Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 05.08.2010, Az.: L 8 SO 143/10 B ER
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 05.08.2010
- Aktenzeichen
- L 8 SO 143/10 B ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 38492
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2010:0805.L8SO143.10B.ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hildesheim - 18.03.2010 - AZ: S 34 SO 40/10 ER
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 18. März 2010 aufgehoben.
Der Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Antragsgegner verpflichtet ist, (vorläufig) die Kosten einer Integrationshelferin (Schulbegleiterin) für die Antragstellerin zu tragen.
Die am 20. April 1997 geborene Antragstellerin ist im Wesentlichen durch ein cerebrales Anfallsleiden, eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität sowie möglicherweise auch durch eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung in ihrer Gesundheit beeinträchtigt. Wegen der Funktionsbeeinträchtigungen "Krampfleiden" und "Entwicklungsverzögerung" ist für sie ein Grad der Behinderung von 80 mit den Merkzeichen G, B und H festgestellt (Bescheid vom 3. August 2005). Die Antragstellerin besuchte in den Schuljahren 2003/2004 bis 2007/2008 die Grundschule D. in Osterode. Nach Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs erhielt sie Zusatzförderung im Rahmen eines mobilen Dienstes im Bereich Hören durch das Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte. Die erste Grundschulklasse musste die Antragstellerin wiederholen. Später machte sie jedoch gute Lernfortschritte und war gut in die Grundschulklasse integriert. Unter dem 6. Juli 2004 war ihr von der Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. E. eine Lese- und Rechtschreibstörung sowie eine leichte Aufmerksamkeitsstörung (vom verträumten Typ) und eine Entwicklungsverzögerung der motorischen Funktionen bescheinigt worden. Anfang 2008 ergaben Testungen des behandelnden Kinder- und Jugendpsychiaters F. eine durchschnittliche intellektuelle Begabung der Antragstellerin. Die Lese- und Rechtschreibschwäche (sehr schwach ausgeprägtes Leseverständnis) wurden bestätigt. Weiterhin fanden sich Hinweise auf eine Diskalkulie.
Seit dem 21. August 2008 besucht die Antragstellerin (auf Empfehlung der Grundschule und der behandelnden Ärzte) die Montessori Schule G., wo sie jetzt die jahrgangsgemischte Mittelstufe (Klassen 4 - 6) abgeschlossen hat. Ein im Dezember 2008 vom Kinder- und Jugendpsychiater F. durchgeführter Lese-Rechtschreibtest ergab ein weiterhin sehr schwach ausgeprägtes Leseverständnis (Verdacht auf Lese-Rechtschreibstörung). Es bestehe weiterhin Förderbedarf im Schreiben und Lesen. Eine Überprüfung der Rechenschwäche ergab ebenfalls keine Veränderung. Es sei von einer Rechenstörung auszugehen. Unter dem 27. Mai 2009 berichtete der Kinder- und Jugendpsychiater F., bei der Antragstellerin bestehe ein komplexes Störungsbild mit einem cerebralem Anfallsleiden seit dem 3. Lebensjahr, das entsprechend medikamentös eingestellt sei. Zusätzlich bestehe eine Migränebehandlung mit medikamentöser Behandlung. Im kinder- und jugendpsychiatrischem Kontext bestehe eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität mit entsprechender Einstellung auf Methylphenidat. Diese komplexen Krankheitsbilder wirkten sich insbesondere auf die Aufmerksamkeitsleistung im schulischen Kontext und in der Lernsituation aus, hier komme es zu deutlichen Vigilanzschwankungen. Die Antragstellerin brauche dann immer wieder von außen Anstöße und Hilfe zur Aufrechterhaltung einer angemessenen Konzentrationsleistung und des Arbeitstempos. Zusätzlich sei zu erwähnen, dass bei durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten in den schulischen Teilleistungsbereichen Förderbedarf bestehe, insbesondere im Bereich Mathematik. Im Fach Deutsch habe die Antragstellerin Fortschritte erzielen können, hier falle aber besonders das langsame Arbeitstempo auf. Sie sei in der Montessori Schule gut integriert und nehme die Unterrichtsangebote motiviert an. Die Fortsetzung der aktuellen Beschulungssituation sei zu empfehlen. Allerdings werde immer wieder deutlich, dass die Antragstellerin aufgrund des komplexen Störungsbildes dringend zusätzliche Hilfe in der Bewältigung der Schulsituation benötige. Es gehe um Integrationsmaßnahmen, die insbesondere darauf abzielten, ihre Aufmerksamkeitsleistung aber auch das Arbeitstempo durch innerschulische Einzelmaßnahmen zu fördern. Um ihr einen ihren allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten entsprechenden Schulabschluss zu ermöglichen und zur Unterstützung ihrer persönlichen Entwicklung werde aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht dringend die Einrichtung einer Einzelfallhilfe im Kontext der Beschulung in der Montessori Schule empfohlen.
Am 4. Juni 2009 beantragte die Mutter der Antragstellerin für die Antragstellerin bei dem Antragsgegner im Wesentlichen unter Bezugnahme auf den in Kopie beigefügten vorgenannten Bericht des Facharztes F. vom 27. Mai 2009 neben der Übernahme des Schulgeldes die Übernahme der Kosten eines "Einzelfallpflegehelfers" (Integrationshelfer). Der Antragsgegner holte eine Stellungnahme der Jugendhilfe Süd-Niedersachsen e. V. - Fachstelle Diagnostik - vom 1. Oktober 2009 ein, in der die Diplom Pädagogin/Kinder- und Jugendtherapeutin H. und die Diplom Psychologin/Psychologische Psychotherapeutin I. nach einer Schulhospitation am 16. September 2009 im Wesentlichen ausführten, die Antragstellerin habe während des gesamten Untersuchungszeitraumes konzentriert an ihren Aufgaben gearbeitet. Bei Verständnisschwierigkeiten habe sie sich Hilfe von den Lehrkräften geholt. Sie habe keinerlei Anzeichen von unaufmerksamen und abgelenkten Verhalten gezeigt. Die Klassenlehrerin habe die gemachten Beobachtungen bestätigt. Sie habe angegeben, Antragstellerin arbeite konzentriert und motiviert an ihren Aufgaben. Nur in Deutsch habe sie das Klassenziel nicht erreicht und sie bräuchte jemandem neben sich, den sie noch mal fragen könne, der mit ihr Lesen übe und sie beim Lernen unterstütze. Eine sonderpädagogische Überprüfung wolle sie der Antragstellerin ersparen, weil sie zumindest in Mathematik gut mitkomme. Das Sozialverhalten der Antragstellerin sei unauffällig, sie sei in der Klasse gut integriert und akzeptiert. Im letzten Schuljahr sei sie sogar Klassensprecherin gewesen. Nachdem die Mutter mit diesen Beobachtungen in der Schule konfrontiert worden sei - so die Verfasserinnen des Berichtes weiter - habe sie auch angegeben, dass die Antragstellerin konzentriert arbeite. Sie sei nur zu langsam und liege weit unter dem Klassenniveau. Außerdem habe sie große Probleme beim Lesen und ein Einzelfallhelfer könne mit ihr Lesen üben, was die Lehrer nicht schaffen würden. Zu Hause sei die Situation schon so belastet, dass die Antragstellerin sich weigere, Lesen zu üben. Sodann ist in der Stellungnahme vom 1. Oktober 2009 zur (drohenden) Teilhabegefährdung ausgeführt, die Antragstellerin sei nach Angaben der Mutter und der Lehrerin gut in den Klassenverband integriert. Sie zeichne sich durch eine außerordentliche Hilfsbereitschaft aus und zeige keinerlei Verweigerungstendenzen oder aggressives Verhalten. Zusammenfassend und empfehlend ist in der Stellungnahme schließlich ausgeführt, das cerebrale Anfallsleiden sei medikamentös eingestellt. Zusätzlich liege eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität vor mit entsprechender Einstellung auf Methylphenidat. Die medikamentöse Einstellung sei offensichtlich so gut, dass die Antragstellerin in der Schule konzentriert arbeiten könne. Sie erledige Aufgaben auch in der angemessenen Zeit, nur sei ihr Leistungsniveau niedriger als das einer Sechstklässlerin. Der Wunsch der Mutter nach einem Lernhelfer, damit ihre Tochter bessere Leistungen in der Schule erreichen könne, sei durchaus nachvollziehbar, aber nicht Aufgabe eines Integrationshelfers. Sollte die Antragstellerin den Anforderungen einer Regelschule nicht gewachsen sein, müsse eine sonderpädagogische Überprüfung eingeleitet werden. Die Antragstellerin zeige sich gut integriert in ihr schulisches Umfeld und lebe in einer sie sehr unterstützenden und fördernden Familie. Eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft drohe nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Ein Einzelfallhelfer als Eingliederungsmaßnahme könne daher nicht empfohlen werden.
Der Antragsgegner lehnte daraufhin den Antrag der Antragstellerin auf Übernahme der Kosten eines Schulhelfers mit Bescheid vom 6. November 2009 im Wesentlichen mit der Begründung ab, die Antragstellerin sei nicht im Sinne vom § 53 Abs 1 Satz 1 SGB XII durch eine Behinderung im Sinne des § 2 Abs 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht, sodass sie keinen Anspruch auf die begehrte Leistung der Eingliederungshilfe habe. Dagegen erhob die Antragstellerin unter Vorlage einer Stellungnahme ihrer Klassenlehrerin vom 15. Januar 2010 Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners bestehe für sie nach Ansicht der behandelnden Ärzte, der Lehrer sowie ihrer Eltern sehr wohl ein Integrationsrisiko dahingehend, dass ihre Entwicklung und ihre Eingliederung in die Gesellschaft sowie ihr Heranwachsen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit aller Voraussicht nach nicht unerheblich beeinträchtigt werde.
Am 8. März 2010 hat die Antragsteller bei dem Sozialgericht Hildesheim (SG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Das SG hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 18. März 2010 im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig (unter dem Vorbehalt der Rückforderung) verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 8. März 2010 bis zum Ende des Schuljahres 2009/2010, längstens bis zu einer endgültigen Entscheidung in der Hauptsache, Eingliederungshilfe gemäß § 54 Abs 1 Nr 1 SGB XII durch Übernahme der Kosten für den Einsatz einer Integrationshilfe für wöchentlich bis zu 30 Stunden zum Besuch der Montessori Schule in Göttingen zu gewähren. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, für die Antragstellerin sei ein GdB von 80 anerkannt, sodass sie als behinderter Mensch gemäß § 2 SGB IX einzuordnen und deshalb dem Grunde nach entsprechend §§ 53 ff SGB XII leistungsberechtigt sei. Nach § 54 Abs 1 Nr 1 SGB XII iVm § 12 Nr 1 der Eingliederungshilfe-Verordnung umfassten Eingliederungshilfen auch heilpädagogische sowie sonstige Maßnahmen zugunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet seien, dem behinderten Menschen den Schulbesuch zu ermöglichen oder zu erleichtern. Zu diesen Maßnahmen zähle auch die Gewährung eines Integrationshelfers. Im Rahmen der gebotenen summarischen Prüfung hätten die Stellungnahmen des Kinder- und Jugendpsychiaters F. sowie der Klassenlehrerin der Antragstellerin das Gericht davon überzeugt, dass bei der Antragstellerin gerade aufgrund der Kombination verschiedener Beschwerden und einer komplexen Medikation eine besondere Situation bestehe, welche die Notwendigkeit der Unterstützung durch einen Integrationshelfer begründe. Von Bedeutung sei insbesondere, dass die Antragstellerin überdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten aufweise. Dass sie dennoch erhebliche schulische Schwäche zeige, lege die Vermutung nahe, dass diese auf die bestehenden Behinderungen zurückzuführen seien und nicht auf eine "normale" Lernschwäche. Der Umstand, dass die Antragstellerin in ihrer Klasse Freunde habe und sogar Klassensprecherin geworden sei, spreche zwar womöglich gegen ihren besonderen Förderungsbedarf. Im Hinblick auf die gebotene summarische Prüfung im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes folge das Gericht dennoch den fachärztlichen Empfehlungen des Herrn F. und der Stellungnahme der Schule unter Berücksichtigung des der Antragstellerin zuerkannten GdB von 80. Im Ergebnis habe das Gericht nach einer Folgenabwägung zugunsten der Antragstellerin entschieden.
Der Antragsgegner hat am 19. April 2010 Beschwerde eingelegt, die er im Wesentlichen damit begründet, dass selbst dann, wenn bei der Antragstellerin eine Behinderung vorläge, sich daraus für sie eine wesentliche Beeinträchtigung ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, nicht ergebe. Denn die Antragstellerin sei gut in ihr Umfeld integriert, akzeptiert und zeige ein ungestörtes Sozialverhalten. Im Übrigen sei zu beachten, dass die begehrte Eingliederungshilfe nach § 2 SGB XII gegenüber den von der Schule zu erbringenden pädagogischen Leistungen nachrangig sei. Die Antragstellerin verteidigt den angegriffenen Beschluss, wobei sie umfangreich dazu vorträgt, dass im Rahmen der Eingliederungshilfe auch pädagogische Leistungshilfen zu erbringen seien. Es sei auch nicht Aufgabe der Schule, eine individuelle Einzelbetreuung durch - wie hier - besondere Assistenzkräfte für einzelne behinderte Schüler sicherzustellen. Wie sich aus der Stellungnahme der sie seit dem 10. Mai 2010 wöchentlich 30 Stunden begleitenden Integrationshelferin vom 26. Mai 2010 sowie den Stellungnahmen der Schulleiterin vom 19. Mai und 15. Juni 2010 ergebe, habe sie - die Antragstellerin - aufgrund der Unterstützung der Schulbegleiterin erhebliche Fortschritte in der Schule gemacht, sodass sie wider Erwarten nicht zur Schließung von Lücken ein weiteres Jahr in der jahrgangsgemischten Mittelstufe (Klassen 4 bis 6) verbleiben müsse, sondern der Versuch gewagt werden könne, sie regulär in die jahrgangsgemischte Oberstufe (Klassen 7 bis 10) wechseln zu lassen.
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
Das SG hat den Antragsgegnerin zu Unrecht im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig bis zum Ende des Schuljahres 2009/2010 Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten eines Integrationshelfers für 30 Stunden wöchentlich zum Besuch der Montessori Schule in Göttingen zu gewähren.
Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs 2 ZPO). Ein Anordnungsanspruch ist dann gegeben, wenn der geltend gemachte Hauptsacheanspruch der Antragstellerin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zusteht, wenn also eine Vorausbeurteilung der Hauptsacheklage nach summarischer Prüfung ergibt, dass ein Obsiegen der Antragstellerin in der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich ist (vgl Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 1. Aufl 2005, Rdnrn 293 mwN).
Davon ausgehend hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch in Gestalt eines Anspruchs gegen den Antragsgegner auf Übernahme der Kosten eines Integrationshelfers/einer Integrationshelferin für die Teilnahme am Unterricht der Montessori Schule in Göttingen gemäß § 53 Abs 1 Satz 1 iVm § 54 Abs 1 Nr 1 SGB XII und § 12 Nr 1 Eingliederungshilfeverordnung nicht glaubhaft gemacht. Es ist nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand unwahrscheinlich, dass sie im streitigen Zeitraum (18. März 2010 bis 23 Juni 2010) zu dem von § 53 Abs 1 Satz 1 SGB XII iVm § 2 Abs 1 Satz 1 SGB IX genannten Personenkreis, der Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe hat, gehörte (und gehört).
Gemäß § 53 Abs 1 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe. Die Antragstellerin ist aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen zwar im Sinne von § 2 Abs 1 Satz 1 SGB IX behindert. Sie ist dadurch jedoch nicht - wie § 53 Abs 1 Satz 1 SGB XII weiter fordert - wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht. Bei dem Begriff der "wesentlichen Behinderung" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff (vgl speziell hierzu: Heinz, Der unbestimmte Rechtsbegriff im Sozialrecht, seine Auslegung am Beispiel des Begriffs der "wesentlichen Behinderung", ZfF 2010, 79). Wesentlich ist eine Behinderung dann, wenn sie die Gefahr in sich birgt, dass der behinderte Mensch durch sie aus der Gesellschaft ausgegliedert wird oder durch sie bereits ausgegliedert ist (W. Schellhorn in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 17. Aufl. 2006, § 53 Rn 20). Näher konkretisiert ist der Begriff der wesentlichen Behinderung durch die §§ 1 bis 3 der nach § 60 SGB XII erlassenen Eingliederungshilfeverordnung. Hier sind nur die in §§ 1 und 2 der Eingliederungshilfeverordnung enthaltenen Konkretisierungen körperlich und geistig wesentlich behinderter Menschen relevant, weil eine bei der 13jährigen Antragstellerin eventuell nach der Konkretisierung des § 3 der Eingliederungshilfeverordnung bestehende seelische wesentliche Behinderung nicht einen Anspruch nach dem SGB XII, sondern einen - in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit fallenden - Eingliederungshilfeanspruch gemäß § 35a SGB VIII begründen würde.
Die durch körperliche Gebrechen wesentlich in ihrer Teilhabefähigkeit im Sinne von § 53 Abs 1 Satz 1 SGB XII eingeschränkten Personen sind - wenn wohl auch nicht abschließend - in § 1 der Eingliederungshilfeverordnung aufgezählt. Weder fällt die Antragstellerin unter diesen Personenkreis mit seinen im Einzelnen aufgezählten körperlichen Gesundheitsstörungen, noch ist sie vergleichbar (schwer) körperlich in ihrer Gesundheit beeinträchtigt. Ihr cerebrales Anfallsleiden ist medikamentös kompensiert. Das gleiche gilt für die in letzter Zeit seltener gewordene (so der Arztbrief der behandelnden Ärzte des Klinikums J. vom 12. November 2009) Migräne.
Geistig wesentlich behindert im Sinne des § 53 Abs 1 Satz 1 SGB XII sind gemäß § 2 der Eingliederungshilfeverordnung Personen, die infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfang in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt sind. Darunter fallen in erster Linie Personen mit gemindertem Intelligenzgrad. Hierzu gehört die Antragstellerin jedoch nicht. Sie ist - jedenfalls nach dem Ergebnis der entsprechenden Testung vom 8. Februar 2008 - mit einem IQ von 98 durchschnittlich intelligent.
Ob die von dem behandelnden HNO-Arzt Dr. K. unter dem 5. Juni 2008 mitgeteilte Diagnose "auditive Wahrnehmungsstörung" tatsächlich noch zutrifft, ist durchaus zweifelhaft, weil der Bericht des Landesbildungszentrums für Hörgeschädigte vom 19. Mai 2008 nach eingehender Untersuchung der Antragstellerin (auch ihres Sprachverständnisses und ihrer nunmehr als gut bewerteten Fähigkeit, Sprache mit Störgeräusch wahrzunehmen) zu dem Ergebnis gekommen ist, dass das periphere und das zentrale Hörvermögen nunmehr völlig unauffällig sei (woraufhin der sonderpädagogische Förderbedarf von der Landesschulbehörde unter dem 26. Juni 2008 für beendet erklärt worden ist). Dass die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Antragstellerin - insbesondere die zweifelhafte Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung sowie die einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ohne Hyperaktivität) außerhalb des schulischen Lern-Kontextes zu einer wesentlichen Störung oder Gefährdung ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft führt, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Nach Angaben des Kinder- und Jugendtherapeuten F. ist die Antragstellerin ein freundliches, offenes und eher ruhiges Mädchen. Aus dem Bericht der Diplom-Pädagogin H. und der Diplom-Psychologin I. der Jugendhilfe Süd-Niedersachsen vom 1. Oktober 2009 über ihre Unterrichtsbesichtigung am 16. September 2009 ergibt sich, dass die Antragstellerin - wie schon während ihrer Grundschulzeit - gut in die Klasse integriert und akzeptiert ist. Während ihres ersten Schuljahres auf der Montessori Schule war sie Klassensprecherin. Ihr Sozialverhalten ist unauffällig. Sie zeichnet sich durch eine außerordentliche Hilfebereitschaft aus. Dies haben auch die Klassenlehrerin und die Mutter der Antragstellerin bestätigt. Selbst bezogen auf den schulischen (Lern-) Kontext ist nicht glaubhaft gemacht, dass die Antragstellerin hier durch eine auditive Wahrnehmungsstörung oder eine Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung wesentlich in ihrer Teilhabefähigkeit gestört oder gefährdet ist. Zwar hat der behandelnde Kinder- und Jugendpsychologe F. in seinem Arztbrief vom 27. Mai 2009 insbesondere Defizite in der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistung mit deutlichen Vigilanzschwankungen im schulischen Kontext angegeben. Dabei hat er aber offenbar die Beschreibung der Mutter der Antragstellerin (mit) zugrunde gelegt. Denn dass seinen Angaben eine eigene Beobachtung der Antragstellerin in der Schule zugrunde liegen, hat er nicht angegeben und ist auch nicht anzunehmen. Dem gegenüber beruhen die Angaben der Fachkräfte der Jugendhilfe in ihrem Bericht vom 1. Oktober 2009, die Antragstellerin habe keinerlei Anzeichen von unaufmerksamen oder abgelenkten Verhalten gezeigt (sondern durchgängig konzentriert und motiviert mitgearbeitet), auf eigenen Beobachtungen im schulischen Kontext, die zudem von der Klassenlehrerin und der Mutter der Antragstellerin bestätigt worden sind. Der Senat misst ihnen daher ausschlaggebendes Gewicht bei, zumal sich auch aus der Stellungnahme der Klassenlehrerin vom 15. Januar 2010 ein bei der Antragstellerin bestehendes generelles Auffassungs- und Konzentrationsdefizit nicht entnehmen lässt. In dieser Stellungnahme wird der Schwerpunkt vielmehr auf die schwache Leseleistung der Antragstellerin und die sich daraus für sie ergebenden Folgeprobleme gelegt. Die Antragstellerin sei in Deutsch inzwischen weit zurückgefallen. Wegen ihrer großen Probleme beim Lesen traue sie sich nicht, vor den Mitschülern etwas vorzulesen. Dadurch fehle ihr überwiegend die Grundlage, sich in Gesprächsrunden bzw gebundenem Unterricht zu beteiligen. Sie schaffe es nicht, sich ihrer Problematik zu stellen, sondern verstecke sich damit. Ihre gern gewählte Form der Partnerschaft beschränke sie auf zwei feste Partnerinnen. Dies nehme ihr auch die Chance, neue bzw weitere Kontakte zu knüpfen. Die Antragstellerin selbst habe kein Bewusstsein für ihre Probleme und leide darunter, sodass sie sich immer häufiger verstelle. Sie passe auf, dass sie den Schein wahren könne und nicht "ertappt" werde.
Es geht hier im Kern darum, dass bei der Antragstellerin (wie ihr schon die Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. E. im Sommer 2007 bescheinigt hat sowie vom später behandelnden Kinder- und Jugendpsychiater F. im März und Dezember 2008 und schließlich auch durch die Klassenlehrerin bestätigt worden ist) eine ihre schulischen Leistungen stark schmälernde Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie im Sinne von ICD F 81.0) besteht. Diese ist - wie auch die eventuelle Rechenschwäche der Antragstellerin - dem Bereich geistiger Leistungsstörungen zuzuordnen. Es handelt sich um ein - bei sonst normaler Intelligenz - partielles geistiges Defizit (geistige Teilleistungsstörungen), das - wie hier - in aller Regel nicht zu einer erheblichen Einschränkung der Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Sinne von § 2 Eingliederungshilfeverordnung führt (vgl BVerwG, Urteil vom 28. September 1995 - 5 C 21/93 -, FEVS 46, 360; W. Schellhorn, aaO., § 2 Eingliederungshilfeverordnung Rdnr 4). Dass bei einer Person ein erfolgreicher Schulabschluss gefährdet ist mit der Folge, dass sie keinen ihren sonstigen Fähigkeiten entsprechenden, angemessen Platz im Arbeitsleben finden kann, reicht nicht aus, um eine Legasthenie als wesentlich geistige Behinderung im Sinne von § 53 Abs 1 Satz 1 SGB XII iVm § 2 Eingliederungshilfeverordnung bewerten zu können (vgl BVerwG, ebenda).
Schließlich dürfte einem Anspruch der Antragstellerin auf die begehrte Eingliederungshilfe auch der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe gemäß § 2 Abs 1 SGB XII entgegenstehen. Denn die aufgrund ihrer Legasthenie gebotene Förderung der Antragstellerin ist Aufgabe der Schule (vgl auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. April 1999 - 24 A 118/96 -, FEVS 51, 120). Die in Niedersachsen durchzuführenden Fördermaßnahmen sind im Erlass zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen (RdErl. d. MK vom 14. Oktober 2005, SVBl 2005, 560) im Einzelnen geregelt. Wenn sich auch aus der Stellungnahme der Klassenlehrerin vom 15. Januar 2010 ergibt, dass die Antragstellerin in der Montessori Schule individuell gefördert wird und eine permanente Binnendifferenzierung stattfindet, so ist damit doch nur die im vorgenannten Erlass unter 3.1 vorgesehene allgemeine Förderung beschrieben, die offenbar nicht ausreicht. Dass die in einem solchen Fall von dem Erlass unter 3.2 vorgesehenen besonderen Fördermaßnahmen und die unter 4.1 des Erlasses angesprochenen Hilfen im Sinne eines Nachteilsausgleichs sowie die weiterhin bestehende Möglichkeit einer Abweichung von den Maßstäben der Leistungsbewertung ausgeschöpft sind, vermag der Senat allerdings nicht zu erkennen. Weiterhin wäre auch eine sonderpädagogische Förderung der Antragstellerin nach dem RdErl. d. MK vom 2. Mai 2005 (SVBl. 2005, 49), die auch an der Montessori Schule stattfinden kann, vorrangig.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Gerichtskosten werden in Sozialhilfeverfahren der vorliegenden Art nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.