen Vorhabens verlangen zu können.
Gründe
Die Kläger erstreben neben der Aufhebung einer Baugenehmigung, mit der ein bereits errichteter Anbau auf dem Nachbargrundstück nur teilweise legalisiert worden ist, vor allem dessen vollständige Beseitigung mit der Begründung, dieser stelle ein unteilbares Ganzes dar und verletze in der Gestalt, bis zu der er nach der ebenfalls angefochtenen Teilbeseitigungsverfügung entfernt werden solle, noch immer das Grenzabstandsrecht.
Die Kläger sind Eigentümer eines an der Nordseite der Q. straße in N. gelegenen Grundstücks Q. straße 15, das ebenso wie das östliche Nachbargrundstück Q. straße 17 im Geltungsbereich des Durchführungsplanes Nr. 103 der Beklagten liegt. Im Erdgeschoss des Gebäudes wird ein Kosmetikgeschäft betrieben, im 1. Obergeschoss eine Bank, die mit einem Schild von etwa 1 x 0,7 m Größe für sich wirbt. Das Gebäude Nr. 17 nutzt der Beigeladene als Verkaufsstätte für Wurst und Fleisch sowie einen Schnellimbiss. Zur Erweiterung der Verkaufs- und Imbissflächen errichtete er einen zweigeschossigen, ohne den darauf angefügten Balkon ca. 6,85 m hohen Anbau, der die im genannten Durchführungsplan festgesetzte Straßenfluchtlinie durchgängig überschreitet und – mit abgerundeten Ecken – die gesamte Gebäudebreite einnimmt. Hierfür hatte ihm die Beklagte außer einem Vorbescheid (vom 27.11.1995) unter dem 20.6.1996 eine Baugenehmigung erteilt. Diese hob das Verwaltungsgericht durch Urteil vom 3.12.1998 – 4 A 4432/97 – mit der Begründung auf, der Anbau halte nicht, wie erforderlich, einen Abstand von 1 H ein.
Nach Aufforderungen der Kläger, für eine restlose Beseitigung des Anbaus zu sorgen, soweit er die im Durchführungsplan festgesetzte Straßenfluchtlinie überschreite, erließ die Beklagte unter dem 10.9.1999 zwei Verfügungen. Mit der einen legalisierte sie, ohne dass hierzu ein Bauantrag vorgelegen hätte, den Anbau mit der Maßgabe, dieser dürfe zwar im Wege der Befreiung die Straßenfluchtlinie überschreiten, müsse aber zur (verlängerten) Grundstücksgrenze der Kläger den Abstand von 1 H halten. Mit der anderen Verfügung gab sie dem Beigeladenen auf, den Anbau entsprechend der Grüneintragung im beigefügten Plan, d.h. so zurückzubauen, dass ein konkaver Einschnitt entsteht, der bündig an der gemeinsamen Grundstücksgrenze beginnt und erst nach rund 4,50 m auf das bereits verwirklichte Niveau führt.
Der Widerspruch der Kläger blieb erfolglos. Deren Klage hat das Verwaltungsgericht nach Durchführung einer Ortsbesichtigung mit der angegriffenen Entscheidung, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, abgewiesen. Darin hat es u.a. ausgeführt, Nachbarrechte verletze die Baugenehmigung nicht, weil sie das Ausmaß des streitigen Anbaus auf das zurückführe, was im Einklang mit dem Grenzabstandsrecht stehe; ein Etikettenschwindel sei sie nicht. Auf vollständige Beseitigung des Anbaus hätten die Kläger auch bei Berücksichtigung des Gedankens der Folgenbeseitigung keinen Anspruch. Diese Anordnung stehe unverändert im Ermessen der Beklagten. Diese habe von ihm in nicht zu beanstandender Weise Gebrauch gemacht.
Dagegen richtet sich der rechtzeitig gestellte, auf § 124 Abs. 2 Nrn. 1 – 4 VwGO gestützte Zulassungsantrag. Dieser hat keinen Erfolg.
Zum Anspruch auf vollständige Entfernung des streitigen Anbaus ist das Folgende auszuführen:
Das angegriffene Urteil begegnet insoweit nicht ernstlichen Zweifeln im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Das ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. B. v. 31.7.1998 - 1 L 2696/98 -, NVwZ 1999, 431) erst dann der Fall, wenn für das vom Zulassungsantragsteller favorisierte Entscheidungsergebnis - auf dieses und nicht auf einzelne Begründungselemente kommt es dabei an - „die besseren Gründe sprechen“, d.h. wenn ein Obsiegen in der Hauptsache wahrscheinlicher ist als ein Unterliegen. Das ist hier nicht gegeben.
Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Kläger könnten eine vollständige Beseitigung des streitigen Anbaus nicht beanspruchen, steht jedenfalls im hier ausschlaggebenden Ergebnis in Einklang mit der Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts.
Bereits in der Entscheidung vom 27. März 1981 (- 1 A 213/80 -, BRS 38 Nr. 181) hat der Senat ausgeführt, die Aufhebung der Baugenehmigung, in deren Ausnutzung das streitige Bauwerk entstand, berechtige für sich allein den Nachbarn nicht, von der Bauaufsichtsbehörde die Anordnung seiner vollständigen Beseitigung verlangen zu können. Denn auch dieses Verlangen erfordere eine Ermächtigungsgrundlage (seinerzeit: § 100 Abs. 2 SHBauO, hier: § 89 Abs. 1 NBauO). Diese stelle das Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde in deren Ermessen. Dessen Ausübung sei vom Opportunitätsprinzip beherrscht. Das unterliege Einschränkungen. Bei der Ausübung des Ermessens sei insbesondere der Gesichtspunkt der Folgenbeseitigungslast, d.h. zu berücksichtigen, dass die Bauaufsichtsbehörde mit ihrem Verhalten zur Entstehung des baurechtswidrigen Zustandes beigetragen habe. Auch dieser Gesichtspunkt lasse indes Raum für eine Abwägung der konkurrierenden Interessen. Denn er besage nur, dass die Nachbarinteressen zu berücksichtigen seien, ersetze jedoch nicht die dafür erforderliche Ermächtigungsgrundlage. Diese weise erst dann in eine dem Nachbarn günstige, d.h. auf eine vollständige Beseitigung des Vorhabens hinauslaufende Richtung, wenn dies nach der Intensität der Störung angezeigt sei.
An dieser Auffassung hat der Senat in dem Urteil vom 16. Mai 1988 (- 1 A 23/87 -, BauR 1989, 188, 189) im Wesentlichen festgehalten. Darin hat er betont, die Aufhebung der Baugenehmigung stelle einen Gesichtspunkt dar, der bei der Ausübung des eröffneten Ermessens stark zugunsten des Nachbarn spreche. Er schließe eine Abwägung der konkurrierenden Interessen jedoch nicht vollständig aus. Allerdings sei die Bauaufsichtsbehörde nach Aufhebung einer Nachbarrechte verletzenden Baugenehmigung regelmäßig zum Einschreiten verpflichtet. Anderes gelte dann, wenn diese oder öffentliche Interessen hierdurch entweder gar nicht oder nur geringfügig beeinträchtigt würden und dem Bauherrn durch die Anordnung eines Rückbaus schwerwiegende finanzielle Einbußen entstünden. Maßgeblich seien insoweit die konkreten Umstände des Einzelfalls.
Diese Auffassung teilte der seinerzeit ebenfalls mit dem öffentlichen Baurecht befasste 6. Senat des Nds. Oberverwaltungsgerichts im Urteil vom 28.10.1996 (- 6 L 7980/94 -, Vnb). Darin hob er hervor, dass sich die Frage des Ermessensspielraums allerdings weniger im Hinblick auf das „Ob“ des Einschreitens als vielmehr auf das „Wie“, d.h. die Art und Weise stelle, in der der Nachbar ein Einschreiten verlangen könne. Grenzabstandsvorschriften seien zwar zentimetergenau; eine Baugenehmigung sei dementsprechend schon dann aufzuheben, wenn der Grenzabstand nur um Zentimeter unterschritten werde. Das Ausmaß seiner Unterschreitung sei aber je nach den Umständen des Einzelfalls von Belang, wenn es um die Rückgängigmachung der Folgen gehe, die durch die Ausnutzung der nunmehr aufgehobenen Baugenehmigung entstanden seien. Ein durchsetzbarer Anspruch auf Rückgängigmachen der Folgen bestehe daher nur dann, wenn die Beeinträchtigungen des formell rechtswidrigen Vorhabens mehr als nur unerheblich seien (ebenso OVG Lüneburg, Urteil vom 29.10.1993 – 6 L 3295/91 -, BauR 1994, 86 = OVGE 44, 384 = NdsRpfl 1994). Allein der Umstand, dass der Gesetzgeber mit der Festlegung des Grenzabstandes tatsächliche Beeinträchtigungen im Falle ihrer Verletzung unterstelle, rechtfertige nicht die Folgerung, jedwede Unterschreitung des Grenzabstandes löse auch einen Anspruch auf vollständige Beseitigung des (nach Aufhebung der Baugenehmigung) formell baurechtswidrigen Zustandes aus (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 26.5.1997 – 1 L 5006/95 -, Vnb.).
Die von der Klägerseite zitierten Entscheidungen geben keinen Anlass, diese gefestigte Rechtsprechung zu ändern. Das gilt namentlich im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Februar 2000 (- 4 B 11.00 -, BauR 2000, 1318 = ZfBR 2000, 490). Darin hat das Bundesverwaltungsgericht gerade ausdrücklich hervorgehoben, dass ein unmittelbar aus Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG abzuleitender Abwehranspruch nicht besteht, sondern dem Vorbehalt gesetzlicher Ausgestaltung unterliegt. Stelle diese, wie hier auch, das Einschreiten in das Ermessen der Behörde, bestehe dieses zwar nicht grenzenlos. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG führe aber nicht dazu, dass es der gesetzlichen Ausgestaltung zuwider gleichsam von vornherein doch nicht bestehe. Diese Rechtsprechung steht ersichtlich in Einklang mit den Grundsätzen, welche das Nds. Oberverwaltungsgericht in den zuvor referierten Entscheidungen entwickelt hat.
Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. April 1998 (- 4 B 144/97 -, UPR 1998, 355 = BauR 1999, 735 = BRS 60 Nr. 169) vermag die gegenteilige Auffassung der Kläger ebenso wenig zu stützen. Die von ihnen hervorgehobene Wendung, das materielle Bauplanungsrecht stehe grundsätzlich nicht zur Disposition des Landesgesetzgebers, bezieht sich – erstens – auf das Bauplanungs- und nicht auf das Bauordnungs-/Grenzabstandsrecht. Zweitens und vor allem aber sind diese Ausführungen nur auf die für die Anwendung des § 34 BauGB maßgebliche Frage gemünzt, ob Vorhaben trotz ihrer materiellen Baurechtswidrigkeit als rahmen- und maßstabsbildend anzusehen sind, weil/wenn sich die Bauaufsichtsbehörde mit ihrem Vorhandensein abgefunden hat. Das ist nicht identisch mit der hier in Rede stehenden Frage.
Die gleichfalls ins Feld geführte Rechtsprechung des OVG Münster (s. insbesondere Urt. v. 14.1.1994 – 7 A 2002/92 -, NVwZ-RR 1995, 187; Urt. v. 13.10.1999 – 7 A 998/99 -, NVwZ-RR 2000, 205) enthält keine Gesichtspunkte, welche das Nds. Oberverwaltungsgericht nicht schon erwogen und z.T. verworfen hat. In ständiger Rechtsprechung teilt der Senat nicht die Auffassung, jedwede Verletzung des Grenzabstandes – und sei sie noch so gering – löse einen nachbarlichen Abwehranspruch aus, der nicht nur das „Ob“, sondern auch das „Wie“ des Einschreitens regiere und die Anordnung eines Teilabbruchs lediglich deshalb ausschließe, weil (insoweit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats) jedes Vorhaben unteilbar und es daher Aufgabe des Bauherrn ist, das Maß des Rückbaus aufgrund eigener Initiative als Austauschmittel auf die Anordnung vollständigen Abbruchs anzubieten. Das Maß, in dem der Bauherr den Grenzabstand verletzt, ist vielmehr eines von mehreren Elementen, das bei der Ausübung und Ausfüllung des § 89 Abs. 1 NBauO zu berücksichtigen ist. Diese Vorschrift schafft den Abwehranspruch des Nachbarn im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG überhaupt erst und gestaltet ihn inhaltlich aus, eröffnet aber – insoweit zu seinem Nachteil – der Bauaufsichtsbehörde auch im Interesse des Bauherrn einen Ermessensspielraum. Dass bei dessen Ausfüllung zum Vorteil des Nachbarn unter dem Gesichtspunkt der Folgenbeseitigungslast auch die Aufhebung der erteilten Baugenehmigung zu berücksichtigen ist, ist im Übrigen eine Selbstverständlichkeit nicht. Dieser Gesichtspunkt hat seine Rechtfertigung in der Beobachtung, dass die Bauaufsichtsbehörde durch dieses rechtswidrige vorangegangene Tun die Entstehung baurechtswidriger Umstände begünstigt hat; das soll sie nach Art der „Ingerenz“ in Pflicht nehmen, nunmehr auch dafür zu sorgen, dass die daraufhin geschaffene Verletzung nachbarlicher Interessen wieder „aus der Welt geschafft“ wird. Dem steht indes der Umstand gegenüber, dass die Bauaufsichtsbehörde durch Erteilung der Baugenehmigung beim Bauherrn einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat. Dieser kann sich mit einiger Berechtigung auf den Standpunkt stellen, er könne deshalb doch nicht schlechter gestellt sein als jemand, der von vornherein ohne Baugenehmigung gebaut habe; einem Schwarzbauer verlange man Rückbaumaßnahmen doch auch nur in dem Umfang ab, wie der Nachbar durch den Schwarzbau tatsächlich und spürbar in seinen Interessen beeinträchtigt werde. Die Aufhebung der Baugenehmigung bewirkt zunächst einmal nichts anderes als dies, dass das Vorhaben formell illegal ist. Die formelle Illegalität allein begründet ein Abwehrrecht des Nachbarn nicht. Denn die Pflicht, ein Vorhaben vor seiner Verwirklichung bauaufsichtsbehördlich überprüfen zu lassen, obliegt dem Bauherrn allein im öffentlichen Interesse. Der Umstand, dass im Laufe des Baugenehmigungsverfahrens auch solche Gesichtspunkte zu prüfen sind, die (nicht nur im öffentlichen, sondern zugleich) im nachbarlichen Interesse liegen, ändert daran nichts (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 29.5.1998 – 6 L 1223/97 -, Vnb). Auch aus diesem Grunde stellt die Erteilung (und spätere Aufhebung) einer Baugenehmigung keinen Gesichtspunkt dar, der zwingend zur Einschränkung des Ermessens der Bauaufsichtsbehörde führen müsste.
Die Entscheidung des Hess. Verwaltungsgerichtshofes vom 25.11.1999 (- 4 UE 2222/92 -, BauR 2000, 873 = BRS 62 Nr. 184) trägt die Auffassung der Kläger ebenfalls nicht. Zu Inhalt und Grenzen des öffentlich-rechtlichen Abwehranspruchs konnte der Hessische Verwaltungsgerichtshof dort nicht vordringen, weil er schon die Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung nicht durchgreifen ließ.
Die hier angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts hält sich (möglicherweise) nicht in allen Details ganz auf der Linie der Rechtsprechung des Nds. OVG, wie sie oben wiedergegeben worden ist. Das Verwaltungsgericht will einen Abwehranspruch nach den Ausführungen auf Seite 6 Mitte des Urteilsabdrucks (etwas anders dann Seite 7 am Ende des großen Absatzes: es ermangele <gemeint: insgesamt> einer tatsächlichen Beeinträchtigung, wenn der streitige Anbau nicht noch weiter als in der Verfügung vom 10.9.1999 entfernt werde) erst dann einräumen, wenn die Kläger durch das Vorhaben in ihren Rechten „unzumutbar beeinträchtigt“ werden. Demgegenüber besteht nach der oben referierten Rechtsprechung ein Abwehranspruch (jedenfalls hinsichtlich des „Ob“ des Einschreitens) schon dann, wenn die Interessen des Nachbarn mehr als nur unerheblich beeinträchtigt werden. Das führt jedoch nicht zur Zulassung der Berufung gem. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Denn das daraufhin vom Verwaltungsgericht gefundene Ergebnis, auf das es für die Anwendung dieser Zulassungsvorschrift ankommt, ist auf dem Boden der getroffenen Feststellungen nicht ernstlich zweifelhaft. Denn das Gebäude der Kläger wird in der Gestalt, die der streitige Anbau nach der angegriffenen Rückbauverfügung erhalten soll, nicht mehr als nur geringfügig in seiner Nutzbarkeit eingeschränkt. Richtig ist zwar, dass gerade die Einhaltung der Grenzabstandsvorschriften dazu dienen soll, den in einem Gebäude Wohnenden und Arbeitenden ausreichenden Umfangs Belichtung und Belüftung zukommen zu lassen. Insofern fällt zu Lasten des Anbaus ins Gewicht, dass er südöstlich des klägerischen Gebäudes steht und daher die Sonneneinstrahlung zum Teil verhindert. Richtig ist des Weiteren, dass das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 3. Dezember 1998 (4 A 4432/97) mit Rechtskraftwirkung zwischen den Beteiligten (§ 121 VwGO) festgestellt hat, die Kläger könnten grundsätzlich die Einhaltung eines Abstands von 1 H verlangen. All das ändert indes nichts daran, dass bei der nach § 89 Abs. 1 NBauO anzustellenden Ermessensbetätigung die konkreten Umstände in den Blick genommen werden müssen. Dabei fällt zum einen ins Gewicht, dass mit einem vollständigen Abriss schwerwiegende finanzielle Einbußen des Beigeladenen verbunden sind und diesem nicht vorgeworfen werden kann, er habe sich wissent- und willentlich über die Grenzabstandsvorschriften zu Lasten der Kläger hinweggesetzt (vgl. Sarnighausen, NJW 1993, 1623, 1625). Zum anderen und vor allem aber rechtfertigen die Feststellungen des Verwaltungsgerichts entgegen der Einschätzung der Kläger die Annahme, deren Nutzungsinteressen würden allenfalls kaum merklich berührt, wenn der Anbau in dem Umfang bestehen bleibt, wie dies nach der Teilbeseitigungsanordnung vom 10.9.1999 der Fall sein wird. Maßgeblich sind insoweit, wie oben ausgeführt, die besonderen Umstände des Einzelfalls. Dabei fällt entscheidend ins Gewicht, dass das Gebäude der Kläger in kerngebietstypischer Weise genutzt wird. Das sind Nutzungen, welche zwar nach außen hin werben, jedoch gleichsam nach innen gewandt stattfinden. Dementsprechend hat es der Senat in seinem Beschluss vom 30. März 1999 (- 1 M 897/99 -, BauR 1999, 1163 = BRS 62 Nr. 190 = NdsRpfl 2000, 175 – Kröpcke-Center) sogar als möglich angesehen, selbst in Kerngebieten, in denen wegen § 7 Abs. 4 NBauO ohnedies nur ? H Abstand zu halten ist, unter Anwendung von § 13 Abs. 1 Nr. 1 NBauO den Abstand noch weiter zu reduzieren. Bei der Anwendung der letztgenannten Vorschrift hat er sich insbesondere von der konkreten Nutzung der seinerzeit in Rede stehenden Gebäude leiten lassen und dazu unter anderem ausgeführt:
Die hiernach anzustellende Betrachtung ergibt, dass mit Ausnahme der Wohnung des Antragstellers zu 1) alle dem angegriffenen Vorhaben zugewandten übrigen Räume der Antragsteller gewerblich genutzt werden. Sie werden nach den bei der Ortsbesichtigung festgestellten Verhältnissen durch die Überschreitung der gesetzlich vorgeschriebenen Abstände nicht berührt. In den Erd- und 1. Obergeschossen finden sich teils Ladenlokale von Bekleidungsgeschäften, teils gastronomische Betriebe und ihnen zugeordnete Sozialräume. Beide Arten von gewerblichen Nutzungen sind gleichsam nach innen orientiert. Kunden und Personal sollen sich mit den Textilien befassen und auf das Beratungsgespräch konzentrieren. Die gastronomischen Betriebe sind darauf ausgerichtet, den Kontakt der Gäste zueinander und den Genuss von Speisen und Getränken zu fördern. Das gilt selbst dann, wenn Gäste allein am Tisch sitzen. Denn das wollen sie dann „in Gesellschaft“ tun. Dass der Kontakt nach außen keine besondere Rolle spielt, zeigt nicht zuletzt die Kakaostube des Antragstellers zu 1). Schon die Schaufensterfront ist in einer Tiefe ausgestaltet, welche Gäste schon bisher von natürlicher Belichtung ausschließt. Die Bewirtung findet dort wie auch im Haus der Antragstellerin zu 2) im Wesentlichen in der Tiefe der Gaststube statt. Selbst wenn man in der letztgenannten Gaststätte einen Fensterplatz einnimmt, geschieht dies nicht zum Zwecke besserer Belüftung und Belichtung, sondern um Passanten zu sehen oder von diesen gesehen zu werden. Die Höhe des Kröpcke-Centers ist dafür ohne jede Bedeutung.
Dasselbe gilt für die in den oberen Geschossen anzutreffenden Praxen und Büros. Die heutigen Kommunikationsmittel (Bildschirmarbeit) bringen es mit sich, dass unmittelbare Belichtung sogar durch Schutzvorrichtungen vermieden wird. Zudem konnte der Senat bei seiner Ortsbesichtigung feststellen, dass trotz - von außen betrachtet - guter Belichtung und hellem Sonnenschein in den meisten Büros künstliches Licht brannte. Auf die natürliche Belichtung kommt es für solche Nutzungen mithin nur in einem eingeschränkten Umfang an, der auch bei Verwirklichung des angegriffenen Vorhabens gewahrt bleibt. Nur ergänzend ist daher darauf hinzuweisen, dass die überwiegende Zahl der Büros und Praxen in den obersten Geschossen gelegen sind, welche auch bei Verwirklichung des angegriffenen Vorhabens noch immer einen Lichteinfallwinkel von mindestens 45 Grad haben werden.
Aber auch hinsichtlich der im Obergeschoss des Gebäudes R. straße gelegenen Wohnung des Antragstellers zu 1) wird sich die erteilte Ausnahme voraussichtlich als tragfähig erweisen. ...
Diese Ausführungen gelten für die Nutzung entsprechend, welche die Kläger in ihrem Gebäude untergebracht haben. Bankgeschäfte sind ebenso wie die Auswahl und Präsentation von Kosmetika gleichsam zum Gebäudeinneren gerichtete Tätigkeiten; auf (uneingeschränkte) Belichtung und Belüftung der Ladenlokale kommt es dabei nicht, allenfalls in einem eingeschränkten Umfang an, der auch bei der Teilerhaltung des streitigen Anbaus uneingeschränkt befriedigt werden kann. Der Werbeträger der Bank wird nach einem Rückbau des streitigen Anbaus jedenfalls so weit zu sehen sein, dass der Kontakt nach außen durch die umstrittene Teilerhaltung des Anbaus allenfalls unerheblich eingeschränkt wird. In diesem Zusammenhang hat das Verwaltungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass die Gebäudefronten in diesem Teil der Q. straße ohnedies unregelmäßig verlaufen, ohne dass gesagt werden könnte, die im „Knie“ liegenden Geschäfte erlitten durch eine Teilverdeckung ihrer Werbeträger einen merklichen Eintrag.
Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, dass die Berufung nicht auf der Grundlage von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zugelassen werden kann. Besondere Schwierigkeiten tatsächlicher und rechtlicher Art weist eine Sache nach ständiger Senatsrechtsprechung (vgl. z.B. B. v. 31.8.1998 – 1 L 3914/98 -, NdsRpfl 1999, 44 = NuR 2000, 389 = NdsVBl. 1999, 95) erst dann auf, wenn das Zulassungsantragsvorbringen Probleme aufwirft, welche sich im Zulassungsverfahren nicht ohne weiteres beantworten lassen. Das ist nach den vorstehenden Ausführungen hier nicht der Fall. Den Umfang von Beeinträchtigungen zu ermessen gehört zu den Routineprüfungen, welche in Nachbarstreitigkeiten anzustellen sind. Darüber hinausgehende Schwierigkeiten sind nicht zu erkennen.
§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO rechtfertigt die Zulassung der Berufung ebenfalls nicht. Es mag zwar sein, dass das Verwaltungsgericht – wie oben dargelegt – den Prüfungsmaßstab nicht in allen Aussagen vollständig getroffen hat, den das Nds. Oberverwaltungsgericht bei Anträgen des Nachbarn auf Einschreiten gegen den Bauherrn anlegt. Ein Berufungsverfahren wäre aber nicht geeignet, hier zusätzliche Klärung zu bringen. Denn nach den vorstehenden Ausführungen ändert sich am Ergebnis nichts, wenn man auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts den zutreffenden Maßstab anlegt.
Die Ausführungen auf Seite 8 ff. der Zulassungsantragsschrift begründen nicht die erneute grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit der Frage, ob und wann dem Nachbarn ein Anspruch auf (vollständige) Beseitigung der Folgen zusteht, wenn das in Ausnutzung einer Baugenehmigung errichtete Vorhaben Grenzabstandsvorschriften verletzt. Denn die Entscheidung des Hess. VGH vom 25.11.1999 (aaO) betrifft die hier vorliegende Sachlage nicht. Die vom OVG Münster (aaO) zur Stütze seiner Auffassung u.a. angeführte Beobachtung, Grenzabstandsvorschriften bezeichneten mit Bindungswirkung für Beseitigungsverlangen sozusagen zentimetergenau das Maß dessen, was der Nachbar an Beeinträchtigungen durch heranrückende Bauten noch hinzunehmen hat, hat das Nds. Oberverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung (vgl. nochmals Urteil vom 28.10.1996 - 6 L 7980/94 -, Vnb) bereits berücksichtigt, jedoch nicht für durchschlagend erachtet. Die auf Seite 10 f. der Zulassungsantragsschrift aufgemachten Fallgruppen begründen erneuten grundsätzlichen Klärungsbedarf auch unter dem rechtlichen Gesichtspunkt von Art. 3 Abs.1 GG nicht. Sie setzen als selbstverständlich richtig voraus, der Nachbar müsse im praktischen Ergebnis stets von dem Vorhaben verschont bleiben bzw. werden – gleich, ob der Bauherr das Ergebnis eines ihm nachteiligen Eilverfahrens abwartet und dann nicht baut oder ob er dessen Ausgang nicht abwartet. Das ist nicht richtig. Denn die für die Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG maßgebliche Vergleichsgruppe hat zumindest auch die Sachlage zu sein, dass sich ein Bauherr überhaupt nicht um das Baugenehmigungserfordernis schert und das Vorhaben im Glauben errichtet, es stehe materiell in Einklang mit der Baurechtsordnung. Wenn ihm dies sogar noch durch eine Baugenehmigung attestiert worden ist, bedeutet es sogar eine erhebliche Stärkung nachbarlicher Interessen, wenn das Oberverwaltungsgericht Lüneburg die gerichtliche Aufhebung der Baugenehmigung sozusagen „gleichwohl“ als Stärkung der Belange ansieht, welche die Bauaufsichtsbehörde unter dem Stichwort der „Folgenbeseitigungslast“ zugunsten des Nachbarn bei ihrer Ermessensentscheidung zu berücksichtigen hat.
Die angegriffene Entscheidung beruht schließlich nicht in einer die Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO rechtfertigenden Weise auf einer Abweichung von der Senatsentscheidung vom 16. Mai 1988 (- 1 A 23/87 -, BauR 1989, 188, 189). Der Senat hat in dieser Entscheidung entgegen der Annahme der Kläger ausdrücklich daran festgehalten, dass die Aufhebung einer Baugenehmigung nicht automatisch den Anspruch nach sich zieht, von der Bauaufsichtsbehörde die Anordnung vollständiger Beseitigung des auf ihrer Grundlage geschaffenen Vorhabens verlangen zu können. Vielmehr habe die Bauaufsichtsbehörde auch hier eine Ermessensentscheidung zu treffen, bei der allerdings die Folgenbeseitigungslast als stark zugunsten des Nachbarn streitender Gesichtspunkt zu beachten sei. Dass das Verwaltungsgericht darüber hinaus den Maßstab, den es an die Schwere der verbleibenden Beeinträchtigung anzulegen hat, in einzelnen Wendungen unter Umständen in Abweichung von der Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts bestimmt hat (s.o.), rechtfertigt ebenfalls nicht die Zulassung der Berufung.
Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass die angegriffene Entscheidung darauf nicht im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO „beruht“. Selbst bei Anlegung des zutreffenden Maßstabes ist es nach Lage der Dinge ausgeschlossen, dass die bei Befolgung der Verfügung vom 10. September 1999 verbleibenden Einschränkungen nach der dabei gebotenen Betrachtung des konkreten Sachverhalts mehr als nur geringfügig die Nutzung des klägerischen Gebäudes einschränken.
Die Berufung ist auch nicht zuzulassen, soweit sich die Kläger – insoweit im Wesentlichen allein unter Berufung auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO – gegen die Klagabweisung im Übrigen, d.h. hinsichtlich der Baugenehmigung vom 10. September 1999 wenden. Es mag zwar sein, dass sich die Sitzungsvertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts vom Inhalt der angegriffenen Baugenehmigung (Nebenbestimmung Nr. 37) überrascht gezeigt haben. Das allein vermag aber den Vorwurf des Etikettenschwindels nicht zu rechtfertigen. Ein Etikettenschwindel liegt erst dann vor, wenn das wirklich Gewollte und das Genehmigte inhaltlich auseinander fallen, d.h. wenn eine Nutzungsart oder ein Nutzungsmaß vorgegeben wird, das „in Wahrheit“ gar nicht verwirklicht werden soll. Das ist hier nicht der Fall. Sinn und Zweck der Baugenehmigung vom 10. September 1999 war es trotz zeitlichen Zusammentreffens mit der Teil-Beseitigungsanordnung nicht, das Vorhaben in der Gestalt zu genehmigen, bis zu der es nach der Verfügung vom gleichen Tage nur zurückgebaut werden sollte. Die Begründung der oben behandelten Teilrückbauverfügung lässt vielmehr deutlich die Auffassung der Beklagten erkennen, dass mit ihrer Befolgung eine vollständige Einhaltung der Grenzabstandsvorschriften „an sich“ nicht erreicht wird, von einer weitergehenden Anordnung aber im Ermessenswege abgesehen werde. Von dieser Tendenz ist die (ohne Antrag erteilte) Baugenehmigung vom gleichen Tage nicht getragen. Sie sollte dem Beigeladenen „lediglich“ verdeutlichen, in welchem Umfang „nur“ sein Vorhaben mit dem geltenden Grenzabstandsrecht in Einklang steht. Sie wiederholt mit der Forderung lediglich die gem. § 121 VwGO ohnedies bindende Auffassung des Verwaltungsgerichts vom 3.12.1998 – 4 A 4432/97 -, der Anbau müsse (trotz kerngebietstypischer Nutzung beidseits der Q. straße und trotz des Privilegs des § 7 Abs. 4 NBauO) 1 H Abstand halten. Die Baugenehmigung gibt daher gerade nicht nach Art des Etikettenschwindels die Lösung eines Konfliktes nur vor, ohne ihn wahrhaft zu lösen. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung bestehen daher insoweit gleichfalls nicht.