Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 01.04.2008, Az.: 8 K 537/06
Berücksichtigung des Behinderten-Pauschbetrages bei Tätigkeit in Behindertenwerkstatt und wohnen in eigener Wohnung; Lebensbedarf eines behinderten Kindes nach der Rechtsprechung
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 01.04.2008
- Aktenzeichen
- 8 K 537/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 27340
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2008:0401.8K537.06.0A
Rechtsgrundlage
- § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG
Fundstelle
- Jurion-Abstract 2008, 228768 (Zusammenfassung)
Verfahrensgegenstand
Kindergeld Januar 2003 bis September 2006 und Rückforderung - Einspruchsentscheidung vom 04.12.2006
Amtlicher Leitsatz
Orientierungssatz:
Berücksichtigung des Behinderten-Pauschbetrages bei Tätigkeit in Behindertenwerkstatt und wohnen in eigener Wohnung (Bestätigung des Senatsurteils vom 04.09.2003 8 K 627/02, EFG 2004, 905)
Tatbestand
Streitig ist, ob dem Kläger ab Januar 2003 bis September 2006 weiterhin Kindergeld für seinen Sohn M zusteht.
Der Kläger ist Vater des 1968 geborenen Sohnes M. Der Sohn leidet von Geburt an einer Behinderung (....). Laut Bescheid des Versorgungsamtes beträgt der Grad der Behinderung ab 01.04.2000 100%, es sind die Merkzeichen RF, G, H und B festgestellt. Im Streitzeitraum lebte er in einem eigenen Haushalt.
Der Sohn erhielt von der Stadt B Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz. In der Zeit vom 01.03.2006 bis 31.05.2006 nahm der Sohn an einer Maßnahme zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben teil und erhielt hierfür Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gemäß §§ 97 ff Sozialgesetzbuch - Drittes Buch (SGBIII) i.V.m. § 33 und §§ 44 ff SGB IX in Höhe von 57 EUR. Ab dem 01.06.2006 erfolgte eine teilstationäre Betreuung im Arbeitsbereich der Werkstatt für behinderte Menschen der Lebenshilfe B. Hierfür erhält der Sohn Arbeitslohn.
Nach den nicht streitigen Berechnungen der Beklagten hatte der Sohn folgende Einkünfte und Bezüge:
Januar 2003 in Höhe von 679,55 EUR, Februar 2003 in Höhe von 679,55 EUR, März 2003 in Höhe von 679,55 EUR, April 2003 in Höhe von 679,55 EUR, Mai 2003 in Höhe von 818,55 EUR, Juni 2003 in Höhe von 818,55 EUR, Juli 2003 in Höhe von 822,55 EUR, August 2003 in Höhe von 822,55 EUR, September 2003 in Höhe von 683,53 EUR, Oktober 2003 in Höhe von 683,53 EUR, November 2003 in Höhe von 683,53 EUR, Dezember 2003 in Höhe von 683,53 EUR.
Januar 2004 bis Mai 2004 in Höhe von jeweils 683,53 EUR, Juni 2004 bis Dezember 2004 in Höhe von jeweils 689,65 EUR.
Januar 2005 bis Juli 2005 in Höhe von jeweils 693,70 EUR, August 2005 bis Dezember 2005 in Höhe von jeweils 694,70 EUR.
Januar 2006 in Höhe von 694,70 EUR, Februar 2006 in Höhe von 694,70 EUR, März 2006 in Höhe von 886,82 EUR, April 2006 in Höhe von 768,70 EUR, Mai 2006 in Höhe von 768,70 EUR, Juni 2006 in Höhe von 812,70 EUR, Juli 2006 in Höhe von 759,22 EUR, August 2006 in Höhe von 783,20 EUR, September 2006 in Höhe von 797,95 EUR.
Mit Bescheid vom 23.11.2006 hob die Beklagte die bisherige Festsetzung des Kindergeldes für den Sohn M ab Januar 2003 auf mit der Begründung, der Sohn sei durch eigene Einkünfte/Bezüge imstande, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. In dem Bescheid forderte die Beklagte gleichzeitig das bisher für den Zeitraum von Januar 2003 bis September 2006 gezahlte Kindergeld in Höhe von 6.930 EUR zurück.
Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein, den der Beklagte mit Bescheid vom 04.12.2006 als unbegründet zurück wies. Er führte dabei aus, die Einkünfte und Bezüge des Sohnes überstiegen die Grenzbeträge in Höhe von 599 EUR bzw. 640 EUR monatlich. Bei behinderten Kindern, die einen eigenen Haushalt führten, könne kein behinderungsbedingte Mehraufwand berücksichtigt werden.
Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage.
Im Klageverfahren führt der Kläger aus, sein Sohn sei auf ständige intensive Pflege und Betreuung angewiesen. Ohne Unterstützung seiner Eltern oder Dritter sei der Sohn nicht in der Lage, sein Leben eigenständig zu bestreiten. Dies betreffe insbesondere die notwendige erhebliche Unterstützung bei der Haushaltsführung (z.B. Wäsche, Hilfeleistungen, Einkaufen, Arztbesuche, Behördengänge etc.) und Freizeitgestaltung (Erholung) sowie Tagesstrukturierung. Die Eltern organisierten die Betreuung ihres Sohnes und unterstützten diesen in allen täglichen Lebensbereichen. Der Sohn arbeite in der Werkstatt für behinderte Menschen der Lebenshilfe B, von Montag bis Feitag je 4 Stunden täglich. In der übrigen Zeit bedürfe er aufgrund seiner Behinderung der ständigen Betreuung und Unterstützung durch seine Eltern. Die Eltern hätten dem Sohn in ihrem 12 km von ihrer eigenen Wohnung entfernten Mietshaus eine Wohnung vermietet. Dort halte er sich aber nur einen Teil der Woche (Montag - Mittwoch) auf. Während der übrigen Zeit suche der Sohn den elterlichen Haushalt auf und werde dort betreut und versorgt. Aufgrund von behinderungsbedingten Panikattacken und Berührungsängsten lasse er Dritte nicht an sich heran und sei auf die Betreuung und Unterstützung der Eltern angewiesen. An den Tagen in der sich der Sohn in seiner eigenen Wohnung aufhalte, fahre die Mutter täglich zu ihm, um ihn zu betreuen.
Vorliegend stehe dem Kläger ein Anspruch auf Kindergeld zu. Bei der Ermittlung des Lebensbedarfs sei neben dem Grundbedarf ein behinderungsbedingter Mehrbetrag zu berücksichtigen. Dieser sei mit dem Pauschbetrag nach § 33 b Abs. 3 Satz 3 Einkommensteuergesetz (EStG) in Höhe von 3.700 EUR jährlich anzusetzen, da dem Sohn vorliegend das Merkzeichen H (Hilflosigkeit) zuerkannt sei.
Dass der Sohn in einer eigenen Wohnung lebe, rechtfertige keinesfalls die Verweigerung des Behindertenpauschbetrages. Es sei unerheblich, ob das behinderte Kind im elterlichen Haushalt oder in der eigenen Wohnung lebe und dort betreut werde, da in beiden Fällen regelmäßig behinderungsbedingter Mehrbedarf und typische Erschwernisaufwendungen anfielen. Es sei sowohl mit dem Einkommensteuergesetz wie auch mit Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz unvereinbar, behinderte Menschen und Kinder durch das Beziehen einer eigenen Wohnung schlechter zu stellen als behinderte Menschen im elterlichen Haushalt. Dies würde eine sachlich nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung darstellen, da auch Eltern studierender, mittelloser Kinder ggf. einen Anspruch auf Kindergeld hätten, unabhängig davon, ob das Kind im elterlichen Haushalt lebe oder am Studienort eine eigene Wohnung unterhalte. Es wäre völlig willkürlich, behinderten Kindern im eigenen Haushalt den behinderungsbedingten Mehrbedarf für die mit der Behinderung unmittelbar zusammenhängenden Belastungen zu versagen.
Die Einkünfte des Sohnes reichten nicht aus, seinen Grundbedarf und den behinderungsbedingten Mehrbedarf zu decken. Damit sei er außerstande, sich selbst zu unterhalten.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 23.11.2006 und die Einspruchsentscheidung vom 04.12.2006 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er vertritt die Auffassung, der Pauschbetrag für behinderungsbedingten Mehrbedarf nach § 33b Abs. 3 EStG könne bei Kindern, die im eigenen Haushalt untergebracht seien, nicht angesetzt werden, weil dieser aufgrund der übergreifenden Informationen nach Auffassung des Bundesamtes für Finanzen nur im Falle der Unterbringung im Haushalt der Eltern anzusetzen sei und bei Unterbringung im eigenen Haushalt eben nicht genannt worden sei.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Ein behindertes Kind ist erst dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist folglich anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs des Kindes einerseits sowie der finanziellen Mittel des Kindes andererseits, zu prüfen. Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche Leistungsfähigkeit mindert (vgl. BVerfG-Beschluss vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, 87, BStBl II 1990, 653, 658 und BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999, VI R 40/98, BStBl II 2000, 75).
Demzufolge sind dem Lebensbedarf des Kindes seine finanziellen Mittel gegenüberzustellen. Der Lebensbedarf eines behinderten Kindes setzt sich nach der Rechtsprechung des BFH (BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999, VI R 40/98, BStBl II 2000, 75) typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf), der entsprechend dem Grenzbetrag in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zu beziffern ist, und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Zum behinderungsbedingten Mehrbedarf gehören dabei alle mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammen hängenden Belastungen, z.B. Wäsche, Hilfeleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen. Erfolgt insoweit seitens des Steuerpflichtigen kein Einzelnachweis, so kann der maßgebliche Behindertenpauschbetrag (§ 33 b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen (vgl. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999, VI R 40/98, BStBl II 2000, 75 und BFH-Beschluss vom 19.05.2004 VIII B 245/03, [...], m.w.N.). Dies soll jedoch regelmäßig nicht bei vollstationärer Unterbringung des Kindes gelten, da in den Heimkosten verschiedene Kostenbestandteile enthalten sind, die von dem Pauschbetrag des § 33 b Abs. 3 EStG typisierend mit erfasst werden (vgl. BFH-Beschluss vom 19.05.2004 VIII B 245/03, [...], m.w.N.).
Eine vollstationäre Unterbringung, die dem Abzug des Pauschbetrages für behinderungsbedingten Mehrbedarf entgegenstehen würde, ist vorliegend aber nicht gegeben. Vielmehr lebt der Sohn zeitweise in einem eigenen Haushalt, in dem er vom Kläger und dessen Ehefrau versorgt, betreut und unterstützt wird und zeitweise im Haushalt der Eltern. Der Senat geht daher davon aus, dass erhebliche mit der Behinderung unmittelbar und typischerweise zusammenhängende Belastungen anfallen (vgl. auch Urteil des FG Sachsen-Anhalt vom 3. April 2002, 2 K 131/99, EFG 2000, 875 und Senatsurteil vom 04.09.2003 8 K 627/02, EFG 2004, 905, NZB unzulässig BFH-Beschluss vom 19.05.2004 VIII B 245/03, [...]). Dem steht die Abwesenheit des Sohnes aufgrund seiner Tätigkeit in der Werkstatt für behinderte Menschen der Lebenshilfe B nicht entgegen (vgl. Senatsurteil vom 04.09.2003 8 K 627/02, EFG 2004, 905, NZB unzulässig BFH-Beschluss vom 19.05.2004 VIII B 245/03, [...]), denn für die verbleibende, deutlich überwiegende Zeit ist eine zusätzliche Versorgung und Betreuung erforderlich. Die Tätigkeit in der Werkstatt für behinderte Menschen der Lebenshilfe B unterscheidet sich insoweit nicht von einer sonstigen (Teilzeit-) Berufstätigkeit, die der Berücksichtigung des Pauschbetrages für behinderungsbedingten Mehrbedarf ebenfalls nicht entgegenstehen würde.
Bei der Ermittlung des existentiellen Lebensbedarfs ist daher neben dem Grundbedarf ein behinderungsbedingter Mehrbedarf zu berücksichtigen, der mangels Einzelnachweis mit dem Pauschbetrag nach § 33b Abs. 3 S. 3 EStG in Höhe von 3.700 EUR jährlich anzusetzen ist, denn der Sohn M ist ausweislich des Bescheides des Versorgungsamtes B hilflos im Sinne des § 33b Abs. 6 EStG.
Dem steht nicht entgegen, dass der Sohn M (zeitweise) in einem eigenen Haushalt wohnt. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist offensichtlich, dass auch einem Behinderten, der im eigenen Haushalt lebt, ein behinderungsbedingter Mehrbedarf entsteht. Dies haben der Kläger und seine Ehefrau in der mündlichen Verhandlung auch für den Sohn M überzeugend dargelegt.
Die Einkünfte und Bezüge des Sohnes M reichen nicht aus, seinen Grundbedarf und den behinderungsbedingten Mehrbedarf zu decken. Als existentieller Lebensbedarf ergibt sich dabei für 2003 ein Grundbedarf in Höhe von 7.188 EUR und ein behinderungsbedingter Mehrbedarf in Höhe von 3.700 EUR, insgesamt 10.888 EUR jährlich, also 907,33 EUR monatlich und für 2004 bis 2006 ein Grundbedarf in Höhe von 7.680 EUR und ein behinderungsbedingter Mehrbedarf in Höhe von 3.700 EUR, insgesamt 11.380 EUR jährlich, also 948,33 EUR monatlich. Die o.g. monatlichen Einkünfte und Bezüge des Sohnes übersteigen den existentiellen Lebensbedarf demzufolge nicht.
Der Bescheide über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung war daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 FGO.
Die Entscheidungen über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruhen auf den §§ 151, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.