Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 31.05.2016, Az.: 11 LB 53/15

Verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung bestimmter Personen hinsichtlich der Türkei; Annahme einer Verfolgungsgefahr im Zusammenhang mit einem laufenden Strafverfahren wegen Mitgliedschaft in der PKK; Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegenüber einem türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
31.05.2016
Aktenzeichen
11 LB 53/15
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 17980
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2016:0531.11LB53.15.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 25.11.2014

Fundstellen

  • DÖV 2016, 740
  • InfAuslR 2016, 450-453
  • InfAuslR 2016, 323-324
  • NVwZ 2016, 1344
  • ZAR 2016, 354

Amtlicher Leitsatz

Es ist weiterhin davon auszugehen. dass hinsichtlich der Türkei eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung bei Personen bestehen kann, bei denen Besonderheiten vorliegen, etwa weil sie in das Fahndungsregister eingetragen sind, gegen sie Ermittlungs oder Strafverfahren anhängig sind oder sie sich in besonders exponierter Weise exilpolitisch betätigt haben und deshalb in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie als potenzielle Unterstützer der PKK angesehen werden.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Der am 3. April 1986 in D. in der Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach seinen Angaben reiste er am 28. Mai 2012 aus der Türkei aus und am 1. Juni 2012 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am 11. Juni 2012 die Anerkennung als Asylberechtigter beantragte. Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 4. Juli 2012 gab der Kläger an, dass er 2006 begonnen habe, Geschichte und Wirtschaft an der Universität in D. zu studieren. Am 19. März 2008 sei er bei einer Wohnungsdurchsuchung zusammen mit seinen Mitbewohnern festgenommen worden und zunächst in Polizeihaft gewesen. Auf dem Polizeirevier sei er in einem als Anwaltszimmer gekennzeichneten Raum ohne Kameras am Ohr gezogen worden, habe leichte Tritte erhalten und ihm sei der Finger nach hinten gebogen worden. Er habe bestimmte Sachen zugeben sollen, um freigelassen zu werden, was er aber nicht getan habe. Gefoltert worden sei er nicht. Vom 22. März 2008 bis zum 31. Juli 2008 sei er in Untersuchungshaft gewesen. Dort sei er nicht misshandelt worden. Er und seine Freunde seien wegen Terrors beschuldigt worden. Zwölf seiner Freunde seien zu Haftstrafen verurteilt worden. Er selbst sei im April 2009 zwar freigesprochen worden, der Staatsanwalt habe dagegen aber Revision eingelegt, so dass sein Verfahren noch nicht abgeschlossen sei. Ihm drohe eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten. Er wolle nicht wieder ins Gefängnis, sondern einfach sein Studium beenden. Am 26. April 2012 habe es einen ersten Gerichtstermin gegeben, weitere Termine hätten am 31. Mai 2012 und am 12. Juli 2012 stattgefunden. Da einer der Mitangeklagten geflohen sei, sei gegen ihn ein Ausreiseverbot verhängt worden. Er sei zu den Gerichtsterminen nicht erschienen. Daher sei am 1. Juni 2012 ein Haftbefehl gegen ihn ergangen. Seit seiner Immatrikulation 2006 habe er sich politisch betätigt. Er sei an der Gründung des Vereins Fiat Kultur Ve Sanat Dernegi beteiligt gewesen, einem studentischen Kulturverein, in dem politische Reden gehalten und Symposien veranstaltet worden seien. Nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft habe er an der Universität E. studiert. Dort habe er in dem Verein Kizilirmak Kültürevi mitgemacht und dabei geholfen, Newroz-Feierlichkeiten zu organisieren und Kontakte zu Parteien und Gewerkschaften zu knüpfen. Es sei immer wieder zu Ausweiskontrollen durch die Polizei gekommen. Auf Anraten seiner Eltern habe er sich 2011 nach einer Amnestie für Studenten wieder an der Universität in D. immatrikulieren lassen. Auch dort sei er immer wieder von der Polizei kontrolliert und zu Aktivitäten anderer Studenten befragt worden. Er sei im Jugendverband der DTP, der YDG-M, gewesen. Zu Wahlzeiten habe er in den verschiedenen Landkreisen die DTP bzw. die BDP unterstützt. Sie hätten auch den Familien getöteter Guerillakämpfer geholfen, deren Leichen nach D. gebracht worden seien.

Der Kläger legte dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auszugsweise Kopien u.a. von folgenden Dokumenten (teilweise mit Übersetzung) vor: Revisisonsantrag der Generalstaatsanwaltschaft F. vom 28. Mai 2009, Beschluss des Kassationsgerichts vom 13. Dezember 2011, Haftbefehl der 3. großen Strafkammer des Strafgerichts F. vom 1. Juni 2012 sowie im Original und mit Übersetzung ein Schreiben des Rechtsanwaltes G. vom 23. August 2012. Darin teilte der Rechtsanwalt mit, dass das Strafverfahren gegen den Kläger wegen Mitgliedschaft in einer illegalen Vereinigung nach Aufhebung des Freispruchs bei dem 3. Strafgericht in F. fortgesetzt werde und der Kläger bei einer Verurteilung eine langjährige Freiheitsstrafe zu verbüßen habe.

Mit Bescheid vom 17. Januar 2012 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag des Klägers ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Gleichzeitig wurde der Kläger unter Fristsetzung und Abschiebungsandrohung zur Ausreise aufgefordert.

Der Kläger hat am 23. Januar 2013 Klage erhoben. Zur Begründung hat er sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt und ergänzend geltend gemacht, dass ihm, wie sich aus dem vorgelegten Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 15. März 2013 vor dem 3. Strafgericht in F. ergebe, vorgeworfen werde, in der Jugendbewegung der PKK/Kongra-Gel (YDG-H) mitgewirkt zu haben sowie Mitglied der PKK/Kongra-Gel zu sein und diese Terrororganisation unterstützt zu haben, was durch das Geständnis des Mitangeklagten H. I. und die Beschlagnahme von Unterlagen festgestellt worden sei. Aufgrund seiner politischen Überzeugung und seines Eintretens für die kurdischen Interessen im Rahmen seiner Tätigkeiten für die DTP/BDP drohe ihm im Falle der Rückkehr in die Türkei politische Verfolgung. Er müsse wegen des Haftbefehls damit rechnen, bei einer Wiedereinreise verhaftet zu werden. Im unmittelbaren Zusammenhang mit der zu erwartenden Verhaftung und polizeilichen Ingewahrsamnahme bestehe die Gefahr von Misshandlungen und Folter. Bei Strafvorwürfen, die unter das Antiterrorgesetz fallen, werde Beschuldigten regelmäßig in den ersten 24 Stunden nach der Festnahme der Zugang zu einem Anwalt verweigert. Diese Frist könne auf 48 Stunden ausgeweitet werden. In dieser Zeitspanne bestehe eine erhöhte Gefahr, von Sicherheitskräften misshandelt zu werden. Trotz der von der AKP-Regierung betriebenen "Null-Toleranz-Politik" sei es bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung völlig zu unterbinden. Insbesondere beim Vorwurf der PKK-Zugehörigkeit komme es verbreitet zu Verhören mit Folter und Misshandlungen. Die ihm zur Last gelegten Taten bewegten sich im Bereich politisch motivierter Straftaten. In dem anhängigen Strafverfahren gehe es daher letztlich um die Sanktionierung seiner politischen Gesinnung. Sieben Mitangeklagte, die wie er in der ersten Gerichtsverhandlung freigesprochen worden seien, seien inzwischen zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Solange er sich in Deutschland aufhalte, werde keine Entscheidung im Strafverfahren ergehen und der Haftbefehl bleibe aufrechterhalten.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 25. November 2014 hat der Kläger seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter zurückgenommen.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylVfG zuzuerkennen, hilfsweise, den subsidiären Status nach § 4 AsylVfG zuzuerkennen, weiterhin hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat erwidert, dass es dem Kläger zuzumuten sei, sich gegebenenfalls unter Zuhilfenahme eines Verfahrensbevollmächtigten dem wiederaufgenommenen Strafverfahren in der Türkei zu stellen, um seine Unschuld zu beweisen. Für eine politische Verfolgung unter dem Deckmantel behaupteter Terrorismusbekämpfung lägen keine belastbaren Erkenntnisse vor.

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 12. März 2014 eine Auskunft des Auswärtigen Amtes zu folgenden vom Kläger vorgelegten Dokumenten eingeholt:

1. Anklageschrift der Staatsanwaltschaft F. vom 17. Juni 2008 in Kopie

2. Haftbefehl der 3. großen Strafkammer des Strafgerichts F. vom 1. Juni 2012 in Kopie nebst Übersetzung

3. Verfahrensprotokoll des Strafgerichts F. vom 15. März 2013 in Kopie nebst Übersetzung

4. Terminsprotokoll des Strafgerichts F. vom 10. Oktober 2013 in Kopie

5. Terminsprotokoll des Strafgerichts F. vom 5. Dezember 2013 in Kopie

Das Auswärtige Amt hat mit Botschaftsauskunft vom 7. Mai 2014 die Echtheit der von dem Kläger eingereichten Dokumente bestätigt und mitgeteilt, dass das Strafverfahren gegen den Kläger wegen des Vorwurfs der PKK-Mitgliedschaft von dem Gericht für schwere Straftaten in D. weitergeführt und aufgrund des Festnahmebeschlusses vom 1. Juni 2012 nach dem Kläger gefahndet werde.

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 25. November 2014 die Beklagte verpflichtet, den subsidiären Schutz im Sinne des § 4 AsylVfG bei dem Kläger festzustellen, und den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Januar 2013 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Weiter hat das Verwaltungsgericht das Verfahren eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen worden ist, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung eine kriminelle Straftat darstelle und eine Verfolgung deshalb nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertige. Anhaltspunkte dafür, dass dieser Vorwurf nur vorgeschoben sei, um den Kläger aus anderen Gründen verfolgen zu können, seien nicht ersichtlich. Zwar bestehe die hinreichende Gefahr, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei in Haft genommen und dort möglicherweise gefoltert werde, diese Maßnahmen knüpften aber nicht an seine politische Überzeugung oder Volkszugehörigkeit, sondern an das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren wegen terroristischer Aktivitäten für die PKK an. Dem Kläger sei aber subsidiärer Schutz nach § 4 AsylVfG zuzubilligen. Für das Gericht stehe fest, dass gegen den Kläger in der Türkei ein an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägten, anknüpfendes Strafverfahren wegen angeblicher terroristischer Aktivitäten laufe und ihm im Rahmen der Strafverfolgungsmaßnahmen Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe. Gerade in Strafverfahren mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten sei nicht gesichert, dass Verfahrensgarantien eingehalten würden. Trotz gesetzgeberischer Maßnahmen sei es der Türkei nicht gelungen, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden.

Auf Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 18. Februar 2015 (11 LA 1/15) die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, soweit die Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgewiesen worden ist.

Zur Begründung seiner Berufung wiederholt der Kläger unter Vorlage weiterer Dokumente im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem erstinstanzlichen Verfahren und dem Zulassungsverfahren und macht ergänzend geltend, dass nach Beendigung des Friedensprozesses mit der PKK nicht davon ausgegangen werden könne, dass Folter und Misshandlungen durch die Polizei zurückgegangen seien. Vielmehr habe sich die Sicherheitssituation dramatisch verschlechtert. Es habe Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte gegeben. Ihm drohe allein wegen seiner vermeintlichen Nähe zur PKK die Gefahr von Folter und Misshandlung. Dies sei Indiz für das Vorliegen eines Politmalus.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 13. Kammer - vom 25. November 2014 - zu ändern und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen, und den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Januar 2013 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen und trägt vor, dass der Umstand, dass dem Kläger der unionsrechtliche subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden sei, für den weiter verfolgten Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft keine Bindungswirkung entfalte. Die von dem Verwaltungsgericht dargestellte Tatsachenlage möge den Schluss auf eine fehlende Sicherheit vor Folter und Misshandlungen rechtfertigen, sie trage jedoch nicht die Feststellung eines Prognosegrades der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer drohenden Rechtsgutsbeeinträchtigung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind. Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel ergeben sich aus der Anlage zu der Verfügung vom 4. April 2016 und dem Protokoll der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch das Verpflichtungsbegehren des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Verwaltungsgericht hat die darauf gerichtete Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Versagung der Flüchtlingseigenschaft durch die Beklagte ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG.

Maßgebende Rechtsgrundlage ist das Asylverfahrensgesetz in der Fassung durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl. S. 390 ff.), das Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern vom 11. März 2016 (BGBl. S. 394 f.) sowie das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 20. Oktober 2015 (BGBl. S. 1722 ff.). Nach dessen am 24. Oktober 2015 in Kraft getretenen Art. 1 (Art. 15 Abs. 1 Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz) ist das Asylverfahrensgesetz umbenannt worden und lautet nun Asylgesetz (AsylG).

Entscheidend sind daher die durch Art. 1 Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz unverändert gebliebenen und seit dem 1. Dezember 2013 geltenden §§ 3 ff. AsylVfG - jetzt: AsylG -, welche die Richtlinie 2011/95/EU in das deutsche Recht umsetzen. Die Änderung von § 3 Abs. 4 AsylG durch Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern ist für die hier zu treffende Entscheidung nicht relevant.

Der Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt sich aus § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, soweit er keinen Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention - GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Das Asylgesetz in der ab 24. Oktober 2015 geltenden Fassung setzt in §§ 3 bis 3e AsylG - wie die Vorgängerregelungen in §§ 3 ff. AsylVfG - die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 337, S. 9) - Qualifikationsrichtlinie (QRL) - im deutschen Recht um. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl 1952 II, S. 685, 953 - EMRK -) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

Bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft ("begründete Furcht vor Verfolgung") ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu Grunde zu legen (BVerwG, Urt. v. 7.9.2010 - BVerwG 10 C 11.09 -, , Rn. 14, und Urt. v. 27.4.2010 - BVerwG 10 C 5.09 -, , Rn. 22). Beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn die für die Annahme einer Verfolgungsgefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen.

Danach ist die Furcht des Klägers vor Verfolgung begründet, weil ihm im Falle seiner Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG drohen, die entsprechend § 3a Abs. 3 AsylG an Verfolgungsgründe nach § 3b Abs. 1 AsylG anknüpfen.

Dem Kläger drohen bei einer Rückkehr in die Türkei im Zusammenhang mit dem gegen ihn laufenden Strafverfahren wegen Mitgliedschaft in der PKK schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG insbesondere durch Anwendung physischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) sowie diskriminierende polizeiliche oder justizielle Maßnahmen (§ 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG). Diese Verfolgungsmaßnahmen drohen dem Kläger wegen seiner politischen Überzeugung und damit in Anknüpfung an Verfolgungsgründe im Sinne des § 3b Abs. 1 AsylG.

Zwar kann allein aus dem Akt der Strafverfolgung noch nicht darauf geschlossen werden, dass eine Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsrechts vorliegt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei staatlichen Maßnahmen, die allein dem grundsätzlich legitimen staatlichen Rechtsgüterschutz, etwa im Bereich der Terrorismusbekämpfung, dienen oder die nicht über das hinausgehen, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird, nicht von politischer Verfolgung auszugehen. Auch eine danach nicht asylerhebliche Strafverfolgung kann aber in politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen ließen, dass der Betroffene eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet (- sog. Politmalus -, Beschl. v. 4.12.2012 - 2 BvR 2954/09 -, , Rn. 24; Beschl. v. 29.4.2009 - 2 BvR 78/08 -, , Rn. 18; Beschl. v. 12.2.2008 - 2 BvR 2141/06 -, , Rn. 22). Eine besondere Intensität der Verfolgungsmaßnahmen ist ein Indiz für das Vorliegen eines Politmalus (Beschl. v. 29.4.2009 - 2 BvR 78/08 -, , Rn. 18; zur Indizwirkung von Folter: Beschl. v. 12.2.2008 - 2 BvR 2141/06 -, , Rn. 29). In Betracht kommen insoweit insbesondere körperliche Misshandlungen im Polizeigewahrsam. Derartige Übergriffe sind - anders als die bloße Verhaftung - von vornherein nur als eine außerhalb des Kanons staatlicher Kriminalstrafen und strafprozessualer Anordnungen stehende polizeiliche Repressionsmaßnahme vorstellbar (BVerwG, Urt. v. 10.1.1995 - BVerwG 9 C 276.94 -, , Rn. 19).

Der Senat geht in Fortführung seiner Rechtsprechung (Urt. v. 11.8.2010 - 11 LB 405/08 -, , m.w.N.) nach Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel und der weiteren obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung bei Personen bestehen kann, bei denen Besonderheiten vorliegen, etwa weil sie in das Fahndungsregister eingetragen sind, gegen sie Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig sind oder sie sich in besonders exponierter Weise exilpolitisch betätigt haben und deshalb in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie als potenzielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristischer Organisationen angesehen werden. Auch nach den jüngeren Auskünften kann nicht mit der gebotenen Verlässlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Türkei heute nur noch mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen (vermeintliche) Angehörige und Unterstützer der PKK vorgeht. Noch immer kommt es zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, ohne dass es dem türkischen Staat bisher gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. OVG Sachsen, Urt. v. 7.4.2016 - 3 A 557/13.A -, [...], Rn. 34, und Urt. v. 22.11.2014 - 3 A 35/10 -, [...], Rn. 43; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 27.8.2013 - A 12 S 2023/11 -, , Rn. 31; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 2.7.2013 - 8 A 2632/06.A -, , Rn. 104; Bayerischer VGH, Urt. v. 27.4.2012 - 9 B 08.30203 -, , Rn. 27 ff.; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 14.10.2011 - 10 A 10416/11 -, , Rn. 26 ff.; OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 1.12.2011 - 4 LB 8 /11 -, ).

Bei der Einreise in die Türkei hat sich jedermann, gleich welcher Volkszugehörigkeit, einer Personenkontrolle zu unterziehen. Dies gilt für abgeschobene oder freiwillig dorthin zurückkehrende Asylbewerber gleichermaßen. Ist eine Person in das Fahndungsregister eingetragen oder ist gegen sie ein Ermittlungsverfahren anhängig, wird sie in Polizeigewahrsam genommen; ist ein Strafverfahren anhängig, wird der Betroffene festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 29.9.2015, S. 30 f.)

In diesem Zusammenhang besteht für exponierte Mitglieder terroristischer Organisationen sowie als solche eingestufte Rückkehrer die Gefahr der Folter bzw. Misshandlung. Das Auswärtige Amt führt zwar aus, dass in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden sei, in dem ein aus Deutschland zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit seinen früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden sei, was auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen sowie als solche eingestufte Rückkehrer gelte. Diese Feststellung werde auch von türkischen Menschenrechtsorganisationen sowie von Auskünften anderer EU-Staaten und den USA geteilt (Lagebericht v. 29.9.2015, S. 29). Diese Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist allerdings nur bedingt aussagekräftig, da sich den Angaben des Auswärtigen Amtes nicht entnehmen lässt, dass unter den Zurückgekehrten oder Abgeschobenen Personen waren, bei denen nach der bisherigen Erkenntnislage mit Übergriffen zu rechnen gewesen wäre (vgl. auch Senatsurt. v. 11.8.2010 - 11 LB 405/08 -, , Rn. 54).

Zudem räumt das Auswärtige Amt ein, dass es der Türkei trotz gesetzgeberischer Maßnahmen und einiger Verbesserungen nach wie vor nicht gelungen ist, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden (Lagebericht v. 29.9.2015, S. 22). Dies gilt trotz des Umstandes, dass die Türkei Mitglied der UNO-Folterkonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention und Folter in der Türkei verboten ist. Tatsächlich ist Folter immer noch verbreitet. Die Zahl der den türkischen Menschenrechtsorganisationen gemeldeten Fälle von Folter, Misshandlung und unmenschlicher Behandlung durch staatliche Sicherheitskräfte hat sich seit 2008 erheblich erhöht, wobei nicht klar ist, ob es mehr Folterfälle gab oder mehr Fälle angezeigt wurden und die Dunkelziffer sank. Nach den Angaben der Türkischen Gesellschaft für Menschenrechte IHD wurden 2008 1.047 Fälle und im Jahr 2009 1.094 Fälle gemeldet (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bericht v. 20.12.2010, S. 12 f.; Amnesty International, Länderbericht Türkei, Dezember 2010, S. 8, und Stellungnahme v. 9.11.2011 an Bayerischen VGH, S. 3; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bericht v. 26.5.2010, S. 1 f.; Irmak, Gutachten v. 15.10.2012 an VG München, S. 4, und v. 24.10.2012 an VG Darmstadt, S. 6 f.). Im Jahr 2010 wurden im Osten und Südosten der Türkei 741 Folterfälle und Misshandlungen registriert. 2011 stieg diese Zahl auf 1.555. Allein in den ersten vier Monaten des Jahres 2012 registrierten die Anwaltskammer und die türkische Menschenrechtsvereinigung 281 Fälle von Folter und Misshandlungen (Taylan, Gutachten v. 19.1.2013 an Sächsisches OVG, S. 11). Nach Angaben der türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV wurden im Jahr 2012 insgesamt 548 Personen registriert, die angaben, im selben Jahr gefoltert oder unmenschlich behandelt worden zu sein, 2013 wurden 411 Personen registriert. 2014 wandten sich 787 Personen mit Foltervorwürfen an die Menschenrechtsstiftung (Auswärtiges Amt, Lageberichte v. 15.7.2014, S. 27 f. und v. 29.9.2015, S. 22 f.). Vom US-Außenministerium und von Human Rights Watch bestätigt ist, dass aufgrund zunehmender Kontrollen in den Gefängnissen Opfer häufiger an unbeobachteten Orten und außerhalb der Gefängnisse misshandelt werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bericht v. 20.12.2010, S. 12 f.). Nach dem Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission von Oktober 2014 (Turkey Progress Report, S. 15) hat sich der rückläufige Trend in Bezug auf Häufigkeit und Schwere von Misshandlungen in Haftanstalten fortgesetzt. Gleichzeitig wird aber der häufig vorkommende unverhältnismäßige Einsatz von Gewalt bei Demonstrationen und Festnahmen beanstandet. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass gegen Folteropfer häufig Gegenklagen erhoben werden, denen von den Gerichten Vorrang eingeräumt wird. Auch das Auswärtige Amt räumt ein, dass Straflosigkeit der Täter in Folterfällen weiterhin ein ernstzunehmendes Problem ist (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 29.9.2015, S. 22 f.). Zu berücksichtigen ist auch, dass seit dem Ende der Waffenruhe im Juli 2015 die Gewalt zwischen der türkischen Armee und der PKK eskaliert ist. 2015 trafen vermehrt Berichte über Misshandlungen im Polizeigewahrsam und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ein, die im Zusammenhang mit dem Vorgehen von Polizei und Armee gegen die PKK standen (Amnesty international, Amnesty Report 2016 Türkei v. 24.2.2016).

Aufgrund dieser Auskunftslage ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Misshandlungen oder Folter durch Sicherheitskräfte des türkischen Staates erleiden würde.

Der Kläger hat Unterlagen vorgelegt, aus denen hervorgeht, dass in der Türkei gegen ihn ein Strafverfahren wegen Unterstützung und Mitgliedschaft in der Terrororganisation PKK/Kongra-Gel anhängig ist. Das auf der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft F. vom 17. Juni 2008 beruhende Strafverfahren, das gegen 44 Angeklagte eingeleitet worden war, endete für den Kläger zunächst mit einem Freispruch durch das Urteil der 3. großen Strafkammer des Strafgerichts F. vom 1. April 2009. Auf das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft vom 28. Mai 2009 hob die 9. Strafkammer des Kassationsgerichts mit Beschluss vom 13. Dezember 2011 das Urteil in Bezug auf den Kläger auf. Zur Begründung wurde angegeben, dass das Urteil widerrechtlich ergangen sei, weil die Angaben des reuigen Verurteilten H. I., dessen Identifikationsleistungen, die Ergebnisse der Wohnungsdurchsuchungen, die Feststellungen der erfassten, zwischen den Angeklagten erfolgten Kommunikation und die gesamten aktenkundig gewordenen Tatsachen einen Freispruch nicht tragen würden. Der Kläger ist zu den ersten Verhandlungsterminen vor dem Strafgericht F. am 26. April und 31. Mai 2012 nicht erschienen. Deshalb ist gegen ihn am 1. Juni 2012 ein Haftbefehl der 3. großen Strafkammer des Strafgerichts F. ergangen. Zudem hat der Kläger im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht weitere Terminsprotokolle vom 5. Juli 2013, 10. Oktober 2013, 5. Dezember 2013 und 30. Januar 2014 eingereicht, aus denen hervorgeht, dass das Strafverfahren gegen ihn vor dem Strafgericht F. fortgesetzt worden ist.

Das Auswärtige Amt hat mit Botschaftsauskunft vom 7. Mai 2014 bestätigt, dass die von dem Kläger vorgelegten Dokumente (Anklageschrift der Staatsanwaltschaft F. vom 17. Juni 2008, Haftbefehl der 3. großen Strafkammer des Strafgerichts F. vom 1. Juni 2012, Terminsprotokolle des Strafgerichts F. vom 15. März 2013, 10. Oktober 2013 und 5. Dezember 2013) echt sind. Weiter hat das Auswärtige Amt mitgeteilt, dass das Strafverfahren gegen den Kläger wegen des Vorwurfs der PKK-Mitgliedschaft von dem Gericht für schwere Straftaten in D. weitergeführt und aufgrund des Festnahmebeschlusses vom 1. Juni 2012 nach dem Kläger gefahndet werde.

Es ist auch davon auszugehen, dass das Strafverfahren gegen den Kläger weiterhin anhängig ist und der Haftbefehl weiter Bestand hat. Nach türkischer Gesetzeslage sind Verurteilungen zu Freiheitsstrafen ohne vorherige Anhörung des Angeklagten nicht möglich. Ohne Anhörung könnte lediglich ein Freispruch nach vorliegender Beweislage erfolgen, was hier angesichts der Entscheidung des Kassationsgerichts, mit der der Freispruch des Klägers wegen der Beweislage gerade aufgehoben worden ist, nicht wahrscheinlich ist. Wie sich aus dem ebenfalls vorgelegten Urteil des 3. Strafgerichts F. vom 14. März 2014 ergibt, sind mehrere Mitangeklagte des Klägers wegen des auch gegen den Kläger erhobenen Vorwurfs der Mitgliedschaft in der PKK/Kongra-Gel zu Haftstrafen von über sechs Jahren verurteilt worden. Aus der Entscheidung des 2. Strafgerichts in D. vom 25. März 2014 geht hervor, dass nach dem Zuständigkeitswechsel die Haftbefehle gegen den Kläger und andere von dort weiter verfolgt werden. Die vorgelegten Terminsprotokolle vom 18. Juni 2014, 9. Juli 2014, 1. Oktober 2014, 11. Februar 2015 und 17. Juni 2015 zeigen ebenfalls, dass das Strafverfahren gegen den Kläger vor dem Strafgericht in D. fortgesetzt und aufgrund des bisher nicht vollzogenen Haftbefehls immer wieder vertagt wird.

Der Kläger wird daher bei der Einreise in die Türkei aufgrund des bestehenden Haftbefehls in polizeilichen Gewahrsam genommen werden. Es ist weiter beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger, der im Verdacht der Mitgliedschaft in der PKK steht, von den Sicherheitskräften zu Unterstützungshandlungen und Kontakten zur PKK vor der Ausreise und zu vermuteten Aktivitäten und Kontakten in Deutschland befragt wird. Gerade in der Zeitspanne zwischen seiner Festnahme und der Einschaltung eines Haftrichters oder eines Rechtsanwalts besteht eine erhöhte Gefahr, dass er als vermeintliches PKK-Mitglied von den Sicherheitskräften misshandelt wird. Dass der Kläger nach seiner Festnahme 2008 insbesondere während der Untersuchungshaft nicht gefoltert worden ist, führt zu keiner anderen Beurteilung. Nach der vorstehend dargelegten Erkenntnislage sind körperliche Misshandlungen in Haftanstalten seltener geworden und finden häufiger an anderen unbeobachteten Orten statt. Auch der Kläger hat angegeben, dass er damals auf dem Polizeirevier in einem nicht mit Kameras ausgestatteten Anwaltszimmer leichten körperlichen Übergriffen ausgesetzt worden ist, um ihn zu einer Aussage zu bewegen. Zudem hat sich durch die Aufhebung des Freispruchs und Fortsetzung des Strafverfahrens sowie den Auslandsaufenthalt des Klägers die Situation verändert. Gerade vor dem Hintergrund, dass das Strafverfahren gegen den Kläger nicht abgeschlossen ist, könnten sich neue polizeiliche Erkenntnisse für die Anklage als nützlich erweisen.

Der Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist auch nicht nach § 3 Abs. 2 AsylG ausgeschlossen. Nach § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er 1. ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen, 2. vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden oder 3. den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider gehandelt hat. Dies gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).

Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger derartige Straftaten oder Handlungen begangen oder andere zu solchen Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt hat, liegen nicht vor. Der Kläger bestreitet schon den im laufenden Strafverfahren gegen ihn erhobenen Vorwurf, Mitglied der PKK gewesen zu sein. Nach seinem Vorbringen hat er sich während seines Studiums lediglich im Rahmen von Aktivitäten legaler studentischer Kulturvereine politisch betätigt. Dazu gehörte u.a. die Organisation von Newroz-Feierlichkeiten, die Beteiligung am Wahlkampf der kurdischen Parteien DTP bzw. BDP und die Unterstützung von Familien getöteter Guerillakämpfer. Dafür, dass der Kläger schwere nichtpolitische Straftaten begangen oder wesentliche Unterstützungshandlungen zu Gunsten der PKK geleistet hat, so dass ihm deren terroristische Handlungen zugerechnet werden könnten, fehlen jegliche Hinweise.

Dem Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG steht auch kein Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG entgegen.