Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 06.05.2009, Az.: 15 K 446/08

Ermittlung des Lebensbedarfs eines behinderten Kindes i.R.e. Kindergeldanspruchs; Berücksichtigung eines behinderungsbedingten Mehrbedarfs neben dem Grundbedarf bei der Ermittlung des existentiellen Lebensbedarfs

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
06.05.2009
Aktenzeichen
15 K 446/08
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2009, 36830
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2009:0506.15K446.08.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - 09.02.2012 - AZ: III R 53/10

Kindergeld ab Januar 2008

Im Rahmen der §§ 62, 63, 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG kann bei Kindern, die in einer Werkstatt für Behinderte beschäftigt sind und in einer eigenen Wohnung leben, der Behindertenpauschbetrag i.S. des § 33 b Abs. 3 EStG herangezogen werden, um (ohne Einzelnachweise) den notwendigen behinderungsbedingten Mehrbedarf abzudecken.

Tatbestand

1

In dem Verfahren ist streitig, ob die Klägerin Anspruch auf Kindergeld für ihren Sohn ab Januar 2008 hat.

2

Die Klägerin ist die leibliche Mutter ihres am xx.xx 1973 geborenen Sohnes A.. Dieser leidet seit seinem 7. Lebensjahr an einer schweren Epilepsie. Laut letztem Bescheid des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie beträgt der Grad der Behinderung des Sohnes A. 100% und es werden die Merkzeichen "G", "B", "RF" und "H" festgestellt.

3

Der Sohn A. lebt in einer eigenen Wohnung in B.. Er geht einer Beschäftigung im Arbeitsbereich der B. Werkstätten gGmbH nach und erhält deshalb Eingliederungshilfen gemäß §§ 53, 54 des Sozialgesetzbuches (SGB) 12. Buch (XII). Als Arbeitsentgelt in der teilstationären Einrichtung erhält der Sohn A. seit Januar 2008 monatlich 152,28 EUR. Daneben erhält der Sohn eine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von 557,35 EUR.

4

Die Klägerin beantragte am 31. Dezember 2007 Kindergeld für ihren Sohn A.. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13. März 2008 mit der Begründung ab, die Behinderung des Sohnes A. sei nicht vor Erreichen des 25. Lebensjahres eingetreten.

5

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin form- und fristgerecht Einspruch ein. Dieser Einspruch hatte zum Teil Erfolg. Mit Bescheid vom 20. Oktober 2008 bewilligte die Beklagte der Klägerin Kindergeld für ihren Sohn A. für den Zeitraum von August 2005 bis Dezember 2007. Durch Einspruchsbescheid vom 17. Oktober 2008 wies die Beklagte den Einspruch für den Zeitraum ab Januar 2008 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, der Sohn A. sei wirtschaftlich in der Lage, seinen notwendigen Bedarf selbst abzudecken. Die ihm zuzurechnenden Mittel reichten aus, den lebensnotwendigen Bedarf in Höhe von 640,00 EUR monatlich abzudecken. Die Bezüge seien wie folgt zu ermitteln:

Art der Einkünfte/Bezügemtl.
Erwerbsunfähigkeitsrente557,35 EUR
Werkstatt-Einkünfte152,28 EUR
Sachbezug Mittagessen80,00 EUR
Summe:789,63 EUR
abzüglich Arbeitnehmer-Pauschbetrag76,67 EUR
abzüglich Bezüge-Pauschale15,00 EUR
verbleiben697,96 EUR
6

Dabei vertrat die Beklagte die Ansicht, dass bei Kindern - wie im Streitfall bei dem Sohn A. -, die in einer Werkstatt für Behinderte beschäftigt seien und in einer eigenen Wohnung lebten, der Behindertenpauschbetrag i.S. des § 33 b Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht herangezogen werden könne, um den notwendigen behinderungsbedingten Mehrbedarf ohne Einzelnachweise abzudecken.

7

Hiergegen richtet sich die am 18. November 2008 erhobene Klage. Die Klägerin trägt vor, der für den Kindergeldanspruch maßgebende Gesamtbedarf bestehe aus dem Grundbedarf und dem zusätzlichen behinderungsbedingten Mehrbedarf. Hier entstünden ihr und ihrem Ehemann zusätzliche Belastungen

  • durch die Beratung und Hilfestellung in allen finanziellen Angelegenheiten,

  • durch Beantworten von Schriftstücken, Stellen von Anträgen und Begleitung bei Behördengängen,

  • durch Veranlassung zur Begleitung bei Bekleidungseinkäufen,

  • durch Motivation und Aufforderung zur Körperpflege sowie Begleitung zu Facharzt- und Zahnarztbesuchen,

  • durch Gespräche und Beratung bei Problemen und Konflikten, die sich im Rahmen der Arbeit in der Behindertenwerkstatt ergäben,

  • durch Motivation zur geschäftlichen Teilhabe sowie

  • durch Versorgung im Elternhaus bei Erkrankung oder Umstellung der Medikation.

8

Die Klägerin äußert die Rechtsauffassung, bei der Ermittlung des behindertenbedingten Mehrbedarfs sei trotz der teilstationären Maßnahme auf § 33 b Abs. 3 EStG zurückzugreifen.

9

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 15. März 2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr ab Januar 2008 Kindergeld für ihren Sohn A. zu gewähren.

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Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

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Sie hält an ihrer im Einspruchsbescheid vertretenen Rechtsauffassung fest, dass neben dem auf der Grundlage der gezahlten Eingliederungshilfe ermittelten Mehrbedarf der zusätzliche Ansatz des Pauschbetrags nach dem Einkommensteuergesetz nicht in Betracht komme.

12

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter erklärt (§ 79 a Abs. 3, 4 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) und auf mündliche Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 FGO; Schriftsatz der Klägerin vom 19. Februar 2009, Bl. 22 der Gerichtsakte; Schriftsatz der Beklagten vom 15. Januar 2009, Bl. 18 der Gerichtsakte).

Entscheidungsgründe

13

Die Klage ist begründet.

14

Der angefochtene Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 15. März 2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2008 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 FGO). Die Klägerin hat ab Januar 2008 Anspruch auf Kindergeld für ihren Sohn A..

15

1.

Gemäß §§ 62, 63 EStG i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Ein behindertes Kind ist erst dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist folglich anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich der gesamte Lebensbedarf des Kindes einerseits sowie die finanziellen Mittel des Kindes andererseits, zu prüfen. Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche Leistungsfähigkeit mindert (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, 87, BStBl II 1990, 653, 658 und Urteil des Bundesfinanzhofs -BFH - vom 15. Oktober 1999, VI R 40/98, BStBl II 2000, 75).

16

Demzufolge sind dem Lebensbedarf des Kindes seine finanziellen Mittel gegenüberzustellen. Der Lebensbedarf eines behinderten Kindes setzt sich nach der Rechtsprechung des BFH (BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999, VI R 40/98, a.a.O.) typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf), der entsprechend dem Grenzbetrag in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zu beziffern ist, und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Zum behinderungsbedingten Mehrbedarf gehören dabei alle mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammen hängenden Belastungen, z.B. Wäsche, Hilfeleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen. Erfolgt insoweit seitens des Steuerpflichtigen kein Einzelnachweis, so kann der maßgebliche Behindertenpauschbetrag (§ 33 b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen (vgl. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999, VI R 40/98, a.a.O. und BFH-Beschluss vom 19. Mai 2004 VIII B 245/03, [...], m.w.N.). Dies soll jedoch regelmäßig nicht bei vollstationärer Unterbringung des Kindes gelten, da in den Heimkosten verschiedene Kostenbestandteile enthalten sind, die von dem Pauschbetrag des § 33 b Abs. 3 EStG typisierend mit erfasst werden (BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999, VI R 40/98, a.a.O. und BFH-Beschluss vom 19. Mai 2004 VIII B 245/03, a.a.O.).

17

Eine vollstationäre Unterbringung, die dem Abzug des Pauschbetrages für behinderungsbedingten Mehrbedarf entgegenstehen würde, ist vorliegend aber nicht gegeben. Vielmehr lebt der Sohn zeitweise in einem eigenen Haushalt, in dem er von der Klägerin und deren Ehemann versorgt, betreut und unterstützt wird und zeitweise im Haushalt der Eltern. Das Gericht geht daher davon aus, dass erhebliche mit der Behinderung unmittelbar und typischerweise zusammenhängende Belastungen anfallen (vgl. auch Urteil des FG Sachsen-Anhalt vom 3. April 2002 2 K 131/99, EFG 2000, 875 und Urteile des Niedersächsischen FG vom 4. September 2003 8 K 627/02, EFG 2004, 905 und vom 1. April 2008 8 K 537/06, [...]). Dem steht die Abwesenheit des Sohnes aufgrund seiner Tätigkeit in der B. Werkstätten gGmbH nicht entgegen, denn für die verbleibende, deutlich überwiegende Zeit ist eine zusätzliche Versorgung und Betreuung erforderlich. Die Tätigkeit in der B. Werkstätten gGmbH unterscheidet sich insoweit nicht von einer sonstigen (Teilzeit-) Berufstätigkeit, die der Berücksichtigung des Pauschbetrages für behinderungsbedingten Mehrbedarf ebenfalls nicht entgegenstehen würde (Urteile des Niedersächsischen FG vom 4. September 2003 8 K 627/02, a.a.O. und vom 1. April 2008 8 K 537/06, a.a.O.).

18

Entgegen der Ansicht der Beklagten hindert die gezahlte Eingliederungshilfe nicht den Ansatz des Pauschbetrags nach § 33 b Abs. 3 EStG. Denn bei Eingliederungshilfen handelt es sich um zweckgebundene behinderungsbedingte Bezüge, die bei Ermittlung des Bedarfs eines volljährigen behinderten Kindes außer Ansatz bleiben müssen (BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999, VI R 40/98, a.a.O. und BFH-Beschluss vom 19. Mai 2004 VIII B 245/03, a.a.O.).

19

Bei der Ermittlung des existentiellen Lebensbedarfs ist daher neben dem Grundbedarf ein behinderungsbedingter Mehrbedarf zu berücksichtigen, der mangels Einzelnachweis mit dem Pauschbetrag nach § 33 b Abs. 3 Satz 3 EStG in Höhe von 3.700 EUR jährlich anzusetzen ist, denn der Sohn A. ist ausweislich des Bescheides des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie hilflos im Sinne des § 33 b Abs. 6 EStG (zum Nachweis vgl. § 65 Abs. 2 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung).

20

Dem steht nicht entgegen, dass der Sohn A. (zeitweise) in einem eigenen Haushalt wohnt. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist offensichtlich, dass auch einem Behinderten, der im eigenen Haushalt lebt, ein behinderungsbedingter Mehrbedarf entsteht. Dies haben die Klägerin und ihr Ehemann hinreichend dargelegt.

21

Die Einkünfte und Bezüge des Sohnes A. reichen nicht aus, seinen Grundbedarf und den behinderungsbedingten Mehrbedarf zu decken. Als existentieller Lebensbedarf ergibt sich dabei für 2008 ein Grundbedarf in Höhe von 7.680 EUR und ein behinderungsbedingter Mehrbedarf in Höhe von 3.700 EUR, insgesamt 11.380 EUR jährlich, also 948,33 EUR monatlich. Die o.g. monatlichen Einkünfte und Bezüge des Sohnes übersteigen den existentiellen Lebensbedarf demzufolge nicht.

22

2.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 1, 3 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.