Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 02.10.2003, Az.: 14 U 29/03

Höhe eines Schmerzensgeldanspruchs; Kriterien für die Bestimmung eines angemessenen Schmerzensgeldanspruchs; Berücksichtigung einer Gesundheitsschädigung unter dem Gesichtspunkt des sog. Schockschadens; Möglichkeit der Aufspaltung des Entschädigungsbetrags in einen Kapitalbetrag und eine monatliche Rente

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
02.10.2003
Aktenzeichen
14 U 29/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 33693
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2003:1002.14U29.03.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Stade - 22.01.2003 - AZ: 5 O 190/00

In dem Rechtsstreit ...
hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung
vom 9. September 2003
unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht ...,
des Richters am Oberlandesgericht ... und
der Richterin am Landgericht ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Stade vom 22. Januar 2003 teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin

  1. 1.

    25.513,51 EUR (= 49.900,08 DM) nebst 4 % Zinsen auf 22.091,75 EUR (= 43.207,70 DM) seit dem 30. Mai 2000 und 5 %-Punkte über dem Basiszinssatz auf 3.421,76 EUR (= 6.692,38 DM) seit dem 11. Mai 2001,

  2. 2.

    ein Schmerzensgeld in Höhe von 35.790,43 EUR (= 70.000 DM) nebst 6 % Zinsen auf 51.129,19 EUR (= 100.000 DM) seit dem 26. Mai 1999 bis zum 19. Januar 2000, auf 38.346,89 EUR (= 75.000 DM) seit dem 20. Januar 2000 bis zum 12. Juni 2000 und auf 35.790,43 EUR (= 70.000 DM) seit dem 13. Juni 2000,

  3. 3.

    eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 127,82 EUR (= 250 DM) seit dem 29. Mai 2000, und zwar in vierteljährlichen Beträgen im Voraus jeweils zum 1. Februar, 1. Mai, 1. August und 1. November eines jeden Jahres

    zu zahlen.

    Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagten als Gesamtschuldner. Die Kosten des Verfahrens erster Instanz tragen die Klägerin zu 17 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 83 %.

    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

    Wert der Beschwer für die Beklagten: 43.459,81 EUR (= 85.000 DM).

Gründe

1

I.

Zum Sachverhalt wird zunächst auf das Urteil des Landgerichts Stade vom 22. Januar 2003 (Bl. 238 ff. d. A.) verwiesen.

2

Mit der Berufung wendet sich die Klägerin gegen die Abweisung eines weiteren Schmerzensgeldes in Höhe von 70.000 DM (35.790,43 EUR) und einer monatlichen Schmerzensgeldrente in Höhe von 250 DM (127,82 EUR). Das Landgericht habe verfahrensfehlerhaft bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht sämtliche Verletzungsfolgen einbezogen. Rechtsfehlerhaft habe es die Voraussetzungen für eine Schmerzensgeldrente verneint.

3

Die Klägerin beantragt,

unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils des Landgerichts die Beklagten zu 1 und 2 als Gesamtschuldner zu verurteilen,

  1. a)

    an sie ein über den gezahlten Betrag von 100.000 DM = 51.129,19 EUR hinausgehendes weiteres angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, mindestens in Höhe von weiteren 70.000 DM = 35.790,43 EUR nebst 6 % Zinsen auf 100.000 DM = 51.129,19 EUR seit dem 26. Mai 1999 bis zum 19. Januar 2000, auf 75.000 DM = 38.346,89 EUR für den Zeitraum vom 20. Januar 2000 bis zum 12. Juni 2000 und auf den weiter auszuurteilenden angemessenen Schmerzensgeldbetrag seit dem 13. Juni 2000,

  2. b)

    an die Klägerin eine monatliche Schmerzensgeldrente in angemessener Höhe, mindestens jedoch in Höhe von 250 DM = 127,82 EUR seit Rechtshängigkeit, und zwar in vierteljährlichen Beträgen im Voraus jeweils zum 1. Februar, 1. Mai, 1. August und 1. November eines jeden Jahres zu zahlen.

4

Die Beklagten beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

5

Sie verteidigen das erstinstanzliche Urteil.

6

II.

Die Berufung ist begründet.

7

1.

Das Landgericht hat ermessensfehlerhaft weitere Schmerzensgeldansprüche der Klägerin aus § 847 BGB abgewiesen. Der bereits gezahlte Betrag in Höhe von 100.000 DM steht in keinem angemessenen Verhältnis zur Art und Dauer der erlittenen Schäden. Der Senat hält sowohl ein weiteres Schmerzensgeldkapital in Höhe von 70.000 DM sowie eine monatliche Rente in Höhe von 250 DM für gerechtfertigt. Kapitalisiert entspricht die Rente einem Betrag in Höhe von 47.700 DM. Die Klägerin verlangt die Schmerzensgeldrente ab Rechtshängigkeit, die mit Zustellung der Klage am 29. Mai 2000 eingetreten ist. Nach der Kapitalisierungstabelle (abgedruckt in Geigel, Der Haftpflichtprozess, 23. Aufl., Anhang I) ergibt sich für die im Jahre 2000 47-jährige Klägerin ein Kapitalisierungsfaktor von 15,907. Danach errechnet sich ein Barwert von 47.700 DM (250 x 12 x 15,9). Addiert man diesen Betrag mit dem bereits gezahlten Schmerzensgeld von 100.000 DM und dem noch zu zahlenden Kapital von 70.000 DM, errechnet sich ein Gesamtbetrag in Höhe von 217.000 DM (110.950,34 EUR). Diese Summe ist in Anbetracht der tragischen Folgen des Verkehrsunfalls angemessen (a); entgegen der Ansicht des Landgerichts kann die Klägerin auch eine Schmerzensgeldrente verlangen (b).

8

a)

Das Landgericht hat bei seiner Entscheidung folgende Gesichtspunkte nicht bzw. nicht hinreichend berücksichtigt:

9

aa)

Zunächst handelte es sich um einen besonders schwer wiegenden Unfall: Der Pkw, in dem sich die damals 44-jährige Klägerin mit ihrem Ehemann und den beiden 12- und 14-jährigen Kindern befand, wurde unter der heruntergekippten Ladung eines Lkw-Hängers - Beton und Findlinge - förmlich begraben. Ihre Familie und sie wurden ohne jedes Verschulden Opfer des Unfalls, den der Beklagte zu 1 durch Auffahren auf ein haltendes Fahrzeug schuldhaft ausgelöst hatte. Sie wurde durch ihre eigenen lebensgefährlichen Verletzungen sowie den Verlust des Ehemanns und der Kinder aus der Mitte des Lebens herausgerissen und wird seitdem aufgrund der gravierenden Folgen tagtäglich an den Unfall erinnert.

10

bb)

Das Landgericht misst den unstreitigen lebensgefährlichen Verletzungen verbunden mit zahlreichen Krankenhausaufenthalten und ärztlichen Eingriffen nicht den erforderlichen Stellenwert bei. Zu den Verletzungen im Einzelnen wird auf Bl. 3 und 4 des landgerichtlichen Urteils (Bl. 240 f.) verwiesen. Als Dauerfolgen sind zahlreiche Narben - auch im Gesicht -, chronische Schmerzen in der linken Schulter, dem linken Arm, der linken Hand und dem linken Fuß, Bewegungseinschränkungen des linken Sprunggelenks und des rechten Handgelenks, eine posttraumatische Belastungsstörung, die zwischenzeitlich zu einer andauernden Persönlichkeitsänderung geführt hat, chronische Schlafstörungen und Kopfschmerzen sowie Depressionen hervorzuheben. Aufgrund dieser körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen ist die Klägerin für ihr Leben gezeichnet. Sie hat im wahrsten Sinne des Wortes von Kopf bis Fuß Schmerzen. Unabhängig von der streitigen Frage des Vorhandenseins einer substanziellen Hirnschädigung ist die Klägerin seelisch schwer beeinträchtigt. So heißt es im Gutachten von Dr. H1 vom 15. Januar 2002 (Bl. 12 f.), sie leide unter ständig wiederkehrenden Gedanken an das Unfallereignis und werde geradezu von Leid und Trauer überflutet. Der Gedanke, dass gerade sie überleben musste, löse Schuldgefühle aus. Sie habe das Geschehen bis heute nicht ausreichend verarbeitet und sei weder zu einer kontinuierlichen psychotherapeutischen Behandlung, noch zu einer begleitenden medikamentösen Therapie in der Lage. Körperlich und seelisch kann die Klägerin danach kein auch nur ansatzweise in privater oder beruflicher Hinsicht erfülltes Leben mehr führen.

11

cc)

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes hat das Landgericht zudem außer Acht gelassen, dass bei der Klägerin unabhängig von den unmittelbaren Unfallfolgen auch eine Gesundheitsschädigung unter dem Gesichtspunkt des sog. Schockschadens vorliegt, den sie durch den Tod ihres Ehemanns und ihrer beiden Kinder erlitten hat. Der Tod naher Angehöriger rechtfertigt einen Schmerzensgeldanspruch wegen Körperverletzung, wenn es infolge des Verlusts zu gewichtigen psycho-pathologischen Ausfällen von einiger Dauer kommt, die eine normale Trauerreaktion, d. h. die auch sonst nicht leichten Nachteile eines schmerzlich empfundenen Trauerfalls für das gesundheitliche Allgemeinbefinden, erheblich übersteigen und deshalb auch nach der allgemeinen Verkehrsauffassung als Verletzung des Körpers oder der Gesundheit betrachtet werden (BGH NJW 1989, S. 2317 f.). Aufgrund der o. g. Ausführungen des Sachverständigen Dr. H2 steht fest, dass die psychischen Beeinträchtigungen der Klägerin durch den Tod der Angehörigen einen echten Krankheitswert in diesem Sinne haben.

12

dd)

Entgegen der Auffassung des Landgerichts sind die Entscheidungen aus der Schmerzensgeldtabelle Hacks/Ring/Böhm, 19. Aufl., zu Nr. 2164 (OLG Bremen vom 24. August 1988: 100.000 DM für ein schweres Schädelhirntrauma mit Hirnquetschung, stumpfes Bauchtrauma, Schlüsselbeinbruch und Brustkorbquetschung), Nr. 2167 (OLG Koblenz vom 24. Februar 1986: 100.000 DM für ein schweres Schädelhirntrauma, Thoraxtrauma, Rippenserienfraktur, Bauchtrauma, Hüftluxationsfraktur, Absprengungen am Kniescheibenrand, Nebenhodenentzündung als Folge eines Blasenkatheters) und Nr. 2176 (KG Berlin vom 2. Juni 1983: 100.000 DM für offene Schädelfrakturen und Hirnverletzungen, Mittelhandknochenbrüche, offene Frakturen der Unterschenkel) auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.

13

Zunächst liegen die Entscheidungen 15 bis 20 Jahre zurück. Da bei der Höhe des Schmerzensgeldes im Hinblick auf dessen Ausgleichsfunktion auch die Entwicklung der allgemeinen Lebenshaltungskosten bedacht werden muss, können sie keine Obergrenze sein. Die Entscheidung des Kammergerichts passt zudem deshalb nicht, weil den Kläger dort ein 50 %iges Mitverschulden traf. Schließlich ist es in keinem der genannten Fälle zu dem Verlust dreier naher Angehöriger gekommen.

14

Ein Schmerzensgeld in einer Größenordnung von 217.000 DM (unter Berücksichtigung der kapitalisierten Rente) bewegt sich auch nicht außerhalb des Rahmens der Vergleichsrechtsprechung. Gegenstand der Entscheidungen, in denen nach der Schmerzensgeldtabelle von Hacks/Ring/Böhm, 21. Aufl., Schmerzensgelder von 200.000 DM zugesprochen wurden (Nr. 2775 ff.), waren zwar zumeist noch schwer wiegendere Verletzungen und Dauerfolgen als sie bei der Klägerin vorhanden sind. Auch hier ist jedoch zu bedenken, dass die Klägerin darüber hinaus Ehemann und Kinder verloren hat, weshalb in der Zusammenschau ein Schmerzensgeld in der Größenordnung von 200.000 DM allemal angemessen ist.

15

b)

Anders als das Landgericht meint, ist es gerechtfertigt, den Entschädigungsbetrag in einen Kapitalbetrag und eine monatliche Rente aufzuspalten. In der Regel ist zwar ausschließlich ein Kapitalbetrag geschuldet. Etwas anderes gilt aber bei einer lebenslänglichen Beeinträchtigung des Geschädigten, die sich immer wieder erneuert und immer wieder schmerzlich empfunden wird (BGH, VersR 1976, S. 967 ff.). Dies ist hier der Fall. Wie bereits ausgeführt, leidet die Klägerin unter chronischen Kopfschmerzen, Schmerzen in der linken Schulter, im linken Arm sowie am linken Fuß. Sie hat ferner Schlafstörungen und schwere Depressionen. Die Ansicht des Landgerichts, nur (für jeden erkennbare) schwer wiegende Verletzungen wie eine Querschnittslähmung rechtfertigten eine Schmerzensgeldrente, trifft nicht zu, weil chronische Beeinträchtigungen wie die der Klägerin in gleicher Weise belasten können wie eine Lähmung oder der Verlust von Gliedmaßen.

16

2.

Zinsen auf die zugesprochenen Beträge stehen der Klägerin aus §§ 286, 288, 291 BGB in der bis zum 31. Dezember 2001 gültigen Fassung zu.

17

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO (Kosten erster Instanz), §§ 91 Abs. 1, 516 Abs. 3 ZPO (Kosten zweiter Instanz).

18

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Ziffer 10, 711 ZPO.

19

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 543 ZPO).