Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 03.03.2011, Az.: 10 A 6277/09
Umbenennung der in Hannover gelegenen Lettow-Vorbeck-Allee in Namibia-Allee
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 03.03.2011
- Aktenzeichen
- 10 A 6277/09
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 42066
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGHANNO:2011:0303.10A6277.09.0A
Rechtsgrundlagen
- Art. 28 Abs. 2 GG
- Art. 57 Abs. 1 Nds. Verf.
- Art. 57 Abs. 3 Nds. Verf.
- § 1 NGO
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Kläger wenden sich gegen die Umbenennung der in Hannover-(A) gelegenen Lettow-Vorbeck-Allee in Namibia-Allee.
Die Kläger wohnen im Haus Lettow-Vorbeck-Allee (B) in Hannover-(A). Die Straße ist seit dem Jahr 1937 nach Paul von Lettow-Vorbeck benannt, wobei der Verlauf der Straße seitdem mehrfach verändert wurde. Davon war das klägerische Grundstück indes nicht betroffen.
Paul von Lettow-Vorbeck (1870 bis 1964) entstammte einer kleinadeligen Familie aus Pommern, deren Söhne regelmäßig die Offizierslaufbahn einschlugen. Lettow-Vorbecks militärische Karriere entspann sich in den Jahren zwischen 1900 und dem Ende des Ersten Weltkriegs in erster Linie im Ausland; er ließ sich zum Expeditionskorps nach China abkommandieren und diente im Stab Generalfeldmarschalls von Waldersee, dann als Adjutant von Generalleutnant von Trotha, unter dessen Führung im damaligen Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) der Aufstand der Herero und Nama niedergeschlagen wurde. Nach einigen Jahren Dienst in Deutschland wurde Lettow-Vorbeck im Jahr 1913 Kommandeur der deutschen Schutztruppen in Deutsch-Ostafrika. Der Kriegsverlauf begründete seinen Ruhm als taktischer Meister des Buschkriegs und als einziger "im Felde unbesiegter" General des deutschen Heeres. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1919 als Held gefeiert nahm seine militärische Karriere aufgrund seiner Beteiligung am Kapp-Lüttwitz-Putsch im Jahr 1920 ein Ende. Seiner Popularität als Vertreter des deutschen Kolonialismus und als Kriegsheld tat dies bis über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus ebenso wenig Abbruch wie der Umstand, dass er sich in der NS-Zeit als Stimme des Kolonialismus instrumentalisieren ließ.
Die Initiative zur Umbenennung der Lettow-Vorbeck-Allee ging vom zuständigen Stadtbezirksrat der Beklagten aus, der das Umbenennungsverfahren durch Beschluss vom 27.09.2007 mit einem Prüfauftrag einleitete. Zur Frage, ob eine Umbenennung nach Ziff. 3.3 der "Grundsätze und Verfahren für die Benennung von Straßen, Wegen und Plätzen" der Beklagten gerechtfertigt sei, weil die Benennung der Straße nach Paul von Lettow-Vorbeck im Nachhinein Bedenken im Hinblick auf seine Wertvorstellungen und Ziele auslöse und ihm darüber hinaus schwerwiegende persönliche Handlungen vorzuwerfen seien, erstellte Prof. em. Dr. Bley, ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Afrikanische Geschichte an der Leibniz-Universität Hannover, unter dem 20.02.2008 ein Gutachten. In diesem bejahte Prof. Dr. Bley die Voraussetzungen für die Umbenennung. Zur Begründung stützte sich Prof. Dr. Bley auf die Beteiligung Lettow-Vorbecks an der Niederschlagung des Herero-Aufstandes im damaligen Deutsch-Südwestafrika im Jahr 1904, an der Kriegsführung als Kommandeur beim Ostafrika-Feldzug während des Ersten Weltkrieges, auf seine Mitwirkung bei der Niederschlagung des sog. Spartakusaufstandes in Hamburg im Jahr 1919 sowie auf seine Beteiligung am Kapp-Lüttwitz-Putsch im Jahre 1920.
Das Gutachten veröffentlichte die Beklagte am 03.06.2009 im Internet und informierte hiervon die Anlieger der Lettow-Vorbeck-Allee mit Schreiben vom 04.06.2009. Auf dieses Schreiben, das auch eine Reihe von Benennungsvorschlägen enthielt, sprach sich eine Mehrheit der Anwohner der Lettow-Vorbeck-Allee gegen die Umbenennung aus, wobei wiederum die überwiegende Zahl der Anwohner für den Fall, dass eine Umbenennung unbedingt erforderlich sei, für den Namen Namibia-Allee stimmte.
Am 22.10.2009 fasste der Rat der Beklagten den Beschluss, die Lettow-Vorbeck-Allee in Namibia-Allee umzubenennen (Drucksache Nr. 1591/2009, Blatt 379 in der Fassung gem. Drucksache Nr. 1995/2009, Blatt 521). Den Anwohnern einschließlich der Kläger wurde die Entscheidung zur Umbenennung in Namibia-Allee durch Schreiben vom 27.11.2009 und durch Veröffentlichung in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung sowie der Neuen Presse am 30.11.2009 bekannt gemacht.
Zur Begründung des Umbenennungsbeschlusses verwies die Beklagte in dem Schreiben vom 27.11.2009 zum einen auf neueste historische Untersuchungen, die belegten, dass Paul von Lettow-Vorbeck als Kommandeur beim Ostafrika-Feldzug (1914 bis 1918) für eine grausame und menschenverachtende Kriegsführung verantwortlich gewesen sei. Er habe eine Kriegsführung der verbrannten Erde befürwortet und das Land mit einer relativ geringen Anzahl Soldaten und einer großen, zwangsrekrutierten Schar von Trägern geplündert, um dem Gegner ohne Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung die Nahrungsbasis zu entziehen. Nach Schätzung von Zeitzeugen seien in Ostafrika etwa 300.000 Zivilisten ums Leben gekommen. Von den zwangsrekrutierten Trägern hätten schätzungsweise 120.000 den Tod gefunden. Flüchtige Träger seien brutal verfolgt, Kranke auf Märschen liegen gelassen worden. Zum anderen gab die Beklagte an, Lettow-Vorbeck habe aktiv am Kapp-Lüttwitz-Putsch, einem im Jahr 1920 versuchten Staatsstreich, teilgenommen und sich dort ebenfalls für übermäßige Gewaltanwendung verantwortlich gezeigt. Eine Verurteilung wegen Hochverrats sei wohl nur deshalb unterblieben, weil er nicht als Initiator des Putsches angesehen und ein Amnestiegesetz erlassen worden sei. Schließlich führte die Beklagte aus, Lettow-Vorbeck habe die Vernichtungspolitik seines Vorgesetzten, Generalleutnant Lothar von Trotha, gegenüber den in Deutsch-Südwestafrika ansässigen Herero und Nama unterstützt und noch in seinen Memoiren diese Politik bejaht. Das Gutachten von Prof. Dr. Bley machte die Beklagte zum Inhalt ihres Schreibens.
Nach heutigem Kenntnisstand, so die Schlussfolgerung der Beklagten, sei eine Namensgebung nach Paul von Lettow-Vorbeck mit den demokratischen Grundwerten und den Menschenrechten unvereinbar, so dass sie sich durch Umbenennung der Lettow-Vorbeck-Allee von dessen Ideen und Handlungen distanziere. Es sei ein legitimes Interesse von Gemeinden, bei der Straßenbenennung den Eindruck vermeiden zu wollen, die Gemeinde identifiziere sich mit einer Persönlichkeit, die nach heutigen Wertvorstellungen fragwürdig sei. Dabei komme es nicht auf die Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit an, vielmehr reichten einzelne Taten aus, die den heutigen Wertvorstellungen entgegenstünden. Die in den Grundsätzen für die Benennung von Straßen, Wegen und Plätzen formulierten Voraussetzungen seien hier gegeben.
Die mit der Umbenennung der Straße einhergehende Kostenlast für die Anwohner werde, so die Beklagte abschließend, durch eine gebührenfreie Änderung von Pässen, Ausweisen und Zulassungsbescheinigungen innerhalb eines Übergangsjahres vermindert; auch werde sie ihre Dienststellen und Behörden von der Umbenennung informieren. Um die Kosten für private Mitteilungen zu vermindern, werde sie unfrankierte Postkarten bereit stellen, die eine Mitteilung von der neuen Straßenbenennung enthielten.
Die Kläger haben am 21.12.2009 Klage erhoben. Sie tragen im Wesentlichen vor, das Gutachten von Prof. Bley sei keine taugliche Entscheidungsgrundlage, weil es unsauber und tendenziös sei; es berücksichtige weder die Herkunft Lettow-Vorbecks noch werde es seiner Rolle im Kontext der Zeitgeschichte gerecht. Aus Rechtsgründen sei ihm nichts vorzuwerfen. Insbesondere zum Ostafrika-Feldzug kritisieren die Kläger das Gutachten als einseitig. Lettow-Vorbeck habe die einheimischen Afrikaner geschätzt. Auch seien die Verluste unter den Einheimischen auf Seiten der alliierten Truppen sehr viel höher als auf deutscher Seite gewesen und es sei hier wie dort zu Zwangsrekrutierungen, Vergewaltigungen und Leichenfleddereien gekommen. Lettow-Vorbeck habe sich während der Afrika-Feldzüge nicht anders verhalten als alle anderen soldatischen Führer seit der Kolonisierung von Teilen Afrikas durch Truppen des Deutschen Reiches. Ihm könne weder vorgeworfen werden, er habe gegen Befehle des vorgesetzten Gouverneurs Schnee verstoßen, noch befohlen zu haben, Menschen aufhängen und Dörfer verbrennen zu lassen. Soweit das passiert sei, sei es Lettow-Vorbeck mangels entsprechenden Befehls nicht zuzurechnen. Hinsichtlich der Beteiligung Lettow-Vorbecks am Kapp-Lüttwitz-Putsch habe der Gutachter der Beklagten die Memoiren Lettow-Vorbecks nicht beachtet, aus denen hervorgehe, dass dieser davon ausgegangen sei, Lüttwitz sei Reichsminister und könne ihm befehlen, was sich erst im nachhinein als falsch herausgestellt habe. Schließlich sei Lettow-Vorbeck nichts vorzuwerfen, weil er sich nur Befehlen gebeugt habe.
Die Kläger legen zur weiteren Begründung ein in ihrem Auftrag erstelltes Gutachten des Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichts a.D. Dr. (C) vor, der zu dem Schluss kommt, dass die Voraussetzungen von Ziffer 3.3 der Grundsätze der Beklagten in der Person Paul von Lettow-Vorbecks nicht vorlägen.
Die Kläger führen weiter aus, eine Umbenennung komme darüber hinaus schon deshalb nicht in Betracht, weil die Beklagte in der Vergangenheit etliche Möglichkeiten zur Umbenennung habe verstreichen lassen. Die Lettow-Vorbeck-Allee sei als hannoverscher Straßenname ein fester Begriff. Eine Umbenennung sei für die Anwohner unzumutbar, weil es über lange Zeit zu Unklarheiten und Benachteiligungen bei der Zustellung von Post und der Führung amtlicher Akten komme. Die Kosten für die Anwohner seien erheblich und stünden in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem Interesse der Beklagten an der Umbenennung. Im Übrigen gebe es Straßen in Hannover - wie etwa die Walderseestraße oder den Tronjeweg, den Hanebuth-Winkel oder Steuerndieb -, deren Umbenennung näher läge.
Die Kläger beantragen,
den Bescheid der Beklagten vom 27.11.2009 aufzuheben und es bei der Benennung der bisherigen Straße Lettow-Vorbeck-Allee, Hannover-(A), zu belassen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
und erwidert, eine Umbenennungsentscheidung sei anlassbezogen und müsse nicht zwingend zu einem möglichst frühen Zeitpunkt getroffen werden. Im Übrigen wiederholt die Beklagte im Wesentlichen Erkenntnisse aus dem in Auftrag gegebenen Gutachten von Prof. Dr. Bley sowie aus einer im September 2008 erschienenen Biografie des Historikers Eckard Michels über Paul von Lettow-Vorbeck.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren. Die Kammer hat außerdem folgende Veröffentlichungen zu Paul von Lettow-Vorbeck zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht:
- General von Lettow-Vorbeck, Mein Leben, Biberach/Riß, 1957.
- Michels, Eckard, "Der Held von Deutsch-Ostafrika": Paul von Lettow-Vorbeck - Ein preußischer Kolonialoffizier, Paderborn, 2008.
- Schulte-Varendorff, Uwe, Kolonialheld für Kaiser und Führer - General Lettow-Vorbeck, Berlin 2006.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Die Anfechtungsklage ist hier die statthafte Klageart. Die Straßenumbenennung ist ein adressatloser dinglicher Verwaltungsakt in der Gestalt einer Allgemeinverfügung (Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, 2010, § 35 Rz. 245.1, m.w.N.). Der angefochtene Beschluss des Rates der Beklagten vom 22.10.2009 enthält die erforderliche Regelung mit Außenwirkung und ist damit Gegenstand der erhobenen Anfechtungsklage. Eines besonderen Vollziehungsakts bedarf es nicht. Die für das Wirksamwerden erforderliche Bekanntgabe nach § 1 Nds. VwVfG i.V.m. § 43 Abs. 1 VwVfG ist durch Unterrichtung der Kläger über die neue Bezeichnung in dem Schreiben der Beklagten vom 27.11.2009 erfolgt. Die Kläger sind auch klagebefugt nach § 42 Abs. 2 VwGO. Dem steht nicht entgegen, dass die Benennung oder Umbenennung einer Straße als adressatloser dinglicher Verwaltungsakt in Bezug auf die Anwohner in erster Linie tatsächliche und nur mittelbar rechtliche Wirkung entfaltet. Denn die Gemeinde hat bei der Entscheidung über die Straßenbenennung die individuellen Interessen der von dieser Maßnahme betroffenen Grundstückseigentümer zu berücksichtigen. Insoweit haben die Anwohner ein subjektives Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung des Inhalts, dass die Gemeinde unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die für die Umbenennung sprechenden Gründe gegen das Interesse der Anwohner an der Beibehaltung des bisherigen Straßennamens abzuwägen hat (Urteile des Kammer v. 01.11.1993 - 10 A 3675/93 - n.v., S. 6 des Umdrucks; v. 21.05.2001 - 10 A 5816/00 - n.v., S. 4 des Umdrucks; OVG NW, Beschl. v. 29.10.2007 - 15 B 1517/07 - NVwZ-RR 2008, 487, 488; BayVGH, Urt. v. 16.05.1995 - 8 B 94/2062 - NVwZ-RR 1996, 344 f. [VGH Bayern 22.12.1995 - 4 C 2906/95]).
In der Sache hat die Klage keinen Erfolg. Der Umbenennungsbeschluss ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit des Umbenennungsbeschlusses bestehen nicht; insbesondere hat mit dem Rat der Beklagten das zuständige Organ gehandelt (§ 40 Abs. 1 Nr. 2 NGO).
Auch aus materiell-rechtlicher Sicht ist der Beschluss der Beklagten nicht zu beanstanden. Die Aufgabe der Benennung und Umbenennung von gemeindlichen Straßen ist in Niedersachsen nicht spezialgesetzlich geregelt. Sie obliegt den Gemeinden kraft ihres Selbstverwaltungsrechts (Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 57 Abs. 1, 3 Nds. Verf., § 1 NGO). Bei der Entscheidung über das Ob und Wie einer Straßenbenennung steht der Gemeinde eine weitgehende, auf diesem Selbstverwaltungsrecht beruhende Gestaltungsfreiheit zu, die lediglich durch den Zweck der Aufgabenzuweisung und durch die aus dem Rechtsstaatsprinzip sowie besonderen gesetzlichen Bestimmungen folgenden Grenzen jeder Verwaltungstätigkeit beschränkt wird. Zweck der Benennung ist es in erster Linie, im Verkehr der Bürger untereinander sowie zwischen Bürgern und Behörden das Auffinden von Wohngebäuden, Betrieben, öffentlichen Einrichtungen und Amtsgebäuden zu ermöglichen oder zu erleichtern. Neben dieser im Vordergrund stehenden Ordnungs- und Erschließungsfunktion können auch die Pflege örtlicher Traditionen und die Ehrung verdienter Bürger legitime Zwecke der Straßenbenennung sein (statt vieler: Bay. VGH, Urt. v. 02.03.2010 - 8 BV 08.3320 - [...]; OVG NW, Beschl. v. 29.10.2007 - 15 B 1517/07 - a.a.O.). Die Entscheidung für oder gegen einen bestimmten Straßennamen findet dabei im genuin politischen Raum statt; die Wahl eines Straßennamens ist jedenfalls dann, wenn eine Straße nach einer Person oder einem Ereignis benannt wird, ein Akt der politischen Identitätsstiftung. In diesem Sinne sind Straßen Erinnerungsorte für die politische Gemeinschaft einer Gemeinde. Das gilt auch für die Entscheidung, eine Straße umzubenennen, da hier ein Name aus dem kollektiven Bewusstsein der politischen Gemeinschaft ausgeschieden wird. Das kollektive Vergessen ist nicht weniger politisch als das kollektive Erinnern.
Hier hat sich die Beklagte in der Ausübung dieses weiten Gestaltungsspielraums selbst durch die "Grundsätze und Verfahren für die Benennung von Straßen, Wegen und Plätzen" (im Folgenden: Grundsätze) beschränkt (Ratsbeschluss v. 11.05.1978 DsNr. 427/1978, v. 19.10.1989 DsNr. 1320/1989, v. 09.12.1999 DsNr. 2810/99, v. 17.09.2009 DsNr. 1248/2009). Nach Ziffer 3 dieser Grundsätze sollen Umbenennungen nur erfolgen (3.1) zur Beseitigung irreführender Bezeichnungen (gleich oder ähnlich lautender Straßennamen); (3.2) zur einwandfreien Orientierung und Zielfindung (vor allem bei Noteinsätzen) nach wesentlichen baulichen Veränderungen, die zur örtlich erheblichen Trennung bisheriger Zusammenhänge führen (Trennung durch übergeordnete Straßen mit massiv trennendem Ausbau, durch Marktbereiche, Fußgängerzonen etc., Änderung der Straßenführung u.ä.) oder (3.3) wenn eine Benennung einer Persönlichkeit im Nachhinein Bedenken auslöst, weil diese Person Ziele und Wertvorstellungen verkörpert, die im Widerspruch zu den Grundsätzen der Verfassung, der Menschenrechte bzw. einzelner für die Gesamtrechtsordnung wesentlicher Gesetze steht. Zusätzlich zu diesen Bedenken gegen die mit der Person verknüpften Ziele und Wertvorstellungen müssen der durch die Benennung geehrten Person schwerwiegende persönliche Handlungen (Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Rassismus, Kriegsverbrechen u.a.m.) oder die aktive Mitwirkung in einem Unrechtssystem zuzuschreiben sein. Diese Grundsätze sind Verwaltungsrichtlinien und haben keinen Rechtssatzcharakter. Sie sind aber bei der gerichtlichen Nachprüfung der Ermessensentscheidung der Beklagten (§ 114 Satz 1 VwGO) als Maßstab anzulegen. Hierzu hat die Kammer in ihrem Urteil vom 21.05.2001 - 10 A 5816/00 - (S. 6 des Umdrucks; bestätigt durch Nds. OVG, Beschl. v. 28.11.2001 - 10 LA 2637/01 - n.v.) ausgeführt:
"Die Ermessensrichtlinien der Beklagten schützen auch die Interessen der Kläger als Anlieger, denn nach der Beschlussdrucksache Nr. 764/89 sollen Umbenennungen auf Entscheidungen begrenzt werden, bei denen die Belange Dritter, die Vermeidung besonderer Belastungen, die Folgewirkungen besonders für betroffene Anlieger sowie das Ausmaß eventueller Beeinträchtigungen der Verkehrsfunktion zu berücksichtigen sind. Die Beklagte hat ihre Grundsätze zu beachten, obwohl sie kein gegenüber den Klägern unmittelbar geltendes Recht sind, sondern eine ermessenslenkende Richtschnur des Rates für seine Tätigkeit mit lediglich internem Regelungsanspruch. Jedoch konkretisieren sie die Verpflichtung der Beklagten, die Interessen der Anlieger in die Abwägungsentscheidung der Gemeinde über die Benennung einzubeziehen (...). Damit wirken sich die Grundsätze auf das Außenverhältnis aus, weil die Verwaltung zur Wahrung des Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG verpflichtet ist und sich demgemäß durch die Anwendung der Vorschriften im Verhältnis zu den betroffenen Bürgern selbst bindet. Sie beschränken die Beklagte in der Frage, wann ein Name Anlass für eine Umbenennung sein kann (...)."
Dabei sind die Grundsätze nach dem Regelungsverständnis der Beklagten auszulegen; eine Auslegung der Grundsätze entsprechend einer gesetzlichen Regelung verbietet sich hier (vgl. BVerwGE 58, 45, 51 f.), weil die Grundsätze Verwaltungsinnenrecht darstellen und nicht ihrerseits lediglich gesetzesauslegenden Charakter haben.
Hieran gemessen hat die Beklagte von ihrem Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht. Sie hat in nicht zu beanstandender Weise die Interessen der Anwohner der Lettow-Vorbeck-Allee ihrem eigenen berechtigten Interesse an der Rückgängigmachung der Ehrung der Person Paul von Lettow-Vorbeck durch Umbenennung der Lettow-Vorbeck-Allee in Namibia-Allee hintangestellt. Hierbei hat der Rat der Beklagten die in Ziff. 3.3 der Grundsätze umschriebenen Voraussetzungen in nachvollziehbarer Weise bejaht.
Es ist kein Ermessensausfall dadurch zu erkennen, dass die Beklagte dem von ihr beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. Bley aufgegeben hat, zur Frage Stellung zu nehmen, ob Lettow-Vorbeck eine Person sei, die Ziele und Wertvorstellungen verkörpere, die im Widerspruch zu den Grundsätzen der Verfassung, der Menschenrechte bzw. einzelner, für die Gesamtrechtsordnung wesentlicher Gesetze stehen, und ob Lettow-Vorbeck schuldhafte Handlungen persönlich anzulasten seien, die eine Umbenennung der Lettow-Vorbeck-Allee entsprechend den städtischen Umbenennungsregeln gestatten (Gutachtenvertrag vom 04.01.2008, Bl. 87 d. BA A). Ob es glücklich ist, dem Sachverständigen einen derart weiten Gutachtenauftrag zu erteilen und ihm die Subsumtion unter ihre Grundsätze zu überlassen, mag die Beklagte selbst beurteilen. Maßgeblich ist hier, dass die Beklagte eigenes Ermessen ausgeübt und das Gutachten von Prof. Dr. Bley ihrem Beschluss nur zugrunde gelegt hat, ohne sich hieran gebunden zu sehen. Das zeigt sich allein daran, dass die Beklagte aus der Vielzahl der Handlungen, die der Sachverständige als solche i.S.d. Ziff. 3.3 der Grundsätze ausgemacht hat, nur wenige extrahiert und einer eigenständigen Bewertung unterzogen hat.
Nach Ziff. 3.3 der Grundsätze ist eine Voraussetzung für eine Umbenennungsentscheidung, dass die Benennung der fraglichen Persönlichkeit im Nachhinein Bedenken auslöst, weil diese Person Ziele und Wertvorstellungen verkörpert, die im Widerspruch zu den Grundsätzen der Verfassung, der Menschenrechte bzw. einzelner für die Gesamtrechtsordnung wesentlicher Gesetze steht. Die Beklagte nimmt damit Bezug auf rechtlich geprägte Maßstäbe und beschränkt diese nicht auf solche, die zu Lebzeiten der jeweils geehrten Person galten. Daraus folgt, dass die Beklagte die Ziele und Wertvorstellungen, die die fragliche Person verkörpert, an der heutigen Werteordnung misst, wie sie sich in der Verfassung, den Menschenrechten und einzelnen, für die Gesamtrechtsordnung bedeutenden Regelungen niedergeschlagen hat.
Die Beklagte konnte vorliegend davon ausgehen, dass Paul von Lettow-Vorbeck derartige Ziele und Wertvorstellungen verkörperte, von denen sich die Beklagte nach ihren selbst gesetzten Grundsätzen distanzieren will. Paul von Lettow-Vorbeck zeigte sich insbesondere während seiner Zeit als Kommandant der Schutztruppen in Deutsch-Ostafrika im Ersten Weltkrieg als ein Militärangehöriger, der seine militärische Strategie - nämlich die Bindung feindlicher Truppen auf afrikanischem Boden - ohne Rücksicht auf die Belange der Zivilbevölkerung verfolgte (ausführlicher dazu unten). Die indigene Zivilbevölkerung von Deutsch-Ostafrika ordnete Lettow-Vorbeck jedenfalls in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs in rücksichtsloser Weise seinen militärischen Interessen unter, indem er sie in weiten Teilen als Lastenträger und als Nahrungsmittellieferanten ausbeutete. Die Opfer dieser Strategie wurden dadurch zu bloßen Objekten der Kriegsführung herabgewürdigt und auf schwerwiegende Weise in ihrer Menschenwürde verletzt. Lettow-Vorbecks eigene Aussagen in seiner im Jahr 1957 erschienenen Autobiographie "Mein Leben" weisen ihn darüber hinaus als Militärangehörigen aus, der die Unterstellung des Militärs unter eine zivile Verwaltung, wie sie schon im Kaiserreich für die Schutzgebiete eingerichtet war, nicht annehmen konnte und auch nach eigenen Angaben vor der Befehlsverweigerung gegenüber seinem zivilen Vorgesetzten in Deutsch-Ostafrika nicht zurückschreckte (vgl. nur Lettow-Vorbeck, Mein Leben, 1957, S. 134 f.). Seine Prägung durch die Herrschaftsstrukturen des Kaiserreichs, denen eine derartige Zivilverwaltung nicht entsprach, vermochte er auch unter den Nachkriegsbedingungen nicht zu überwinden; zeitlebens blieb er anti-demokratisch eingestellt (vgl. Lettow-Vorbeck, a.a.O., S. 186, S. 189; Michels, "Der Held von Deutsch-Ostafrika": Paul von Lettow-Vorbeck - Ein preußischer Kolonialoffizier, 2008, S. 254 ff.; Schulte-Varendorff, Kolonialheld für Kaiser und Führer, 2006, S. 148 ff.). Diese - gelebten - Überzeugungen widersprechen dem Grundgesetz (Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Art. 60 Abs. 1 GG) und dem Soldatengesetz, das ein Bekenntnis des Soldaten zur demokratischen Grundordnung fordert (vgl. §§ 8, 37 Abs. 1 Nr. 2 SoldG).
Die Kläger können nicht mit dem Vortrag durchdringen, die Beklagte habe den historischen Kontext, in dem die Person Paul von Lettow-Vorbeck gestanden habe, bei ihrer Entscheidung fälschlich ausgeblendet. Denn die Bewertung der Ziele und Wertvorstellungen einer durch eine Straßenbenennung geehrten Person vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte hat die Beklagte gerade nicht zum Maßstab ihrer Umbenennungsentscheidungen gemacht. Ob der von der Beklagten gewählte Maßstab aus historischer Sicht einer Person gerecht wird, hat die Kammer nicht zu entscheiden, weil die Grundsätze der Beklagten nur eingeschränkt Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung sind. Die Beklagte ist bei der Ausgestaltung der Grundsätze nur an diejenigen Grenzen gebunden, die sie in ihrem weiten Ermessensspielraum binden, nämlich an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und an das Willkürverbot. Diese werden durch Ziff. 3.3 der Grundsätze nicht verletzt. Dass Paul von Lettow-Vorbeck die Werte einer ganzen Gesellschaftsschicht, nämlich des im Militär des Kaiserreichs sozialisierten ländlichen preußischen Kleinadels, verkörperte und sich von anderen Angehörigen dieser Schicht nicht unterschieden haben mag, ist für das vorliegende Verfahren damit nicht entscheidungserheblich.
Der Rat der Beklagten hat auch Handlungen von Paul von Lettow-Vorbeck ausgemacht, die als schwerwiegende persönliche Handlungen i.S.d. Ziff. 3.3 der Grundsätze zu bewerten sind. Dabei knüpft die Beklagte nach dem Wortlaut von Ziff. 3.3 der Grundsätze an Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen an, die zu den völkerstrafrechtlichen Kernverbrechen zählen, sowie ausdrücklich noch an Rassismus und weitere unbenannte schwerwiegende persönliche Handlungen ("u.a.m."). Dass die Beklagte hiermit nicht auf eine streng juristische Prüfung im Sinne einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit der mit einer Straßenbenennung geehrten Person abzielt, ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Ziff. 3.3 der Grundsätze. So ist der im Klammerzusatz beispielhaft genannte Rassismus keine juristische Kategorie und erst recht keine strafbare Handlung. Auch die Formulierung "zuschreiben" ist kein strafrechtlicher Fachausdruck; im Strafrecht würde man von Zurechnung sprechen. Nicht zu verkennen ist allerdings, dass die von der Beklagten verwandten Begrifflichkeiten zum Teil wiederum juristische sind. Das gilt insbesondere für die Begriffe des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (vgl. Art. 7 Statut des Internationalen Strafgerichtshof - IStGH-Statut - vom 17.07.1998, BGBl. 2002 II, 1393) und des Kriegsverbrechens (vgl. Art. 8 IStGH-Statut).
Ob die Beteiligung von Lettow-Vorbeck an der Niederschlagung des Herero-Aufstands in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, oder seine Rolle bei der Niederschlagung der sog. "Sülzeunruhen" bzw. des "Spartakusaufstandes" in Hamburg im Jahre 1919 die von der Beklagten selbst gesetzte Schwelle überschreiten, kann dahinstehen. Denn diese Schwelle ist nach Überzeugung der Kammer mit den Handlungen Lettow-Vorbecks als Kommandeur der deutschen Schutztruppe während der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs in den Jahren 1916 bis 1918 und während des Kapp-Lüttwitz-Putsches im Jahr 1920 überschritten.
Anhand der von den Parteien vorgelegten Gutachten und der weiteren, von der Kammer herangezogenen Veröffentlichungen zu Lettow-Vorbeck ergibt sich für das Handeln Lettow-Vorbecks als Kommandeur der deutschen Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika folgendes:
Paul von Lettow-Vorbeck wurde im Jahr 1913 zum Kommandeur der deutschen Schutztruppe von Deutsch-Ostafrika ernannt, das in etwa die heutigen Staaten Tansania mit Ausnahme der damals britischen Insel Sansibar sowie Teile Ruandas und Burundis umfasste. Als Kommandeur war er - eine Besonderheit der deutschen Kolonialverwaltung - dem zivilen Gouverneur Heinrich Schnee unterstellt (Michels, a.a.O., S. 123, unter Verweis auf § 2 der im Jahre 1898 zur Ausführung des Schutztruppengesetzes von 1896 erlassenen Schutztruppenordnung); dies galt auch für den Kriegsfall. Die Schutztruppe bestand aus deutschen Soldaten und Offizieren und einheimischen Soldaten, den sogenannten Askari, die zwar einen geringeren Sold als die deutschen Militärangehören bezogen, aber gleichwohl eine Reihe faktischer Privilegien insbesondere im Umgang mit der einheimischen Zivilbevölkerung genossen (Michels, a.a.O., S. 128 ff.). Dies machte jedenfalls in der Vorkriegszeit und in den ersten beiden Jahren des Ersten Weltkriegs die Zugehörigkeit zur Schutztruppe attraktiv. Da das Gelände in Deutsch-Ostafrika abgesehen von den Hafenstädten und der Eisenbahnstrecke weitgehend unerschlossen und schon aus diesem Grund die Versorgung der auf die Kolonie verteilten Truppe mit LKW oder der Bahn nicht möglich war, griff die Schutztruppe für die Beförderung von Material und Lasten auf Träger zurück, die zunächst unter zwei lokalen Stämmen rekrutiert wurden. Anders als in anderen Stämmen, in denen das Tragen von Lasten Frauensache war, hatte sich in diesen Stämmen das Lastentragen als Beruf von Männern herausgebildet (Michels, a.a.O., S. 129). Die Anzahl der Träger betrug ein Vielfaches der Truppenstärke; zu Zeiten der Höchststärke der Schutztruppe im März 1916 kamen auf 3.000 Europäer, 12.000 Askari und 2.200 Hilfskrieger knapp 30.000 Träger (Michels, a.a.O., S. 181; Schulte-Varendorff, a.a.O., S. 34, spricht davon, dass beim Rückzug der Truppe nach Portugiesisch-Ostafrika die verbliebenen 267 Europäer und 1.700 Askari von sogar 45.000 Trägern begleitet wurden). Mit der Truppe zogen schließlich auch die Frauen und Kinder der einheimischen Askari und Träger, um deren Motivation ("Kriegsmoral") zu erhöhen (Michels, a.a.O., S. 189). Bis 1916 konnte sich die Schutztruppe gegen die britischen und später südafrikanischen und portugiesischen Truppen gut behaupten. Sie trug in zwei Schlachten trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit Siege davon. Ab 1916 wendete sich das Blatt für die Schutztruppe, die sich zuerst in das Hinterland von Deutsch-Ostafrika und im November 1917 über die Grenze von Portugiesisch-Ostafrika - dem heutigen Mosambik - zurückzog, bis sie zehn Monate später wieder die Grenze Deutsch-Ostafrikas überschritt, um gegen Kriegsende einen Ausfall in das britische Nord-Rhodesien zu unternehmen. Die Versorgungslage verschlechterte sich deutlich, als keine Militärlager mehr zur Verfügung standen. Die Truppe versorgte sich in dieser Phase in erster Linie aus dem Land (Michels, a.a.O., S. 187; Schulte-Varendorff, a.a.O., S. 54 ff.), was bei der teilweise vorherrschenden Subsistenz- und Tauschwirtschaft und dem Mangel an - ohnehin wertlosem - Geld (Michels, a.a.O., S. 187, unter Hinweis auf das mit Gummitypen handgedruckte Geld der deutschen Truppe) notwendig bedeutete, dass die Versorgung ohne Ausgleich zu Lasten der darbenden Zivilbevölkerung ging. Beim Rückzug innerhalb der deutschen Kolonie nahm die Schutztruppe Vieh und Lebensmittel mit sich oder vertrieb und vernichtete es auf Befehl Lettow-Vorbecks, um ein Vorstoßen der alliierten Truppen zu verzögern (Michels, a.a.O., S. 187; Schulte-Varendorff, a.a.O., S. 56 f.). In Regenzeiten verschlechterte sich die Versorgung ebenso weiter wie in Zeiten, in denen die Schutztruppe bei ihren Ausweichbewegungen vor den alliierten Truppen durch Gebiete zog, die sie zuvor schon durchzogen und zur Versorgung herangezogen hatte. Die knappen Ressourcen - Nahrungsmittel ebenso wie Waffen, Medikamente wie Chinin sowie Kleidung und Stiefel - wurden zunächst den deutschen Offizieren und Soldaten zugeteilt, dann den einheimischen Soldaten, den Askari, und zuletzt den einheimischen Trägern. Die Versorgungslage der Träger war durchgehend am schlechtesten, so dass sich unter den Trägern auch die Ausfälle durch Krankheit und Tod häuften (Michels, a.a.O., S. 189; Schulte-Varendorff, a.a.O., S. 59). Nachdem die Schutztruppe die Siedlungsgebiete der beiden Stämme, die in der Vorkriegszeit die Träger gestellt hatten, verlassen hatte, hatte sie Mühe, weitere Träger zu rekrutieren. Sie ging daher spätestens ab 1916 dazu über, Männer aus Gegenden, die sie durchzog, sowie auf portugiesischem Gebiet Askari und Träger von besiegten portugiesischen Truppen zur Trägerarbeit zu zwingen (Michels, a.a.O., S. 187 f., Schulte-Varendorff, a.a.O., S. 57 ff.). Die Träger wurden (zumindest teilweise) in Ketten gelegt bzw. später, als keine Ketten mehr in ausreichender Zahl zur Verfügung standen, mit Telefonkabeln aneinander gebunden (Schulte-Varendorff, a.a.O., S. 59; Michels, a.a.O., S. 197 unter Hinweis auf den Augenzeugen Deppe, der in einer Schrift von "Arbeitssklaven" sprach). Die Folgen für die indigene Bevölkerung waren gravierend. Nach Schätzungen starben im Verlauf des Ersten Weltkriegs auf deutscher Seite 100.000 bis 120.000 Träger (Schulte-Varendorff, a.a.O., S. 59). Der Arbeitskräftemangel infolge der Massenrekrutierung von Trägern und Askari durch die deutschen und die britischen Truppen führte zu Hungersnöten; hinzu kamen Seuchen, die durch die herumziehenden Truppen verbreitet wurden (Michels, a.a.O., S. 188). Insgesamt soll es unter der Zivilbevölkerung 300.000 Opfer gegeben haben (Schulte-Varendorff, a.a.O., S. 57; Michels, a.a.O., S. 188, spricht von zehntausenden bis hunderttausenden von Opfern).
Den Umstand, dass zehntausende von einheimischen Zivilisten als Träger für die deutsche Truppe faktisch versklavt wurden, hat der Klägervertreter zwar schriftsätzlich sowie in der mündlichen Verhandlung in Abrede gestellt und sich dabei auf das von den Klägern eingeholte Gutachten von VRVG a.D. Dr. (C) berufen. Allerdings stellt dieser letztlich nur in Abrede, dass alle Träger an der Kette gingen. Dies lässt sich in der Tat nicht belegen und steht auch im Widerspruch dazu, dass nach den vorliegenden Quellen Träger in großer Zahl flohen. Hinsichtlich der in Ketten gelegten Träger ist allerdings auch das Gutachten widersprüchlich. Einerseits gibt Dr. (C) an, es seien nur strafrechtlich belangte sog. "Kettengefangene" in Ketten gelegt worden (S. 10 des Gutachtens, BA E). Andererseits zitiert er eine Schrift des Augenzeugen Deppe ohne weitere Wertung, nach der Träger "zwangsweise herangezogen werden" mussten und es "langsam Sitte" wurde, sie "nur aus der Not unserer Tage heraus als Sicherungsmittel gegen Entlaufen" an der Kette gehen zu lassen. Durch das wertungsfreie Zitat macht sich der Gutachtenverfasser diese Darstellung ersichtlich zu eigen.
Es steht zur Überzeugung der Kammer aufgrund der Erkenntnismittel fest, dass unter dem Befehl von Lettow-Vorbeck zehntausende von einheimischen Zivilisten zur Trägerarbeit gezwungen wurden, sie unter unmenschlichen Bedingungen ihren Dienst tun mussten und jedenfalls teilweise auch gefesselt wurden.
Hinsichtlich der Zwangsrekrutierung der Träger ist die Wertung der Beklagten, es handele sich um eine unmenschliche und grausame Kriegsführung und damit um eine schwerwiegende persönliche Handlung des Kommandanten von Lettow-Vorbeck i.S.d. Ziff. 3.3 der Grundsätze, nicht zu beanstanden. Die Kammer geht davon aus, dass die von den Trägern ab 1916 ausgeübte Zwangsarbeit unter dem Befehl von Lettow-Vorbeck ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit i.S.d. Ziff. 3.3 der Grundsätze darstellt, jedenfalls aber eine Handlung mit einem entsprechenden Unrechtsgehalt.
Unter einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit ("crime against humanity") sind nach Art. 7 des IStGH-Statuts u.a. Mord, Ausrottung, Versklavung, Vertreibung oder Zwangsumsiedelung der Bevölkerung, Freiheitsentzug oder sonstige schwere Entziehung der körperlichen Freiheit unter Verstoß gegen die Grundregeln des Völkerrechts, Folter oder Vergewaltigungen zu verstehen, wenn sie als Teil eines groß angelegten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung in Kenntnis des Angriffs begangen werden. Zur Sklaverei zählt auch die Zwangsarbeit (Ambos, Internationales Strafrecht 2006, § 7 Rn. 204); sie ist völkergewohnheitsrechtlich dann als Versklavung erfasst, wenn sie mit der Ausübung angemaßter Eigentumsrechte an den betroffenen Personen verbunden ist (Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 670). Entsprechend Art. 7 IStGH-Statut definiert das deutsche Völkerstrafgesetzbuch vom 26.06.2002 (BGBl. 2002 I, 2254 ff.) in § 7 Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Unter Strafe gestellt wird dort u.a. die Versklavung eines Menschen unter Anmaßung von Eigentumsrechten an ihm, wenn dies im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung geschieht (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 2. Alt. VStGB).
Soweit die Beklagte den Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit nicht im Sinn des derzeit geltenden Völkerrechts verstanden wissen will, sondern im Sinn des Völkerrechts zum Stand der Beschlussfassung über Ziff. 3.3 der Grundsätze, gelten die Ausführungen der Kammer in ihrem Urteil vom 01.11.1993 - 10 A 3675/93 - (S. 14 f. des Umdrucks):
"Bei der Ausdeutung dieses Begriffes orientiert sich die Kammer daran, was die vier Siegermächte des 2. Weltkrieges am 08.08.1945 in dem Londoner Abkommen über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher in Form eines Vertragsanhanges beschlossen haben (...). Der Anhang beinhaltet das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs, dessen Verhandlungen am 20.11.1945 in Nürnberg begannen, und definiert u.a. das, was die Alliierten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ansahen: "Nämlich: Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgend einer Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen". Diese Rechtsgrundsätze fanden im Übrigen auch Eingang in das nationale deutsche Recht [wird ausgeführt]."
Welche Begrifflichkeit die Beklagte ihrer Entscheidung zugrunde legt, ergibt sich weder aus dem streitgegenständlichen Beschluss in Verbindung mit dem Bekanntmachungs-schreiben vom 27.11.2009 noch aus der sonstigen Verwaltungspraxis der Beklagten, soweit sie für die Kammer ersichtlich ist. Die Kammer geht davon aus, dass Handlungen im Sinne des ursprünglichen weiteren Verständnisses von Verbrechen gegen die Menschlichkeit weiterhin von Ziff. 3.3 der Grundsätze erfasst sind, weil die Aufzählung nur beispielhaft ist und andere Handlungen von einem vergleichbaren Schweregrad ebenfalls erfasst.
Unerheblich ist nach alledem, dass der von der Beklagten angelegte Maßstab in den fraglichen Jahren 1914 bis 1918 noch nicht bekannt war. Zwar wurde mit der Martens'schen Klausel, die in die Präambeln der Haager Abkommen von 1907 aufgenommen wurde, erstmals eine allgemeine Verpflichtung zur Beachtung der "Grundsätze der Menschlichkeit" im humanitären Völkerrecht formuliert, allerdings klang hier eine Kriminalisierung noch nicht an (ausführlich Werle, a.a.O., S. 619 m.w.N., S. 785). Der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit wurde erst durch die Nürnberger Prozesse in das Völkerrecht eingeführt (Werle, a.a.O., S. 620). Im Übrigen standen nach zeitgenössischer Rechtsmeinung die indigenen Völker der Kolonien zur Disposition der Kolonialmächte; die Regeln der Haager Landkriegsordnung fanden jedenfalls auf Kolonialkriege keine Anwendung (Kämmerer/Föh, AdV 2004, S. 294, 314). Entsprechend dürften sie auf die Zivilbevölkerung der Kolonien keine Anwendung gefunden haben, wenn die Kriegshandlungen - wie während des Ersten Weltkriegs in Afrika - nicht gegen indigene Kombattanten, sondern gegen andere Kolonialmächte gerichtet waren. Auch war zwar bereits durch die Anti-Sklaverei-Konvention von 1890 der Sklavenhandel geächtet (RGBl. 1892, S. 611); der Tatbestand der Sklaverei wurde aber eng ausgelegt und erfasste diese im Sinne eines dinglichen Rechts (sog. "chattel slavery"), nicht aber die faktische Sklaverei im Sinne eines angemaßten Eigentumsrechts (Kämmerer/Föh, a.a.O., S. 313). Erst im Jahr 1926 wurde das Genfer Abkommen betreffend die Sklaverei (RGBl. 1929 II S. 64) geschlossen, das die Vertragsstaaten nicht nur zur Aufhebung der Sklaverei verpflichtete, sondern auch dazu, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhüten, dass Zwangsarbeit oder Zwangsverpflichten der Sklaverei ähnliche Verhältnisse, also faktische Sklaverei, herbeiführten. Ausgenommen war allerdings immer noch Zwangsarbeit, die einem öffentlichen Zwecke diente; die völkerrechtliche Rechtsauffassung hierzu änderte sich erst unter dem Eindruck der NS-Zeit durch die Nürnberger Prozesse.
Es ist auch nicht zu beanstanden, dass die Beklagte die Kriegsführung unter zwangsweiser Inanspruchnahme von Trägern Lettow-Vorbeck zuschreibt. Die Kläger gehen fehl, wenn sie - gestützt auf das von ihnen eingeholte Gutachten (dort S. 7, BA E) - vortragen, eine Zuschreibung i.S.d. Ziff. 3.3 der Grundsätze widerspreche rechtsstaatlichem Denken, das keine Kollektivschuld kenne. Sie verkennen dabei die Befehlskette, die auch nicht dadurch durchbrochen wurde, dass Lettow-Vorbeck die Versklavung der Träger untersagt hätte. Dass das der Fall gewesen sein könnte, behaupten auch die Kläger nicht. Die Versklavung von Trägern entsprach auch der Strategie Lettow-Vorbecks, im Buschkrieg möglichst lange und "um jeden Preis" zu bestehen (vgl. Michels, a.a.O., S. 208, der von Krieg als Selbstzweck und einer Art "professionellem Ego-Trip" Lettow-Vorbecks spricht).
Selbst nach einem strafrechtlichen Maßstab kann die militärische Befehlskette zu einer strafrechtlichen Verantwortung des nicht durch eigene Hand handelnden Befehlshabers führen. So kennt das nationale Strafrecht für den Fall eines ausdrücklichen Befehls die Haftung als mittelbarer Täter unabhängig von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Ausführenden (zur Rechtsfigur des "Täters hinter dem Täter" BGH, Urt. v. 26.07.1994 - 5 StR 98/94 - BGHSt 40, 218), daneben die Strafbarkeit wegen Anstiftung oder nach den Grundsätzen des echten Unterlassens. Letztere Betrachtungsweise entspricht der völker-strafrechtlichen (vgl. Art. 28 IStGH-Statut; hierzu ausführlich Ambos, a.a.O., § 7 Rn. 57 ff.). Danach wird echtes Unterlassen des militärischen Vorgesetzten unter Strafe gestellt, denn der Vorgesetzte haftet als Garant dafür, dass er bei Straftaten seiner Untergebenen (der sog. Grundverbrechen) keine oder jedenfalls nicht die erforderlichen und angemessenen Gegenmaßnahmen ergriffen hat. Anknüpfungspunkt ist die Verletzung der Aufsichtspflicht des Vorgesetzten, nicht das Grundverbrechen. Aus subjektiver Sicht reicht für die Haftung des militärischen Vorgesetzten Fahrlässigkeit aus (Ambos, a.a.O., Rn. 60). Entsprechend statuiert § 4 Abs. 1 Satz 1 VStGB die Verantwortlichkeit militärischer Befehlshaber: "Ein militärischer Befehlshaber oder ziviler Vorgesetzter, der es unterlässt, seinen Untergebenen daran zu hindern, eine Tat nach diesem Gesetz zu begehen, wird wie ein Täter der von dem Untergebenen begangenen Tat bestraft." Die Anwendung von § 13 Abs. 2 StGB, nach dem bei einem Begehen durch Unterlassen die Strafe gemildert werden kann, wird in § 4 Abs. 1 Satz 2 VStGB ausdrücklich ausgeschlossen.
Die Kammer vermag sich in Ansehung dieser strafrechtlichen Haftungsprinzipien dem klägerischen Vortrag nicht anschließen, die Zwangsarbeit von Trägern bei den Schutztruppen könne Lettow-Vorbeck nicht zugeschrieben werden, weil sie rechtsstaatlichen Grundsätze widerspreche.
Es ist indes schon fraglich, ob die Beklagte den Begriff der Zuschreibung einer schwerwiegenden persönlichen Handlung i.S.d. Ziff. 3.3 der Grundsätze im strafrechtlichen Sinne verstanden wissen will. Es liegt aufgrund der Begründung der Straßenumbenennung im vorliegenden Fall und in vergangenen gerichtlichen Verfahren vielmehr nahe, dass die Beklagte einen politischen oder moralischen, nicht aber einen rechtlichen Begriff von Verantwortung und Schuld ihrer Entscheidung zugrunde legt. Hierzu hat die Kammer in ihrem Urteil vom 01.11.1993 - 10 A 3675/93 - (S. 15 f. des Umdrucks) ausgeführt:
"Allerdings kann sich dieser [der Inhalt der Grundsätze] auch danach bestimmen, dass die der durch die Benennung geehrten Person vorgeworfenen schwerwiegenden persönlichen Handlungen lediglich einen Moralverstoß bedeuten, und die in dem Klammerzusatz in 3.3. der Grundsätze genannten Handlungen dazu dienen, das Gewicht der moralischen Kriterien auszuleuchten. Hierfür spricht, dass in dem Klammerzusatz lediglich die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen einen strafrechtlich ausfüllbaren Tatbestand bilden, während Rassismus einen solchen nicht mehr ausfüllt."
Ein solches Verständnis ist auch sachgerecht; denn selbst wenn ein heutiger nationaler oder völkerrechtlicher Deliktstatbestand erfüllt wäre, könnte der Person kein streng rechtlicher, sondern nur ein moralischer Vorwurf gemacht werden, wenn der Tatbestand zur Zeit der fraglichen Handlungen noch nicht in Kraft war. Sachgerecht ist dieses Verständnis auch, wenn Ziff. 3.3 der Grundsätze im Kontext der Straßenbenennung als politischem Akt des kollektiven Erinnerns und kollektiven Vergessens gelesen wird.
Das Verständnis von moralischer Verantwortung und Schuld zugrunde gelegt bestehen gegen die Wertung der Beklagten im vorliegenden Fall bezogen auf die oben dargestellten Handlungen Lettow-Vorbecks ebenfalls keine durchgreifenden Bedenken.
Nach alledem konnte die Beklagte dem mit einer Straßenbenennung geehrten Paul von Lettow-Vorbeck mit der faktischen Versklavung von zehntausenden indigenen Zivilisten als Träger während des Ersten Weltkriegs eine schwerwiegende persönliche Handlung i.S.d. Ziff. 3.3 der Grundsätze zuschreiben.
Ob Lettow-Vorbeck der Tod aller während des Ersten Weltkriegs durch Kriegshandlungen in Deutsch-Ostafrika umgekommenen Zivilisten als Folgen persönlicher Handlungen vorgeworfen werden kann, wie der Sachverständige der Beklagten in seinem Gutachten meint, kann ebenso dahingestellt bleiben wie die Frage, wie die Zerstörung der Lebensgrundlagen der einheimischen Bevölkerung als Strategie der Kriegsführung zu bewerten ist. Ebenso kann offen bleiben, ob Lettow-Vorbeck den Befehl für Strafexpeditionen gegen die einheimische Bevölkerung gegeben hat oder ob diese Befehle von den Offizieren der einzelnen Truppenteile kamen und nicht von einem Oberbefehl gedeckt waren. Schließlich kommt es auch nicht darauf an, ob es sich historisch belegen lässt, dass mit Duldung der deutschen Offiziere Askari in Mosambik zahlreiche Frauen vergewaltigt und gezwungen haben, mit der Truppe zu ziehen, oder ob Lettow-Vorbeck beim Verlassen von Mosambik ausdrücklich befohlen hat, diese Frauen in einem unwirtlichen Grenzgebiet zurückzulassen und damit dem sicheren Tod auszusetzen, wie die Beklagte vorgebracht hat.
Es ist auch nicht zu beanstanden, dass die Beklagte Lettow-Vorbeck die Teilnahme am Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920 als persönliche schwerwiegende Handlung zuschreibt. Diese Beteiligung stellt sich für die Kammer wie folgt dar:
Lettow-Vorbeck unterstand als Kommandeur der in Mecklenburg stationierten Reichswehrbrigade 9 ab 1919 dem Oberbefehl von General von Lüttwitz, dem die nord- und ostdeutschen Truppenverbände sowie sämtliche Freikorps unterstanden. Im Kreis um Lüttwitz, zu dem auch Lettow-Vorbeck gehörte, regte sich Widerstand u.a. gegen die sich im Jahr 1919 abzeichnende Verpflichtung des Deutschen Reichs zur Reduzierung der Truppen auf nur noch 100.000 Mitglieder, der in konkreten Forderungen an die Regierung seinen Niederschlag fand (Michels, a.a.O., S. 278, Schulte-Varendorff, a.a.O., S. 83). Lettow-Vorbeck formulierte seine Sicht in seiner Autobiographie wie folgt (Lettow-Vorbeck, a.a.O., S. 186 f.):
"Die Zeitverhältnisse von 1919 auf 1920 brachten der Reichswehr erhebliche Zumutungen; schon der sozialdemokratische Reichspräsident, der seine Stellung im Grunde doch dem Umsturz in einer Notlage des Vaterlandes verdankte. Dazu kam die Forderung der Entente auf Auslieferung des nach Holland entwichenen Kaisers Wilhelm II., dem wir als obersten Kriegsherrn unseren Fahneneid geleistet hatten. Die Verminderung der Reichswehr von 200 000 auf 100 000 Mann setzte wieder eine Menge tüchtiger Soldaten auf die Straße und wurde mit Recht als eine untragbare Schwächung Deutschlands angesehen."
Zu den ersten Verbänden, die Reichswehrminister Noske nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages Anfang 1920 auflöste, gehörten die Marinebrigade von Hermann Ehrhardt und das Freikorps Loewenfeld. Dem widersetzte sich Lüttwitz, woraufhin er von Noske beurlaubt wurde (Michels, a.a.O., S. 280). Lüttwitz besetzte daraufhin mit den Truppen Ehrhardts am 13.03.1920 das Regierungsviertel Berlins. Wolfgang Kapp, der mit Lüttwitz zuvor schon einen Putsch geplant hatte, rief sich zum Reichskanzler aus und ernannte Lüttwitz zum Oberbefehlshaber der Reichswehr. Der sozialdemokratischen Regierung unter Bauer und Ebert gelang die Flucht zunächst nach Dresden, dann nach Stuttgart. Am selben Tag riefen Anhänger der SPD zum Generalstreik auf. Lettow-Vorbeck, der am Vorabend des Putsches von den Vorbereitungen hierzu erfahren hatte und auch wusste, dass Lüttwitz beurlaubt war (Lettow-Vorbeck, a.a.O., S. 188), suchte Lüttwitz am 13. März in Berlin auf. Er stellte sich den erfolgreich scheinenden Putschisten zur Verfügung und übernahm mit der Reichswehrbrigade 9 die vollziehende Gewalt in Mecklenburg-Strelitz und Mecklenburg-Schwerin (Lettow-Vorbeck, a.a.O., S. 189; Michels, a.a.O., S. 281). Während die Landesregierung von Mecklenburg-Strelitz zurücktrat, widersetzte sich die Landesregierung von Mecklenburg-Schwerin der Anordnung, die Regierung Kapp anzuerkennen. Lettow-Vorbeck ließ die Regierungsmitglieder daraufhin verhaften (Lettow-Vorbeck, a.a.O., S. 190). Er setzte weiter die Vorgaben von Kapp und Lüttwitz um und verhängte ein Versammlungsverbot (Michels, a.a.O., S. 282). Auf Befehl Lettow-Vorbecks reaktivierte Gerhard Roßbach die Soldaten seines bereits im Januar 1920 aufgelösten Freikorps, die in die Reichswehr eingegliedert wurden (Michels, S. 283). Bereits zwei Tage nach dem Putsch setzten wegen des Generalstreiks einerseits und der Regierungstreue der Beamten (einschließlich der Gendarmerie) andererseits landesweit Auflösungserscheinungen ein. An diesem Tag schossen Mitglieder der Reichswehr, darunter "Roßbacher", in die aufgebrachte Menge und töteten 15 Demonstranten (Michels, a.a.O., S. 284). Weitere Personen wurden in diesen Tagen erschossen oder starben an Misshandlungen (s. auch Lettow-Vorbeck, a.a.O., S. 191). Am 16. März ordnete Lettow-Vorbeck an, dass Reichswehrtruppen und die Leute Rossbachs gegen die Stadt Wismar vorgehen sollten, weil sich der Rat der Stadt mit der abgesetzten Regierung solidarisch erklärte. Er befahl die Einrichtung von Standgerichten und die Aburteilung und Erschießung jeder Person, die mit einer Waffe angetroffen wurde (Michels, a.a.O., S. 284). Dazu kam es nicht mehr, weil der Putsch am 17. März zusammenbrach. Am 18. März stellte sich Lettow-Vorbeck hinter die Regierung Bauer (Lettow-Vorbeck, a.a.O., S. 191; Michels, a.a.O., S. 285).
Ziff. 3.3 der Grundsätze erfasst nach Auffassung der Kammer nach dem Wortlaut und dem erkennbaren Verständnis der Beklagten auch die Teilnahme an einem Staatsstreich als schwerwiegende persönliche Handlung. Die beispielhaft genannten Handlungen sind nicht nur solche, die gegen individuelle Rechtsgüter gerichtet sind. So schützen die Straftatbestände des Verbrechens gegen die Menschlichkeit und des Kriegsverbrechens auch den globalen Frieden und die internationale Sicherheit und damit kollektive Rechtsgüter (Ambos, a.a.O., § 7 Rz. 173). Der Bestand des Staates und seiner verfassungsmäßigen Organe ist aus nationaler Sicht ebenfalls ein zentrales kollektives Rechtsgut.
Aus Sicht der Kammer steht einer Zuschreibung der Teilnahme an dem Putsch i.S.d. Ziff. 3.3 der Grundsätze nicht entgegen, dass Lettow-Vorbeck nach eigenen Angaben dachte, der Putsch sei erfolgreich gewesen und die Regierung Bauer sei endgültig abgesetzt. In seiner Autobiographie heißt es dazu (a.a.O., S. 189):
"Ich war gekommen, um einem Umsturz vorzubeugen. Nun er aber geschehen war, war die ganze Lage geändert. Die sozialdemokratische Regierung war nicht mehr, und ich hatte keinen Anlass, ihr nachzutrauern. Eine gesetzmäßige Regierung hatte es nicht gegeben, und die tatsächliche Regierung war jetzt Kapp-Lüttwitz. Ich sah keinen Grund, meinem bisherigen Vorgesetzten Lüttwitz auf dessen Frage den Gehorsam zu verweigern. [...] Dort [in Schwerin] war ich mit den Verhältnissen vertraut und glaubte, Ruhe und Ordnung aufrechterhalten zu können. Meine Auffassung war, dass die Entscheidung über die Führung des Reiches in Berlin liege, und dass es im übrigen auf Ruhe und Ordnung ankomme."
Es geht hier nicht, wie oben ausgeführt, um die Frage, ob und nach welchem Tatbestand sich Lettow-Vorbeck nach heutigen Gesetzen strafbar gemacht hätte, sondern um die Frage der moralischen Vorwerfbarkeit. Aus moralischer Sicht ist die Wertung der Beklagten nachvollziehbar, weil Lettow-Vorbeck erkennbar die Legitimation der demokratisch gewählten Regierung von vornherein in Frage stellte und sich den Putschisten bereitwillig zur Verfügung stellte (vgl. hierzu ausführlich Michels, a.a.O., S. 281 f.). Überprüft man aber die Wertung der Beklagten am Maßstab des Strafrechts, ergibt sich auch hieraus kein Grund zur Beanstandung dieser Wertung. Aus heutiger strafrechtlicher Sicht hätte Lettow-Vorbeck den Tatbestand des Hochverrats gegen ein Land (§ 82 Abs. 1 Nr. 2 StGB), hinsichtlich der Regierung von Mecklenburg-Schwerin auch der Nötigung von Verfassungsorganen (§ 105 Abs. 1 Nr. 3 StGB) verwirklicht. Aufgrund der oben zitierten Darstellung seiner persönlichen Einschätzung der Lage ergeben sich allenfalls Zweifel an seiner Schuld im strafrechtlichen Sinn. Aus strafrechtlicher Sicht kann sich der Soldat, der einem rechtswidrigen Befehl folgt, auf einen Schuldausschließungsgrund berufen, wenn er erkennt oder wenn es nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist, dass dadurch eine Straftat begangen wird (§ 11 Abs. 2 Satz 1 SoldG; § 5 Abs. 1 WStG). Unterliegt er einem Irrtum über die Vorgesetzteneigenschaft des Befehlenden - wie ihn Lettow-Vorbeck für sich in Anspruch nimmt - ist dieser unbeachtlich, wenn der Täter den Irrtum vermeiden konnte (vgl. § 35 Abs. 2 Satz 1 StGB). Dies abschließend zu klären ist weder Ziel oder Aufgabe der Beklagten noch Aufgabe des Gerichts. Allerdings ist ein gewichtiges Indiz für einen vermeidbaren Irrtum, dass sich die übrigen Generäle der Reichswehr - mit Ausnahme des regierungstreuen preußischen Kriegsministers und Chefs der Heeresleitung Reinhardt, der die Regierung Bauer unterstützte - passiv verhielten, wobei nicht verkannt wird, dass auch die mangelnde Unterstützung der Regierung gegen die Putschisten einen Beitrag zum jedenfalls vorübergehenden Erfolg von Kapp und Lüttwitz lieferte.
Ob Lettow-Vorbeck aus strafrechtlicher Sicht auch für die Erschießungen und Misshandlungen von Bürgern als Täter in mittelbarer Täterschaft verantwortlich war, lässt sich nicht abschließend bewerten. Es spricht einiges dafür, dass er selbst ein hartes Durchgreifen gegen die Streikenden angeordnet hatte. So hat er bewusst das Freikorps Rossbach aktiviert, das aus besonders gewaltbereiten und kampferprobten Soldaten bestand. Es ist aber auch möglich, dass ihm das Geschehen aus der Hand glitt. Legt man indes einen politischen oder moralischen Maßstab an, trägt Lettow-Vorbeck jedenfalls aufgrund der Aktivierung der gewaltbereiten "Roßbacher" auch die Verantwortung für die Erschießungen. Grundlage für einen moralischen Vorwurf kann jedenfalls die anhaltende Billigung der Tötungen sein; in seiner Autobiographie schrieb Lettow-Vorbeck hierzu (a.a.O., S. 191):
"In Mecklenburg waren in diesen Tagen vom 13. bis 20. März 1920 die Störungen durch linksradikale Elemente schnell beseitigt worden. Die noch bestehenden aus dem Baltikum eingetroffenen Verbände, die den Bolschewismus kannten, hatten auf dem Lande mit Erfolg durchgegriffen. In Schwerin war es nur einmal zu Blutvergießen gekommen. Eine Kompanie der Reichswehr war bei ihrem Marsch auf der Straße beschossen, ein Mann getötet worden. Daraufhin eröffnete der Kompaniechef entschlossen Feuer, und es fielen mehrere Unruhestifter. Diese Handlungsweise war gewiss berechtigt und war bestimmt keine grausame Handlung gegen die Arbeiterschaft, wie es eine entstellende Linkspropaganda auslegte."
Die Beklagte hatte nach alledem einen legitimen, von ihren eigenen Grundsätzen zur Straßenumbenennung erfassten Grund, die Lettow-Vorbeck-Allee umzubenennen.
Dem anerkennenswerten Interesse an der Umbenennung der Lettow-Vorbeck-Allee stehen gegenläufige geschützte Interessen der Kläger nicht entgegen. Die von den Klägern geltend gemachten Belastungen - Unklarheiten und Benachteiligungen bei der Zustellung von Post und der Führung amtlicher Akten sowie erhebliche Kosten für die Anwohner - hat die Beklagte in ihre Ermessensentscheidung einbezogen. Sie hat Vorkehrungen zur Verminderung der Belastungen angekündigt. Im Übrigen sind die Kosten auch nicht unverhältnismäßig, weil die Lettow-Vorbeck-Allee jedenfalls auf dem Abschnitt, auf dem die Kläger wohnen, seit 1937 ihren Namen trägt und die Kläger bislang noch nicht mit Umstellungskosten belastet worden sind.
Es stellt auch keinen Ermessensfehler dar, wenn die Beklagte nicht schon in der Vergangenheit die Lettow-Vorbeck-Allee umbenannt hat, auch wenn es seit den 1960er Jahren hierzu Gelegenheiten gegeben hätte. Es gibt keinen Rechtssatz, der erstens eine Umbenennung zum erstmöglichen Zeitpunkt gebietet und zweitens spätere Umbenennungen unzulässig macht. Die Empfehlung des Deutschen Städte- und Gemeindetags zur frühestmöglichen Straßenbenennung, auf den die Kläger sich stützen, stellt keinen Rechtssatz auf, sondern ist eine bloße Empfehlung für die politischen Entscheidungsträger. Die Kläger verkennen hier den Gestaltungsspielraum der Gemeinden bei der Straßenbenennung und -umbenennung; diese vollziehen sich in erster Linie im politischen Raum.
Schließlich können sich die Kläger auch nicht auf ein wie auch immer geartetes Kohärenzgebot berufen, das eine in sich schlüssige, gemeindeweit gleichmäßig vollzogene Umbenennungspolitik geböte. Darauf, dass es auf dem Gebiet der Beklagten eine Reihe von Straßen gibt, die den Namen von Personen tragen, die möglicherweise nach den beklagteneigenen Grundsätzen eine Umbenennung rechtfertigten, hat die Kammer selbst schon in ihrer Entscheidung vom 01.11.1993 - 10 A 3675/93 - (S. 18 des Umdrucks) hingewiesen. Aber auch hier gilt, dass sich die Prüf- und Entscheidungsprozesse im wesentlichem im politischen Raum abspielen. Die Entscheidung, ob und wann sie die Prüfung einer Umbenennung einleitet, obliegt allein der Beklagten und ist nicht justiziabel. Im Übrigen ist auch fraglich, ob sich die Kläger auf die Verletzung eines derartigen Kohärenzgebots berufen könnten. Eine Verletzung eigener Rechte kann ersichtlich nicht in dem Umstand liegen, dass andere Straßen nicht ebenfalls umbenannt werden.
Soweit in dem streitgegenständlichen Beschluss auch die Neubenennung der Lettow-Vorbeck-Allee in Namibia-Allee geregelt wird, haben die Kläger nichts vorgebracht; es sind auch keine Gründe ersichtlich, die gegen diese Namensgebung sprächen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.