Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 04.01.2021, Az.: 5 A 8988/17

Familienasyl; Genitalverstümmelung; Sudan

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
04.01.2021
Aktenzeichen
5 A 8988/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 71225
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Im Sudan ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass unbeschnittenen Mädchen eine Genitalverstümmelung droht.

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägerinnen zu 2. und 3. die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.

Die Beklagte wird verpflichtet, in Bezug auf die Klägerin zu 1. ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf die Republik Sudan festzustellen.

Der Bescheid vom 27. September 2017 (Geschäftszeichen: bzw. 6043332-1-1-277) wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 1. tragen die Klägerin zu 1. zu zwei Dritteln und die Beklagte zu einem Drittel. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerinnen zu 2. und 3. hat die Beklagte zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten haben die Klägerin zu 1. zu zwei Fünfteln und die Beklagte zu drei Fünfteln zu tragen Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Die Klägerinnen begehren die Zuerkennung internationalen Schutzes.

Die Klägerinnen sind sudanesischer Staats- und Volkszugehörigkeit sowie islamischen Glaubens. Die Klägerin zu 1. reiste nach eigenen Angaben im Juni 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie ist die Mutter der Klägerinnen zu 2. und 3. Der Ehemann bzw. Vater der Klägerinnen betreibt unter dem Aktenzeichen 5 A 8983/17 ein eigenes Asylverfahren. Die Klägerin zu 1. stellte am 29. September 2016 einen Asylantrag; die Klägerinnen zu 2. und 3. wurden in Deutschland geboren.

Die persönliche Anhörung der Klägerin zu 1. beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erfolgte am 6. September 2017. Sie trug im Wesentlichen vor, den Sudan im März 2015 verlassen zu haben, weil sie krank und schwach gewesen sei. Sie habe kaum etwas zu Essen gehabt und habe um ihr Überleben kämpfen müssen. Sie habe sich keine Medikamente leisten können. Sie sei dann nach Libyen in eine Klinik gegangen. In Libyen habe sie ihren Mann kennengelernt. Dieser habe gesagt, dass er ein bisschen Geld habe, sie heiraten und mit ihr nach Deutschland gehen wolle. Bei Rückkehr befürchte sie, wieder in Not leben zu müssen.

Mit Bescheid vom 27. September 2017 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen. Zur Begründung wird in dem Bescheid ausgeführt, die Klägerinnen hätten keinerlei individuelle Verfolgung vorgetragen. Es drohe ihnen im Falle einer Rückkehr in den Sudan kein ernsthafter Schaden. Die Klägerinnen zu 2. und 3. hätten sich nie dort aufgehalten.

Die Klägerinnen haben am 6. Oktober 2017 Klage erhoben. Zur Begründung nehmen sie Bezug auf das Verfahren ihres Ehemannes bzw. Vaters und tragen ergänzend vor, die Klägerin zu 1. stamme aus dem im Ost-Sudan gelegenen Bundesstaat Kassala. Dort habe sie zusammen mit ihrer Mutter in einem Flüchtlingslager gelebt und als Hausmädchen gearbeitet. Sie sei wie eine Sklavin gehalten und schlecht behandelt worden. Sie sei körperlichen Übergriffen ausgesetzt gewesen. Als sie an Tuberkulose erkrankt sei, habe sie das Land verlassen und sei nach Libyen geflohen. Zu ihrem Bruder und ihrer Mutter habe sie keinen Kontakt mehr. Als kleines Kind sei sie an ihren Genitalien verstümmelt worden. Bei den Klägerinnen zu 2. und 3. sei das nicht der Fall und sie befürchte, dass dies bei einer Rückkehr geschehen werde. Die Ablehnung ihrer Anträge als offensichtlich unbegründet sei rechtswidrig. Ihr Vater bzw. Ehemann könne internationalen Schutz beanspruchen. Sie hätten daher einen Anspruch gemäß § 26 Abs. 2, 3 und 5 AsylG. Im Falle einer Rückkehr sei es für sie unmöglich, ihr Existenzminimum zu sichern.

Die Kläger beantragen,

den Bescheid der Beklagten vom 27. September 2017 () aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, äußerst hilfsweise das Bestehen von Abschiebungsverboten zu ihren Gunsten festzustellen, weiter hilfsweise den Bescheid soweit aufzuheben, wie die Anträge auf Zuerkennung nationalen Schutzes als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wurden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Über den Rechtsstreit hat nach dem Übertragungsbeschluss der Kammer vom 9. Dezember 2020 der Einzelrichter zu entscheiden (§ 76 Abs. 1 AsylG). Das Gericht konnte, obwohl die Beklagte der mündlichen Verhandlung ferngeblieben ist, verhandeln und entscheiden, weil in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die Klage hat teilweise Erfolg.

1. Die Klägerin zu 1. hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG; den Klägerinnen zu 2. und 3. steht ein entsprechender Anspruch zu.

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem gelten die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung sowie die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen gemäß § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde.

Die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden in § 3b Abs. 1 AsylG näher umschrieben. Gemäß § 3b Abs. 2 AsylG ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Zwischen den in § 3 Abs. 1 AsylG und § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss, wie § 3a Abs. 3 AsylG klarstellt, eine Verknüpfung bestehen.

Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).

Für die Frage, ob dem Asylsuchenden Verfolgung droht, gilt der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit als einheitlicher Maßstab sowohl im Hinblick auf eine etwaige Vorverfolgung als auch für Nachfluchtgründe. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer – bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr – die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, BVerwGE 140, 22-33, Rn. 22; BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, BVerwGE 146, 67-89, Rn. 32; BVerwG, Beschluss vom 15. August 2017 – 1 B 120/17 –, Rn. 8, juris). Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, BVerwGE 146, 67-89, Rn. 32.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für dessen Eintritt besteht (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 31/18 –, Rn. 16, juris). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 31/18 –, Rn. 16, juris). Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er zum Beispiel lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist (BVerwG, EuGH-Vorlage vom 7. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, Rn. 37, juris).

Ist der Kläger vorverfolgt ausgereist, kommt ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes [Qualifikationsrichtlinie]) zugute. Nach dieser Vorschrift ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist. Etwas Anderes soll nur dann gelten, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen. Für denjenigen, der bereits Verfolgung erlitten hat oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, streitet also die tatsächliche – allerdings widerlegbare – Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden.

Dabei ist es Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich die Verfolgung ergibt, in schlüssiger Form vorzutragen. Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung gewinnen. Auf Grund der Beweisschwierigkeiten, in denen sich der Schutzsuchende hinsichtlich der asylbegründeten Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, muss sich das Gericht jedoch mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig ausgeschlossen werden können (BVerwG, Beschluss vom 21. Juli 1989 – 9 B 239/89 –, juris). Das Asylverfahren ist eine Einheit, sodass ein gegenüber den Angaben vor der Verwaltungsbehörde im gerichtlichen Verfahren vorgetragener neuer Sachverhalt regelmäßig Zweifel an der Richtigkeit dieses Vorbringens wecken wird. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Asylsuchenden nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (BVerwG, Urteil vom 12. November 1985 – 9 C 27/85 –, juris). Der Asylbewerber muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen und plausible, wirklichkeitsnahe Angaben machen. Auch unter Berücksichtigung des Herkommens, Bildungsstandes und Alters muss der Asylbewerber im Wesentlichen gleichbleibende, möglichst detaillierte und konkrete Angaben zu seinem behaupteten Verfolgungsschicksal machen.

Diese Voraussetzungen für die Annahme einer politischen Verfolgung durch den sudanesischen Staat können in der Person der Klägerin zu 1. nicht ausreichend sicher festgestellt werden. Weder beim Bundesamt noch in der mündlichen Verhandlung hat sie Verfolgungsgründe i.S.d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b AsylG vorgetragen. Sie hat lediglich ausgeführt, den Sudan verlassen zu haben, weil sie dort keine Verwandtschaft, kein Haus und auch sonst nichts gehabt habe.

Der Klägerin zu 1. kann die Flüchtlingseigenschaft auch nicht wegen einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zuerkannt werden. Für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Vielmehr müssen die Verfolgungshandlungen im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 9. April 2018 – 11 ZB 18.30268 –, Rn. 5, juris). Dies ist bei der Klägerin zu 1. nicht ersichtlich.

Die Klägerin zu 1. kann sich auch nicht erfolgreich auf Nachfluchtgründe berufen. Zwar kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eintreten, nachdem der Ausländer sein Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auf einem Verhalten des Ausländers, dass Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Das Gericht ist nicht zu der erforderlichen Überzeugung gelangt, dass der Klägerin zu 1. aufgrund ihrer Ausreise aus dem Sudan und der Asylantragstellung im Ausland bei seiner Wiedereinreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Repressionen drohen.

Mit der Stellung eines Asylantrags ist auch nach illegaler Ausreise aus dem Sudan nicht die Gefahr verbunden, im Sudan politisch verfolgt zu werden. Nach Angaben des Auswärtigen Amts in seinem jüngsten Lagebericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Sudan vom 28. Juni 2020 führten bisher weder längere Auslandsaufenthalte noch Asylanträge im Ausland zu einer Gefährdung bei Rückkehr. Dies gelte auch für Deserteure und Wehrdienstverweigerer. Selbst Personen, die im Ausland Asyl erhalten hätten, könnten nach Sudan zurückkehren, wie von im Sudan lebenden Betroffenen berichtet worden sei (Seite 26 des Berichts).

Für die Klägerinnen zu 2. und 3. sind die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG unter dem Gesichtspunkt einer geschlechtsspezifischen Verfolgung erfüllt. Ihnen droht bei einer Abschiebung in den Sudan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Rechtsverletzung in Form der Genitalverstümmelung.

Der Einzelrichter geht davon aus, dass eine entsprechende Prozedur bei den Klägerinnen zu 2. und 3. bislang nicht vorgenommen wurde. Zum einen haben das die Klägerin zu 1. und ihr Ehemann so erklärt, zum anderen sind die Klägerinnen zu 2. und 3. in Deutschland geboren. Hier ist die Genitalverstümmelung gem. § 226a StGB strafbar.

Weibliche Genitalverstümmelung (englisch: Female Genital Mutilation, kurz FGM) ist als Verfolgungshandlung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG einzustufen (BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 – 1 C 29/17 –, Rn. 38, juris). Denn diese Handlung bezieht sich auf die Geschlechtszugehörigkeit, da sie allein an Frauen und Mädchen vorgenommen wird und werden kann. Sie ist gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG so gravierend, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, unabhängig davon, in welcher Form sie durchgeführt wird. Denn es geht hierbei um die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit, also um eine gravierende Misshandlung; eine solche Maßnahme stellt generell Verfolgung dar.

Demgegenüber kann nicht darauf abgestellt werden, dass eine Genitalverstümmelung den Zweck der Integration der betroffenen Mädchen und Frauen in die jeweilige Gesellschaft als vollwertiges Mitglied verfolge und die Ächtung bzw. der Ausschluss der nicht verstümmelten Frauen mit seinen gegebenenfalls existenzbedrohenden Folgen keine Verfolgung sei. Die Genitalverstümmelung ist gerade darauf gerichtet, die sich weigernden Betroffenen den Traditionen zu unterwerfen und unter Missachtung des Selbstbestimmungsrechts zu verstümmelten Objekten zu machen. Die Beschneidungspraxis verfolgt den Zweck, das gesellschaftliche Leben im Sudan in sozialer Hinsicht zu ordnen und zwar derart, dass das Geschlechterverhältnis in traditioneller Weise erhalten bleiben soll. Im Rahmen dieser traditionellen Rollenverteilung werden Frauen und Mädchen darauf reduziert, bloße Objekte bestimmter Keuschheitsvorstellungen, Ehrbegriffe und einer eventuellen Verheiratung zu sein. Ihre soziale Anerkennung beschränkt sich auf diesen Aspekt. Das ausgrenzende Moment liegt gerade darin, dass mittels der Beschneidung die Situation der sozialen Minderwertigkeit und der angestrebten Unterwerfung der Frauen und Mädchen perpetuiert wird (VG Bremen, Gerichtsbescheid vom 21. Dezember 2005 – 2 K 1283/04.A –, juris; Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. Februar 2014 – 1 A 1139/13.A –, juris; VG Ansbach, Urteil vom 27. September 2016 – AN 3 K 16.30877 –, Rn. 19, juris).

Die drohende Beschneidung der Klägerinnen zu 2. und 3. steht im Einklang mit den einschlägigen Erkenntnisquellen des Gerichts.

Das Verwaltungsgericht Oldenburg führt in seinem Urteil vom 5. Oktober 2020 – 1 A 277/17 – aus:

„Der Klägerin droht im Sudan mit beachtlicher Wahrscheinlich die zwangsweise Durchführung einer Verstümmelung ihrer Genitalien (im Folgenden: FGM/C). Im Sudan sind – je nach Quelle – knapp 87 oder 88 Prozent der Mädchen und Frauen über 15 Jahren von FGM/C betroffen (vgl. UNICEF, Statistical profile on female genital mutilation – Sudan, Stand: Januar 2019; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Sudan, Stand: Juni 2020; Seite 17; 28 Too Many, Country Profile – FGM in Sudan; Stand: November 2019, Seite 46 ff.; EASO, Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) & COI, Stand: 25./26.10.2016, Seite 31; Accord, Anfragebeantwortung zum Sudan – Informationen zu Zwangsbeschneidungen, Stand: 18.11.2015). FGM/C ist auch heute noch landesweit eine weitverbreitete Praxis im Sudan, gleichwohl bereits seit 2008 fünf Bundesstaaten Gesetze erlassen, die FGM/C verbieten (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Sudan, Stand: 18.9.2019, Seite 22). Eine wesentliche Abnahme der Genitalverstümmelung wurde dadurch nicht erreicht (VG Hannover, Urteil vom 25.4.2019 – 5 A 5629/17 – V.n.b.). Zwar bemüht sich die Regierung um Aufklärung und arbeitet auf die Beendigung von FGM/C hin, allerdings vollzieht sich ein Wandel in den Köpfen der Familien der Betroffenen sowie deren gesellschaftlichen Umfeld nur langsam, was die weiterhin hohen Betroffenheitsquoten zeigen. Wenngleich die negative Einstellung zu Genitalverstümmelung zunimmt und es Anzeichen dafür gibt, dass die Praxis bei jüngeren Mädchen abnimmt (vgl. BFA, Informationen zu FGM im Sudan bzw. Süd-Darfur, Stand: 28.8.2018, Seite 2), ist auch vor dem Hintergrund der von der Übergangsregierung am 10. Juli 2020 ratifizierten – landesweiten – Gesetzes zur Strafbarkeit von weiblicher Genitalverstümmelung (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, Stand: 13. Juli 2020, Seite 7) nicht davon auszugehen, dass hierdurch die Praxis der FGM/C bereits vollständig beseitigt wurde. Ein wesentlicher Einflussfaktor in Bezug auf die Anfälligkeit für eine FGM/C ist die Zugehörigkeit zu einer lokalen ethnischen Gruppe. Während einige Gruppen eine historisch überlieferte Tradition der Genitalverstümmelung praktizieren, gibt es eine solche Praxis bei anderen Gruppen nicht (vgl. 28 Too Many, Country Profile – FGM in Sudan; Stand: November 2019, Seite 47).“

Dem folgt der Einzelrichter. Weitere Quellen stützen diese Angaben. Der Sudan hat eine der höchsten FGM-Raten der Welt. Für Mädchen werden im Alter zwischen vier und zehn Jahren besteht ein hohes Risiko, genitalverstümmelt zu werden. Knapp 90 Prozent der Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren sind beschnitten, die meisten haben die schwerste Form, die Infibulation, erlebt, d.h. ihnen wurden alle sichtbaren Genitalien entfernt und die Wunde bis auf eine kleine Öffnung zugenäht (https://www.orchidproject.org/about-fgc/where-does-fgc-happen/Sudan/?gclid=EAIaIQobChMI4f_B4NCW7gIVUOJ3Ch1yAQj3EAAYAiAAEgJvx vD_BwE; abgerufen am 12. Januar 2021; file:///C:/Users/J030489/Downloads/Female_Genital_Mutilation_in_Sudan.pdf, abgerufen am 13. Januar 2021). Auch im Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die Republik Sudan vom 28. Juni 2020 heißt es, dass die weibliche Genitalverstümmelung im Sudan eine weitverbreitete Praxis sei (Seite 17).

Bei der extremsten Form dieser Praxis werden die Schamlippen und die Klitoris herausgeschnitten, oft ohne Betäubung und unter unhygienischen Umständen. Der Eingriff kann zu zahlreichen physischen, psychischen und sexuellen Problemen führen und im schlimmsten Fall zum Tod (https://www.spiegel.de/politik/ausland/sudan-verbietet-genitalverstuemmelung-neun-von-zehn-maedchen-betroffen-a-9f5e3d11-9bcf-49c0-9b30-d010ac0f179d; abgerufen am 12. Januar 2021).

Zwar wurde die Genitalverstümmelung 2020 im Sudan unter Strafe gestellt und damit verboten. Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass ein gesetzliches Verbot der Genitalverstümmelung gleich ein Ende setzen wird (https://taz.de/Ende-der-Genitalverstuemmelung/!5682977/; abgerufen am 12. Januar 2021). Bereits im Jahr 1946 gab es Vorschriften, die bestimmte Formen der Genitalverstümmelung unter Strafe stellten. Sie blieben jedoch größtenteils unangewendet. Weitere Versuche, die Genitalverstümmelung unter Strafe zu stellen, scheiterten in den Jahren 2002, 2009 und 2015 (vgl. hierzu auch https://www.bbc.com/news/world-africa-52502489, abgerufen am 13. Januar 2021). Es wird davon ausgegangen, dass es umfangreiche Aufklärungsmaßnahmen und kultureller Reformen bedürfe, damit das neue Gesetz Wirksamkeit entfalten könne. Allein das Gesetz reiche nicht aus (http://www.ipsnews.net/2020/08/sudan-may-banned-fgm-harsh-practice-continues/; abgerufen am 13. Januar 2021; https://www.globalcitizen.org/de/content/sudan-bans-female-genital-mutilation/; abgerufen am 14. Januar 2021), denn wer aus Religion oder Tradition davon überzeugt sei, werde die Genitalverstümmelung wohl weiter durchführen (https://www.familie.de/familienleben/gesellschaft/endlich-der-sudan-schafft-die-weibliche-genitalverstuemmelung-ab/; abgerufen am 14. Januar 2021). Diese Ausführungen erscheinen dem Einzelrichter plausibel, zumal nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes der Sudan kein Rechtsstaat ist und ein wirksamer Schutz durch den Staat allein aufgrund dieses Gesetzes daher mehr als fraglich ist. Es ist ungewiss und bleibt abzuwarten, inwieweit Genitalverstümmelungen geahndet und potentielle Opfer vor einer solchen Tat geschützt werden.

Hinzu kommt, dass nach einem Bericht des TaskForce FGM e.V. das Gesetz keine Strafe für die Haupttäter – die anstiftenden Familienmitglieder und Eltern – vorsehe, sondern sich allein auf die ausführenden Täter beschränke, deren Wahrscheinlichkeit, zur Verantwortung gezogen zu werden, gegen null tendiere, da sie sich des Schweigens der Opfer und der Täterfamilien sicher sein könnten (https://www.presseportal.de/pm/133822/4651842; abgerufen am 13. Januar 2021).

Am Ende wird abzuwarten bleiben, ob das 2020 neu geschaffene Gesetz zur Kriminalisierung der Genitalverstümmelung dazu führt, dass es zu einem Rückgang beschnittener Mädchen und Frauen im Sudan kommt. Derzeit ist das – vor allem wegen des geringen Zeitablaufes seit der Schaffung des Gesetzes – nicht absehbar, zumal – wie dargelegt – in der Vergangenheit derartige Maßnahmen nicht zum Erfolg führten. Nicht beschnittene Mädchen riskieren häufig, sozial ausgegrenzt zu werden. Beschnittene Genitalien gelten in den praktizierenden Gemeinschaften als eine notwendige Voraussetzung für Heirat. Eine Untersuchung im Sudan stellte fest, dass – mit steigender wirtschaftlicher Abhängigkeit von Männern – Frauen besonders darauf bedacht seien, ihre Heiratsfähigkeit aufrechtzuerhalten sowie ihre Ehemänner sexuell und reproduktiv zufrieden zu stellen, um Scheidung zu verhindern. In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit riskierten Eltern sehr selten, ihre Töchter unbeschnitten zu lassen (https://de.wikipedia.org/wiki/Weibliche_Genitalverst%C3%BCmmelung#Gr%C3%BCnde_der_Beschneidungs-_und_Verst%C3%BCmmelungspraxis; abgerufen am 13. Januar 2021).

Demnach müssen die Klägerinnen zu 2. und 3. bei einer Rückkehr in den Sudan mit nichtstaatlichen Verfolgungsmaßnahmen in Form der Genitalverstümmelung rechnen. Ein Schutz durch staatliche Institutionen ist nicht ersichtlich.

Ergänzend wird noch auf die folgenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Oldenburg, Urteil vom 5. Oktober 2020 – 1 A 277/17 –, Bezug genommen:

„Dies entspricht dem nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Informationen häufig verwendeten Begründungsmuster für das Fortbestehen der Praxis, wonach eine „reinigende“ Wirkung eintreten solle und Frauen, an denen kein FGM praktiziert wurde, schwer verheiratet werden (Terre des Femmes, Sudan, Stand: Dezember 2019, https://www.frauenrechte.de/un-sere-arbeit/themen/weibliche-genitalverstuemmelung/unser-engagement/aktivitae-ten/genitalverstuemmelung-in-afrika/fgm-in-afrika/1431-sudan). Zudem haben im Sudan die Familien großen Einfluss auf die Entscheidung, ob FGM/C durchgeführt wird, insbesondere auch die Großmütter und ältere Tanten (EASO, Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) & COI, Stand: 25./26.10.2016, Seite 43).

Es ist auch nicht ersichtlich, dass der sudanesische Staat Schutz gewähren könnte. Die hohe gesellschaftliche Akzeptanz und weiterhin vorliegende weite Verbreitung der Praxis von FGM/C, von der – je nach Quelle – ca. 87-88 % der Frauen und Mädchen betroffen sind, lassen vermuten, dass bislang kein effektiver staatlicher Schutz gegen die Verfolgung besteht, § 3c Nr. 3 AsylG. Wie sich die jüngst vorgenommene Gesetzesänderung zur Strafbarkeit der Genitalverstümmelung in der Praxis auswirkt, ist gegenwärtig noch nicht absehbar. Ferner ist es generell nicht akzeptiert, „Schade“ über die Familie in Form eines Rechtsstreits oder durch die Flucht in eine Schutzeinrichtung wie ein Frauenhaus zu bringen (EASO, Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) & COI, Stand: 25./26.10.2016, Seite 43).“

Die Tatsache, dass die Eltern der Klägerinnen zu 2. und 3. eine Genitalverstümmelung nicht wünschen, kann nicht zu der Annahme führen, es drohe im Falle der Rückkehr keine entsprechende Gefahr. Denn zum einen ist zu berücksichtigen, dass die Klägerinnen zu 2. und 3. aufgrund ihres Alters nicht in der Lage sind, sich selbst ausreichend dagegen zu schützen. Zum anderen besteht auch die Gefahr der Verstümmelung, wenn die Klägerinnen zu 2. und 3. in ein heiratsfähiges Alter kommen und sie von anderer Seite – zum Beispiel von ihren künftigen Ehemännern, deren Familien oder durch gesellschaftlichen Druck – zu dieser Maßnahme gedrängt werden. Zudem ist keine inländische Fluchtalternative erkennbar. Angesichts der vorliegenden Auskünfte droht die Gefahr im Sudan landesweit. Die Verstümmelung weiblicher Genitalien ist in allen Landesteilen, Ethnien, Religionen und Bevölkerungsteilen verbreitet. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerinnen zu 2. und 3. nach der Geburt eines eigenen Kindes selbst über ihre Beschneidung entscheiden könnten bzw. hierzu überhaupt befragt würden. Denn die Vornahme der Beschneidung ist im Sudan kein Ritual, das nur innerhalb der Familie von Bedeutung ist, geschweige denn der Entscheidung der Betroffenen unterläge. Vielmehr dient sie dazu, den Frauen und Mädchen ihre gesellschaftliche Rolle zuzuweisen. Vor diesem Hintergrund kann im Falle einer Rückkehr in den Sudan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Genitalverstümmelung nicht ausgeschlossen werden.

2. Die Klägerin zu 1. hat keinen Anspruch auf Feststellung einer subsidiären Schutzberechtigung gemäß § 4 AsylG. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes (Nr. 3). Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen gelten nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend.

Die Klägerin zu 1. hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihr in ihrem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden, d.h. die Verhängung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht. Der Einzelrichter hat bereits begründet, dass nicht sicher festgestellt werden kann, dass die Klägerin zu 1. bei einer Rückkehr mit Rechtsverletzungen durch staatliche Stellen oder andere Akteure rechnen muss. Auch die dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigen nicht die Annahme solcher Gefahren.

Soweit in einem Bericht von Amnesty International vom 30. Januar 2018 (abrufbar unter www.ecoi.net) unter Berufung auf Angaben des Tharir Institute for Middle East Policy geschildert worden war, dass im Jahre 2017 aus Belgien abgeschobene Sudanesen, die teilweise aus Darfur bzw. konfliktbetroffenen Regionen im Sudan kamen, angegeben haben sollen, nach ihrer Rückkehr in den Sudan gefoltert worden zu sein, ließen sich diese Angaben nach einer Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17. Oktober 2018 und den Angaben im aktuellen Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Sudan vom 28. Juni 2020 nicht bestätigen. Im aktuellen Lagebericht heißt es hierzu auf Seite 28:

„Im Dezember 2017 berichteten internationale Zeitungen, dass aus Belgien zurückgeführte Personen in Sudan misshandelt worden seien. Die Zeitungsartikel beziehen sich auf den Bericht der USbasierten Nichtregierungsorganisation Tahrir Institut, die angab mit den Betroffen in Kontakt gestanden zu haben. Drei der aus Belgien rückgeführten Personen hatten IOM in Khartum kontaktiert, dort aber nicht von Befragungen, Misshandlungen, Festnahmen oder Folter berichtet und keine physisch sichtbaren Spuren von Misshandlung präsentiert. Die belgische Regierung hat am 22. Dezember 2017 eine unabhängige Untersuchung der Aussagen und Misshandlungsvorwürfe beim belgischen Büro des Generalkommissars für Flüchtlinge und Staatenlose Personen (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons - CGRS) beantragt. Das CGRS konnte nicht abschließend klären, ob die vom Tahrir Insitut berichteten Ereignisse stattgefunden haben, kommt aber zu dem Schluss, dass es ernsthafte Zweifel an der Glaubhaftigkeit der gesamten Aussagen im Bericht des Tahrir Instituts gibt. Der Bericht des Tahrir Instituts ist weiterhin nicht frei zugänglich, auch auf Nachfrage der Bundesregierung hat das Institut seinen Bericht nicht zur Verfügung gestellt. Ebenso reagierte es nicht auf Nachfragen von Seiten der EU-Delegation in Sudan. Daher ist eine unabhängige Bewertung des Berichts nicht möglich. Auch Personen, die vor Aktivierung der ERIN-Partnerschaft aus Belgien zurückgekehrt sind, können bei IOM Unterstützung erhalten. Hiervon haben zwei der insgesamt 10 rückgeführten Personen sowie ein freiwilliger Rückkehrer Gebrauch gemacht. Keine der drei Personen gab an, dass er/sie bei Rückkehr misshandelt worden sei.“

In der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17. Oktober 2018 wird weiter ausführlich dargestellt, dass die Angaben über Haft, Folter bzw. Misshandlungen von den Betroffenen größtenteils nicht aufrechterhalten wurden und teilweise auch widerlegt werden konnten (etwa, weil die Person während einer angeblichen Inhaftierung bei IOM vorgesprochen hatte, vgl. Seiten 5 bis 7).

Abgesehen davon, dass sich die Behauptung von Haft, Misshandlung und Folter bei Rückkehr nicht bestätigen ließ, bezogen sich die Angaben in dem Bericht des Tahrir Instituts auch lediglich auf eine spezifische Personengruppe, die in Belgien illegal aufhältig und deren Ausreise speziell unter Beteiligung der sudanesischen Behörden organisiert worden war, sodass aus diesen Schilderungen auch nicht unbedingt auf die Situation aller Rückkehrer geschlossen werden kann.

Auch soweit nach einem bei www.ecoi.net veröffentlichten Bericht des UK Home Office von August 2016 Personen ohne Ausreisestempel im Pass bei einer Wiedereinreise in den Sudan besonderen Kontrollen unterzogen werden, führt dies nicht zur Annahme einer unmenschlichen Behandlung bei Rückkehr. Eine Ausreise ohne Ausreisestempel/-visum stellt lediglich einen Verstoß gegen die entsprechenden passrechtlichen Bestimmungen dar, der entsprechend geahndet werden kann. Nach dem aktuellen Lagebericht (Seite 27) ist die Wiedereinreise, ohne zuvor ein Visum erhalten zu haben, unproblematisch. Ein Ausreisevisum sei in Sudan für jeden Sudanesen und jeden Ausländer gesetzlich vorgeschrieben, die Ausreise ohne ein solches Visum sei ein Verstoß gegen Pass- und Einwanderungsgesetz und könne mit einer Geldstrafe oder Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten geahndet werden. Im Allgemeinen werde aber bei Einreise nicht geprüft, ob ein solches Ausreisevisum erteilt worden sei.

Der Klägerin zu 1. ist auch mit Blick auf die schlechte humanitäre Lage im Sudan kein subsidiärer Schutz zuzuerkennen. Der Wortlaut von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG entspricht nahezu vollständig dem von Art. 3 EMRK, der einschließlich der hierzu entwickelten Rechtsprechung des EGMR bei der Auslegung zu beachten ist (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 5. Dezember 2017 – 4 LB 51/16 –, Rn. 50 ff., juris). Allerdings reicht für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind, da gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten sind. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden bzw. der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten (Nds. OVG, Urteil vom 24. September 2019 – 9 LB 136/19 –, Rn. 65, juris). Daher können schlechte humanitäre Bedingungen, die – wie vorliegend der Fall – nicht auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zurückzuführen sind, nicht zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG führen. Den Erkenntnismitteln ist nicht zu entnehmen, dass Akteure i.S.v. § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3c AsylG ein Interesse an einer Verschärfung oder Aufrechterhaltung der schlechten humanitären Lage zeigen und diese auf ihre Handlungen oder Unterlassungen zurückzuführen sind. Die kritische Versorgungslage wird vielmehr insbesondere durch die allgemein schwierige Situation im Sudan beeinflusst (siehe hierzu den aktuellen Lagebericht, Seiten 7 ff., 25).

Der Klägerin zu 1. droht auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei ihrer Rückkehr in den Sudan Opfer eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes zu werden.

Der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung von Art. 3 der Genfer Konvention zum humanitären Völkerrecht 1949 und des am 8. Juni 1977 abgeschlossenen Zusatzprotokolls II auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss hierfür aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 4.09 – und Urteil vom 24. Juni 2008 – 10 C 43/07 – zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und Art. 15 lit. b der Richtlinie 2004/83/EG, juris).

Besteht ein bewaffneter Konflikt nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung erst dann in Betracht, wenn sich der Konflikt auf die Herkunftsregion des Ausländers erstreckt, in der er zuletzt gelebt hat bzw. in die er typischerweise zurückkehren kann und voraussichtlich auch wird, d. h. auf seinen "tatsächlichen Zielort" bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat (EuGH, Urteil vom 17. Januar 2009 – C-465/07 – mit der Bezugnahme auf Art. 8 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie; BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2009 – 10 C 9/08 –; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. April 2012 – A 11 S 3079/11 –; BayVGH, Urteil vom 20. Januar 2012 – 13a B 11. 30394 –, juris).

Der Ausländer muss von dem bewaffneten Konflikt individuell bedroht sein. Eine solche individuelle Bedrohung ist anzunehmen, wenn der Ausländer spezifisch aufgrund von Umständen bedroht ist, die seiner persönlichen Situation innewohnen. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Ausländer von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa, weil er von Berufs wegen gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, stellen demgegenüber normalerweise keine individuelle Bedrohung dar (vgl. insoweit auch den Erwägungsgrund 35 der Richtlinie 2011/95/EG).

Gemessen an diesen Grundsätzen steht der Klägerin zu 1. kein Anspruch auf subsidiären Schutz zu. Es spricht in ihrem und dem Fall ihrer Familie hinsichtlich gewaltsamer Konflikte im Sudan nichts gegen einen Aufenthalt in Khartoum (vgl. hierzu VG Würzburg, Urteil vom 23. Juli 2020 – W 5 K 20.30327 –, Rn. 25 ff., juris unter Bezugnahme auf den aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes).

3. Die Anträge der Klägerin zu 1. auf Zuerkennung internationalen Schutzes lehnte die Beklagte zudem rechtmäßig als offensichtlich unbegründet ab. Gem. § 30 Abs. 1 AsylG ist ein Asylantrag offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen. Die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet ist nur dann zulässig, wenn sowohl die Anerkennung als Asylberechtigter wie auch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und subsidiären Schutzes unbegründet sind (VG Regensburg, Beschluss vom 17. September 2014 – RO 4 S 14.30650 –, juris). Das BVerfG bejaht – mit Blick auf die unbegründete Asylklage – die Offensichtlichkeit i.S.v. § 30 Abs. 1 AsylG in ständiger Rechtsprechung, „wenn im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise kein Zweifel bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung (nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre) die Abweisung der Klage geradezu aufdrängt“ (Kluth/Heusch, Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, 27. Edition 2020, § 30 AsylG Rn. 14 unter Verweis auf BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 21. Juli 2000 – 2 BvR 1429/98 –, Rn. 3).

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, weil die Klägerin zu 1. – wie dargelegt – keinen Grund vorgetragen hat, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Hierzu wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen. Individuelle Verfolgungsgründe hat sie nicht mitgeteilt.

Dass den Töchtern der Klägerin zu 1. die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, ist ebenfalls nicht von Bedeutung. Einem Anspruch aus § 26 AsylG steht entgegen, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) noch nicht unanfechtbar ist. Die von Teilen der Rechtsprechung bisweilen vertretene Auffassung, in Fällen, in denen mehrere Familienangehörige Beteiligte desselben Asyl- und Verwaltungsstreitverfahrens sind, könne die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung internationalen Schutzes an Familienangehörige im Sinne von § 26 AsylG (Ehegatten und Kinder) unter die aufschiebende Bedingung des Eintritts der Unanfechtbarkeit der Gewährung internationalen Schutzes an den anderen Familienangehörigen (Ehegatte oder Eltern) gestellt werden, ist mit § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht vereinbar. Zum von Gesetzes wegen maßgeblichen Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Gewährung von internationalem Schutz für Familienangehörige schlicht nicht vor, sodass für eine dahingehende Verpflichtung der Beklagten kein Raum bleibt. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten stellen sich vielmehr (derzeit) als rechtmäßig dar. Zudem nicht ersichtlich ist, wie in derartigen Fällen damit umzugehen ist, wenn die aufschiebende Bedingung - Eintritt der Unanfechtbarkeit - nicht eintritt. In diesem Falle kommt den Familienangehörigen kein wirksamer Rechtschutz zu (VG Greifswald, Urteil vom 2. Dezember 2016 – 3 A 1400/16 As HGW –, Rn. 28, juris, m.w.N.).

4. Soweit die Beklagte in ihrem Bescheid vom 27. September 2017 festgestellt hat, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, ist dieser rechtswidrig und die Klägerin zu 1. dadurch in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Denn in Bezug auf die Republik Sudan besteht für die Klägerin zu 1. ein Anspruch auf Feststellung des Bestehens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – (BGBl. 1952 II S.685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies umfasst das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.

In besonderen Ausnahmefällen können auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Abschiebungszielstaat ein Abschiebungsverbot begründen. Hierzu führt das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45/18 –, Rn. 11 f., juris m.w.N. (ähnlich auch Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 –, Rn. 50 f., juris) aus:

„Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei "nichtstaatlichen" Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein "verfolgungsmächtiger Akteur" (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 Rn. 25; s.a. Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 13.12 - BVerwGE 147, 8 Rn. 25). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) aufweisen (vgl. EGMR <GK>, Urteil vom 13. Dezember 2016 - Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien - Rn. 174; EuGH, Urteil vom 16. Februar 2017 - C-578/16 PPU [ECLI:EU:C:2017:127], C.K. u.a. - Rn. 68); es kann erreicht sein, wenn er seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (s.a. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 11). In seiner jüngeren Rechtsprechung stellt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim - Rn. 89 ff. und - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218], Jawo - Rn. 90 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person "unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not" befindet, "die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre".“

Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch diejenige des Bundesverwaltungsgerichts machen somit deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, wenn die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind (VG Würzburg, Urteil vom 23. Juli 2020 – W 5 K 20.30327 –, Rn. 35, juris). Die Beurteilung, ob eine solche Situation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit vorliegt, hängt von den individuellen Umständen – wie etwa Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Volkszugehörigkeit, familiären und freundschaftlichen Verbindungen, Vermögensverhältnissen, (Aus-)Bildungsstand und anderen auf dem Arbeitsmarkt nützlichen Eigenschaften des Klägers – ab (vgl. OVG Saarland, Beschluss vom 23. März 2020 – 2 A 357/19 –, Rn. 11, juris; VG Stade, Urteil vom 21. Juli 2020 – 4 A 2524/17 – m.w.N.).

Nach diesen Grundsätzen spricht wegen der aktuellen schweren Überflutungen im Sudan eine ausreichend beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger bei einer Rückkehr aufgrund der schlechten humanitären Verhältnisse in Sudan einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre.

Nach dem OCHA-Lagebericht vom 10. September 2020 (Update vom 24. September 2020) handelt es sich bei der Flut um die schwerste im Sudan innerhalb der letzten 30 Jahre. Die Häuser von etwa 830.000 Menschen seien zerstört oder beschädigt worden; über 120 Personen seien gestorben. Besonders betroffen seien die Regionen Nord Darfur, Khartoum, West Darfur und Sennar. Nicht nur Häuser und die Infrastruktur seien zerstört worden, sondern ebenfalls Farmen. Im Staat Khartoum seien in Um Durman 67 Prozent der Farmen überflutet worden, in Karari etwa 60 Prozent und etwa 30 Prozent in Nord Khartoum. Framen in anderen Staaten habe es ähnlich schlimm getroffen. Etwa 10 Millionen Personen bräuchten nun Unterstützung.

Aus einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. September 2020 (https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/ungluecke/sudan-der-kampf-gegen-ueberschwemmungen-16959799.html) ergibt sich zudem, dass mittlerweile sämtliche 18 sudanesischen Bundesstaaten in Mitleidenschaft gezogen seien. Solche Wassermassen habe es zuletzt im Jahr 1988 gegeben. Besonders verheerend sei die Lage an den Ufern des Nils. Die Regenzeit werde voraussichtlich noch bis Oktober anhalten. Noch nie sei am Nil so ein hoher Wasserstand gemessen worden. Die Regierung habe den Notstand ausgerufen. Einem der ärmsten Länder der Welt drohten nun Hungersnöte. Tausende Hektar Ackerland, 360 Lagerhallen und mehr als 12.000 Latrinen seien zerstört worden. 11.000 Nutztiere seien erkrankt oder von den Fluten fortgespült worden. Im Südosten des Staates Blue Nile sei der Bout-Staudamm gebrochen. Er habe 5 Millionen Kubikmeter Wasser gestaut. Allein durch den Dammbruch sei die Trinkwasserversorgung von rund 100.000 Menschen in Gefahr.

Ein Bericht des Tagesspiegels vom 27. September 2020 (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/extreme-ueberschwemmungen-afrikas-sintflut/26223006.html) spricht davon, dass die Überflutungen im Sudan besonders schlimm seien. In der Hauptstadt seien ganze Stadtteile überflutet, zigtausende Häuser zerstört und über 100 Menschen getötet worden. In einem Artikel des greenpeace magazin vom 16. September 2020 (https://www.greenpeace-magazin.de/ticker/von-den-fluten-des-nils-mitgerissen-jahrhundertflut-im-sudan-von-gioia-forster-und-hipa) heißt es, 650.000 Menschen seien einer Jahrhundertflut zum Opfer gefallen. Sintflutartiger Regen habe überall im Wüstenstaat Straßen in Flüsse und Ackerland in Seen verwandelt. Sturzfluten hätten ganze Dörfer vernichtet. Über 111.000 Häuser seien beschädigt oder zerstört worden. Die Menschen müssten nun mit dem allernötigsten versorgt werden und das in einem Land, das ohnehin schon unter einer desaströsen Wirtschaft leide. Grundbedürfnisse könnten teilweise nicht mehr befriedigt werden. Betroffene hätten kein Dach über dem Kopf, kein sauberes Trinkwasser, Nahrungsmittel oder Sanitäranlagen. Besonders schlimm sei die Hauptstadt betroffen. Viele Bauern hätten ihre Ernte verloren. Schon zwischen Juni und September 2020 seien bereits 9,6 Millionen Menschen – rund ein Fünftel der Bevölkerung – akut vom Hunger betroffen gewesen. Das liege vor allem an der schlechten Wirtschaftslage, sowie an der Dürre, Konflikten und dem Corona-Lockdown. Dies könnte sich durch die Überschwemmungen nun noch verschärfen. Weitere Gefahren drohen. Es werde erwartet, dass sich Krankheiten ausbreiten. Vielerorts könne das Wasser nicht abfließen. Ebenfalls bedrohe bei mangelndem Zugang zu sauberem Trinkwasser ein Ausbruch von Cholera und anderen Durchfallerkrankungen.

Bestätigt werden diese Ausführungen in einem Videobericht des ZDF vom 21. September 2020 (https://www.zdf.de/nachrichten/heute-sendungen/videos/ueberschwemmungen-sudan-100.html). Der Weiße Nil und der Blaue Nil würden gigantische Wassermassen ins Land tragen. Die Hauptstadt sei besonders schwer betroffen. Ganze Städte seien weggeschwemmt worden. Ein Kamerateam habe sich von der Hauptstadt 200 Kilometer Richtung Norden begeben und sei dort lediglich auf Wassermassen getroffen. Menschen und Tiere würden sich vor den Überflutungen in Sicherheit bringen. Es mangele an Nahrung und sauberem Trinkwasser. Mangelnde Hygiene habe viele krankgemacht und Hilfe würde nur schleppend ankommen. Die Lebensgrundlage von 100.000 Menschen sei zerstört und es drohe Hunger. Betroffen seien weite Teile des Sudans. Die Regenzeit dauere noch bis Ende Oktober.

Auch aus einem Artikel der Frankfurter Rundschau vom 7. Dezember 2020 (https://www.fr.de/hintergrund/die-zerbroeselnde-revolution-90124121.html) ergibt sich ein ähnliches Bild. Dort heißt es, dass aufgrund der Überschwemmungen mehr als 100 Menschen ertrunken seien und über 500.000 ihr Zuhause verloren hätten. Die Ernte von über 1 Millionen Tonnen Weizen und Sorghum sei zerstört worden. Ein Großteil der Menschen im Sudan müsse derzeit mit einer Mahlzeit am Tag auskommen. Infolge der Überschwemmungen komme es zu Darmerkrankungen und Malaria. Mit weit über einer Millionen Fällen pro Monat habe das Sumpffieber in 15 der 18 Provinzen des Landes epidemische Ausmaße erreicht. Das Gesundheitssystem sei so gut wie zusammengebrochen. Entbindungsstationen seien geschlossen worden und mehr als 100.000 Kinder könnten nicht mit den nötigen Impfungen versorgt werden.

Unter diesen Umständen ist es der Klägerin zu 1. derzeit nicht zumutbar, in den Sudan zurückzukehren. Es kann nicht sicher davon ausgegangen werden, dass sie sich – auch durch Arbeit – während der Überschwemmungen eine Lebensgrundlage schaffen und sich mit den notwendigsten Grundbedürfnissen ausstatten kann.

Ob noch aus anderen Gründen Abschiebungsverbote festzustellen sind, kann dahingestellt bleiben.

5. Da sich hinsichtlich der Klägerin zu 1. die Feststellung unter Ziffer 4. des Tenors des angegriffenen Bescheides, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen, als rechtswidrig erweist, sind auch die darauf beruhenden Ziffern 5. und 6. rechtswidrig und deshalb aufzuheben. Für die Klägerinnen zu 2. und 3. sind die Ziffern 1. und 3. bis 6. aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Für die Klägerin zu 1. nimmt der Einzelrichter drei „Angriffe“ gegen die Beklagte an, sodass sie ihre außergerichtlichen Kosten zu zwei Dritteln selbst zu tragen hat. Zudem liegen insgesamt fünf „Angriffe“ gegen die Beklagte vor (drei von der Klägerin zu 1. und aufgrund der Hilfsanträge, über die nicht entschieden werden musste, jeweils nur einer von den Klägerinnen zu 2. und 3.). Da drei „Angriffe“ erfolgreich waren, muss die Beklagte ihre außergerichtlichen Kosten zu drei Fünfteln tragen, im Übrigen fallen sie der Klägerin zu 1. zur Last. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.