Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 25.01.2021, Az.: 15 B 269/21
Corona; Coronavirus; COVID-19; Impfanspruch; Impfreihenfolge; Impfstoff; Impfung; Teilhabeanspruch
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 25.01.2021
- Aktenzeichen
- 15 B 269/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 71214
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 1 CoronaImpfV
- § 2 Nr 1 CoronaImpfV
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Für ein Verfahren, mit dem ein Anspruch auf vorzeitige Impfung gegen das Coronavirus geltend gemacht wird, ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.
2. Ein Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus besteht sowohl nach § 1 Abs. 1 und 2 CoronaImpfV als auch im Rahmen verfassungsrechtlicher Teilhabeansprüche nur im Rahmen der aktuell tatsächlich zur Verfügung stehenden Impfstoffkapazitäten. Es stellt keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung dar, bei der Verteilung des Impfstoffes besonders vulnerable Gruppen - wie Bewohnerinnen und Bewohner von Pflege- und Altenheimen - priorisiert zu impfen.
Tenor:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 EURO festgesetzt.
Gründe
Für den vorliegenden Rechtsstreit ist gemäß § 40 Abs. 1 VwGO der Verwaltungsrechtsweg eröffnet, da es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art handelt, die nicht durch Gesetz einem anderen Gericht, insbesondere nicht nach § 51 SGG dem Sozialgericht zugewiesen ist. Es handelt sich vorliegend nicht um eine Angelegenheit der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG, sondern um die Geltendmachung eines infektionsschutzrechtlichen Leistungs- bzw. Teilhabeanspruches, der vor dem Verwaltungsgericht zu verfolgen ist. Insoweit schließt sich die Kammer vollumfänglich den überzeugenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen im Beschluss vom 11. Januar 2021 (20 L1812/20) an und nimmt auf diese Bezug (vgl. auch SG Oldenburg, Beschluss vom 21.1.2021 – S 10 SV 1/21 ER –, juris).
Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,
dem Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung aufzugeben, ihm eine unverzügliche Impfung gegen das Coronavirus zu ermöglichen und sicherzustellen,
hat keinen Erfolg.
Er ist zwar zulässig, im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts jedoch nicht begründet.
Der 83-jährige Antragsteller begehrt den Erlass einer einstweiligen Anordnung und macht diesbezüglich geltend, aufgrund seines Lebensalters, erheblicher Vorerkrankungen sowie seiner Lebenssituation als Vater von zwei schulpflichtigen Kindern einen Anspruch auf unverzügliche Impfung gegen das Coronavirus SARS CoV-2 zu haben. Es handele sich um einen Härtefall. Das Ermessen des Antragsgegners sei auf Null reduziert. Das durch den Antragsgegner vorgebrachte Argument eines Mangels an Impfstoffes treffe nicht zu.
Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn in Bezug auf den Streitgegenstand die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung, § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO), oder wenn in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine vorläufige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung, § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). In beiden Fällen setzt der Erlass einer einstweiligen Anordnung das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Notwendigkeit einer Eilentscheidung sowie eines Anordnungsanspruches, also einen rechtlichen Anspruch auf die begehrte Maßnahme voraus.
Vorliegend fehlt es an einem Anordnungsanspruch. Das einstweilige Rechtsschutzverfahren nach § 123 VwGO dient grundsätzlich nur der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses; einem Antragsteller soll hier regelmäßig nicht bereits das gewährt werden, was er nur in einem Hauptsacheverfahren erreichen kann. Die von dem Antragsteller begehrte Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 stellt sich allerdings als eine endgültige Vorwegnahme der Hauptsache dar. Wird – wie hier – die Hauptsache vorweggenommen, kann dem Eilantrag nach § 123 VwGO nur stattgegeben werden, wenn dies zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG schlechterdings unabweisbar ist. Dies setzt hohe Erfolgsaussichten, also eine weit überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs in der Hauptsache, sowie schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile im Falle des Abwartens in der Hauptsache voraus (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 6.7.2018 – 3 Bs 97/18 –, juris, Rn. 35).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Der Antragsteller hat zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (noch) keinen Anspruch auf eine Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2.
Als Rechtsgrundlage für einen solchen Anspruch kommt zunächst § 1 Abs. 1 Satz 1, Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Nr. 1 der Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 (im Folgenden: Coronavirus-Impfverordnung, CoronaImpfV) in Betracht. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 CoronaImpfV haben die in Satz 2 näher definierten Personen im Rahmen der Verfügbarkeit einen Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Corona-Virus SARS-CoV-2. Nach § 1 Abs. 2 CoronaImpfV sollen die Länder und der Bund den Impfstoff so nutzen, dass die Anspruchsberechtigten in der Reihenfolge der §§ 2 ff. CoronaImpfV berücksichtigt werden. Danach haben die in § 2 CoronaImpfV genannten Personen mit höchster Priorität einen Anspruch auf Schutzimpfung. Hierzu gehören unter anderem auch Personen, die das 80. Lebensjahr vollendet haben. Gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV können innerhalb der in Satz 1 genannten Gruppen bestimmte Anspruchsberechtigte vorrangig berücksichtigt werden.
Nach Maßgabe dessen besteht derzeit noch kein Anspruch auf Erhalt einer Schutzimpfung zugunsten des Antragstellers. Zwar gehört der 83-jährige Antragsteller unstreitig zu dem in § 1 Abs. 1 Satz 2 CoronaImpfV bestimmten Personenkreis sowie zu den Anspruchsberechtigten mit höchster Priorität im Sinne des § 2 CoronaImpfV, da er das 80. Lebensjahr vollendet hat. Aus dem Wortlaut der Norm ergibt sich jedoch auch, dass der Anspruch nur im Rahmen der Verfügbarkeit der vorhandenen Impfstoffe besteht, der Anspruch auf Impfung also durch etwaige Kapazitätsgrenzen beschränkt wird. Dies ist vorliegend der Fall. Der Antragsgegner hat nachvollziehbar dargelegt, dass dem Land derzeit nicht ausreichend Impfstoff zur Verfügung steht, um alle (rund 800.000) Personen, die der Gruppe mit höchster Impfpriorität angehören, zu impfen. Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist auch nicht erkennbar, dass derzeit ein Überschuss an gelagerten Impfdosen besteht. Nach dem Vortrag des Antragsgegners werden die dem Land Niedersachsen zur Verfügung gestellten Impfdosen so schnell wie möglich verimpft. Von jeder Lieferung des Impfstoffes werde jeweils zunächst die Hälfte für die benötigte Zweitimpfung zurückgehalten, damit diese auch im Falle etwaiger Produktions- oder Lieferengpässe durchgeführt werden könne. Die Verteilung der Impfstoffe an die Impfzentren erfolge auf Basis der Anzahl der Einwohner, die durch das jeweilige Impfzentrum zu versorgen sind. Der Impfstoff könne nur in Paketen von 975 Impfdosen (oder einem Vielfachen davon) ausgeliefert werden. Die Lieferung erfolge in Lieferintervallen. Dadurch sei es zwar möglich, dass die zentrale Lagermenge für eine kurze Zeit die Anzahl der Impfdosen übersteige, die für eine Zweitimpfung zurückgehalten werden. Zudem benötigten die mobilen Impfteams eine gewisse Zeit für die Ansteuerungen der Pflegeeinrichtungen. Eine Lagerung überschüssiger Impfdosen ohne sachlichen Grund erfolge jedoch nicht. Diesen Vortrag hält das Gericht im Rahmen der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung für nachvollziehbar und schlüssig. Darauf, ob die bestehende Knappheit des Impfstoffes durch den Antragsgegner selbst verschuldet ist – wie es der Antragsteller geltend macht – kommt es nicht an. Dies vermag das Gericht im Übrigen auch nicht zu erkennen. Insbesondere ist nichts dagegen zu erinnern, dass der Antragsgegner Impfstoffdosen für die notwendige Zweitimpfung zurückhält. Nach den Empfehlungen des RKI soll die zweite Impfstoffdosis nicht mehr als 42 Tage nach der ersten Dosis verabreicht werden. Um sicherzustellen, dass dieser Zeitraum nicht überschritten wird, ist es auch nach Auffassung der Kammer angesichts der derzeit teilweise bestehenden Lieferschwierigkeiten der Impfstoffhersteller sachgerecht, die entsprechenden Zweitdosen für die bereits geimpften Personen zurückzuhalten. Andernfalls besteht das Risiko, dass die zweite Impfung erst verspätet oder gar nicht verabreicht werden kann. Die Ständige Impfkommission beim Robert-Koch-Institut (STIKO) hat in ihren Empfehlungen (Epidemiologisches Bulletin, Beschluss der STIKO zur 1. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung vom 14.1.2021, S, 30, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/02_21.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt abgerufen am 25.1.2021) diesbezüglich auf Folgendes hingewiesen:
„Unabhängig davon, dass es bisher kein gesichertes immunologisches Korrelat für die Seroprotektion gibt, liegen keine Daten zum zeitlichen Antikörperverlauf nach einmaliger Impfung vor. Es ist jedoch zu vermuten, dass ein Rückgang der Antikörper bei deutlich niedrigerem Ausgangsniveau nach der ersten Impfung schneller zu einem abnehmenden Schutz führt als nach zwei Impfungen und somit der Schutz weniger lang anhält. Eine schwächere Immunantwort nach nur einer Impfung könnte bei späterer Antigenexposition möglicherweise zu einer Verschiebung zwischen neutralisierenden und nicht-neutralisierenden Antikörpern führen und damit im ungünstigsten Fall zu einem Überwiegen infektionsverstärkender Antikörper führen (antibody dependent enhancement, ADE), wie es für einzelne andere respiratorische Virusinfektionen beschrieben worden ist.
Aus anderen Virussystemen ist bekannt, dass Teilimmunität, die weitere Virusvermehrung zulässt, unter Umständen rascher zur Selektion von sogenannten „immune escape-Mutanten“ führen kann. Dies ist für SARS-CoV-2 bisher nicht gezeigt worden, muss aber bei diesen Überlegungen berücksichtigt werden.
Auch stünde zu befürchten, dass mehr begonnene Impfserien nicht abgeschlossen würden, da Termine in größeren Abständen eher versäumt werden.
Letztlich bleibt festzustellen, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig offen ist, ob man durch eine Verschiebung der Zweitimpfung von 21 bzw. 28 Tagen auf einen späteren Zeitpunkt (z.B. 60, 90 oder 120 Tage nach der ersten Impfung) und eine damit einhergehende Erhöhung der Anzahl der zumindest einmalig Geimpften tatsächlich mehr schwere Erkrankungen und Todesfälle verhindert als durch eine zeitnahe zweite Impfung der vulnerablen Hochrisikogruppen, welche dann zu einem nahezu vollständigen Schutz vor Erkrankung führt.
Aus den vorgenannten Gründen hat die STIKO entschieden, den folgenden Impfabstand zu empfehlen: Die zweite Impfstoffdosis soll in einem Mindestabstand von 21 (BNT162b2) bzw. 28 (mRNA-1273) Tagen und nicht später als 42 Tage (durch die Zulassungsstudien abgedeckter Zeitraum) nach der ersten Impfstoffdosis verabreicht werden.“
Danach teilt die Kammer die durch den Antragsteller vertretene Auffassung, die Entscheidung des Antragsgegners sei politischer Natur und in keiner Weise wissenschaftlich oder durch das Pandemiegeschehen zwingend, nicht.
Ist der Impfstoff demnach bislang nur in sehr begrenzter Kapazität vorhanden und eine Impfung aller anspruchsberechtigten Personen tatsächlich nicht möglich, ist gegen die durch den Antragsgegner vorgenommene weitere Priorisierung nichts zu erinnern. Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV können innerhalb der jeweiligen Gruppen von Anspruchsberechtigten auf Grundlage der jeweils vorliegenden infektiologischen Erkenntnisse, der jeweils aktuellen Empfehlung der STIKO und der epidemiologischen Situation vor Ort bestimmte Anspruchsberechtigte vorrangig berücksichtigt werden. Dies hat der Antragsgegner umgesetzt, indem er sich dazu entschieden hat, zunächst Personen in Alten- und Pflegeheimen in Landkreisen mit hohen Inzidenzwerten zu impfen. Sobald alle Alten- und Pflegeheime mit Impfstoff versorgt sind, wird auch allen anderen in der ersten Gruppe impfberechtigten Personen die Möglichkeit gegeben, einen Impftermin zu vereinbaren. Dieses Vorgehen entspricht den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert-Koch-Institut (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin, Beschluss der STIKO zur 1. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung vom 14.1.2021, S, 53 f., abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/02_21.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt abgerufen am 25.1.2021), welche unter Berücksichtigung des gemeinsam mit dem Deutschen Ethikrat und der Leopoldina erstellten Positionspapiers ausgesprochen wurden, und ist nach Auffassung der Kammer auch sachlich gerechtfertigt.
Die durch den Antragsgegner vorgenommene Priorisierung von Alten- und Pflegeheimen verfolgt mit der Verhinderung von schweren COVID-19-Erkrankungen und –todesfällen und einer daraus resultierenden Überlastung der medizinischen Versorgungseinrichtungen einen legitimen Zweck. Sie ist zur Erreichung dieses Zweckes auch geeignet, da in den entsprechenden Einrichtungen das Ausbruchspotenzial als besonders hoch anzusehen und oftmals mit schwerwiegenden Folgen für die dort wohnhaften Personen verbunden ist. Eine Priorisierung der zu impfenden Bevölkerungsgruppen anhand der Beurteilung eines besonders hohen Risikos und einer besonders hohen Gefahrenlage ist zudem erforderlich, da auch aus Sicht der Kammer derzeit kein milderes Mittel zur Verfügung steht. Um die Bevölkerung vor dem Coronavirus SARS-CoV-2 bestmöglich zu schützen, ist es nach den Angaben der STIKO und des Deutschen Ethikrates sowie der Leopoldina notwendig, zunächst vorrangig die Personen zu impfen, die ein besonders hohes Risiko für einen tödlichen oder schweren Verlauf von COVID-19 aufweisen, ein besonders hohes arbeitsbedingtes Expositionsrisiko gegenüber SARS-CoV-2 haben oder aufgrund ihrer Tätigkeit in häufigem Kontakt zu besonders durch COVID-19 gefährdeten Personen stehen. Dies trifft auf die Bewohner und Bewohnerinnen in Pflege- und Altenheimen in besonderem Maße zu. Diese haben im Vergleich zu Personen desselben Alters, die nicht in einer solchen Einrichtung leben, ein deutlich erhöhtes Risiko, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren und an COVID-19 zu versterben. Seit Beginn der Pandemie haben sich laut Robert Koch-Institut über 44.000 Personen, die in Pflegeeinrichtungen leben, mit dem Coronavirus infiziert. Davon sind über 7.000 Menschen verstorben (vgl. Aktueller Lage-/Situationsbericht des RKI zu COVID-19, Stand 24.1.21, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Jan_2021/2021-01-24-de.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt abgerufen am 25.1.2021). Die Ausbruchszahlen in Alten- und Pflegeheimen sowie in Seniorentagesstätten sind neben Ausbrüchen in Flüchtlings- und Asylbewerberheimen am höchsten (vgl. Beschluss der STIKO zur 1. Aktualisierung der COVID-19 Impfempfehlung und die dazugehörige wissenschaftliche Begründung, Seite 45, a.a.O., abgerufen am 21.1.2021). Angesichts dessen scheint es auch aus Sicht der Kammer erforderlich, diese Personengruppe vorrangig mit Impfstoff zu versorgen.
Die Priorisierung ist schließlich auch angemessen. Die Kammer teilt die Auffassung des Antragsgegners, dass durch die mit der Priorisierung verbundene vorübergehende Zurückstellung der übrigen impfinteressierten Einwohner des Landes – und damit auch des Antragstellers – allenfalls ein mittelbarer Grundrechtseingriff vorliegt. Demgegenüber überwiegen die öffentlichen Interessen an einer Impfung besonders vulnerabler Gruppen, zu denen insbesondere die in Pflegeinrichtungen wohnenden Menschen gehören. So dient die priorisierte Impfung einerseits dem persönlichen Schutz dieser Personen, andererseits aber auch der Wahrung der Funktionsfähigkeit der medizinischen Versorgungseinrichtungen. Aufgrund des bereits dargelegten Risikos eines besonders schweren Krankheitsverlaufes dieser Personengruppe sowie der Gefahr der raschen Verbreitung des Virus innerhalb einer Einrichtung, können Ausbruchsgeschehen in Pflege- und Altenheimen zu besonderen Belastungen der Intensivkapazitäten in den Kliniken führen. Die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung und der Schutz besonders gefährdeter Gruppen ist ein überragendes Interesse der Allgemeinheit, das das Individualinteresse des Antragstellers an einer sofortigen Schutzimpfung überwiegt.
Nach alledem ist nicht ersichtlich, dass der Antragsgegner das ihm durch § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV eingeräumte Ermessen durch seine Entscheidung, die in Alten- und Pflegeheimen wohnhaften Personen vorrangig zu impfen, fehlerhaft ausgeübt hätte.
Für den hier zu entscheidenden Einzelfall ergibt sich auch nach dem ergänzenden Vortrag des Antragstellers nichts anderes. Es kann dahinstehen, ob die Coronavirus-Impfverordnung eine ausdrückliche Härtefallregelung enthalten müsste und somit in ihrer aktuellen Fassung gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstößt, denn nach Auffassung der Kammer liegt bei dem Antragsteller kein besonderer Härtefall vor. Es ist nicht ersichtlich, dass die Situation des Antragstellers – im Vergleich zu den anderen Angehörigen der Gruppe mit der höchsten Impfpriorität – derart verschärft ist, dass eine vorgezogene Schutzimpfung zwingend erforderlich und das Ermessen des Antragsgegners insoweit auf Null reduziert ist. Zwar verkennt die Kammer bei ihrer Entscheidung nicht die Schwere der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Antragstellers und berücksichtigt auch, dass dieser nach eigenen Angaben hilfebedürftig (Pflegestufe 1) ist. Gleichwohl ist es dem Antragsteller nach Auffassung des Gerichtes zuzumuten, sich bis zu einer Impfung zur Vermeidung einer Infektion mit COVID-19 in besonderem Maße an die ohnehin für die gesamte Bevölkerung geltenden Schutzmaßnahmen zu halten, sich gegebenenfalls nur noch in seiner häuslichen Umgebung aufzuhalten und auch dort eine besondere Vorsicht im Umgang mit anderen Haushaltsmitgliedern walten zu lassen. Es ist nicht ersichtlich, dass dem Antragsteller eine solche Selbstisolierung nicht möglich und zumutbar ist. Dies gilt auch unter Berücksichtigung seiner geltend gemachten Pflegebedürftigkeit. Diesbezüglich hat der Antragsteller vorgetragen, derzeit von seiner Ehefrau gepflegt zu werden, sodass ein Umgang mit nicht dem Haushalt angehörigen Personen trotz seines Gesundheitszustandes zum aktuellen Zeitpunkt weitgehend vermeidbar sein dürfte. Insoweit unterscheidet sich der Antragsteller maßgeblich von anderen pflegebedürftigen Personen, die durch einen ambulanten Pflegedienst betreut werden oder in einer Pflegeinrichtung untergebracht sind und für die es dadurch unumgänglich ist, zu Personen außerhalb des eigenen Hausstandes Kontakt zu haben.
Aus dem Umstand, dass der Antragsteller Vater zweier schulpflichtiger Kinder und Ehemann einer berufstätigen Ehefrau ist, ergibt sich nichts anderes. Zwar hält auch die Kammer es nicht für ernstlich zumutbar, dass der Antragsteller sich von seinen Kindern und seiner Ehefrau vollständig isoliert. Es erscheint jedoch möglich und umsetzbar, dass die Familieneinheit ihre Kontakte nach außen so weit wie möglich reduziert und das Ansteckungsrisiko des Antragstellers dadurch minimiert. So besteht für die Kinder des Antragstellers derzeit keine Verpflichtung, die Schule zu besuchen, da – auch für das jüngere Kind – die Präsenzpflicht aktuell aufgehoben und die Befreiung von der Präsenzbeschulung bereits beantragt wurde. Die sich daraus ergebene Situation stellt zweifelsohne eine hohe Belastung sowohl für die Kinder als auch den Antragsteller selbst dar; dies betrifft jedoch gleichermaßen alle Familien mit schulpflichtigen Kindern und gesundheitlich vorbelasteten Haushaltsangehörigen. Insoweit unterscheidet sich die Lage des Antragstellers nicht so maßgeblich von anderen Fällen, dass in seiner Situation von einem besonderen Härtefall ausgegangen werden könnte. Im Hinblick auf die Berufstätigkeit des Antragstellers und dessen Ehefrau ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass diese einen unmittelbaren Kontakt zu Dritten zwingend erforderlich macht.
Das Gericht ist sich darüber bewusst, dass diese Maßnahmen erhebliche Einschränkungen für den Antragsteller – und auch seine Familie – bedeuten und vermag das Bedürfnis nach einer sofortigen Schutzimpfung vor diesem Hintergrund uneingeschränkt nachzuvollziehen. Dies gilt gleichermaßen jedoch auch für eine große Anzahl anderer Bürger in Niedersachsen, insbesondere für ältere Personen mit Vorerkrankungen. Angesichts dessen vermag das Gericht einen besonderen Härtefall, der den weiten Ermessensspielraum des Antragsgegners auf Null reduziert, in der Person des Antragstellers nicht zu erkennen.
Für den Antragsteller besteht somit kein Anspruch auf eine Schutzimpfung nach der Coronavirus-Impfverordnung, solange die priorisiert zu berücksichtigenden Einrichtungen nicht vollständig versorgt sind. Dies ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts nicht der Fall.
Ob die Priorisierung der Anspruchsberechtigten durch die Coronavirus-Impfverordnung mit dem verfassungsrechtlichen Wesentlichkeitsgrundsatz vereinbar ist oder ob der parlamentarische Gesetzgeber die für die Vergabe wesentlichen Fragen selbst hätte regeln müssen, bedarf vorliegend keiner Entscheidung (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 11.1.2021 – 20 L 1812/20 –, juris, Rn. 65 - 67). Denn selbst, wenn die Coronavirus-Impfverordnung als verfassungswidrig und damit nichtig anzusehen sein sollte, ergäbe sich hieraus für den Antragsteller noch kein Anspruch auf sofortige Impfung. In diesem Fall müsste der Antragsgegner die Verteilung des nur begrenzt vorhandenen Impfstoffes selbstständig unter Beachtung verfassungsrechtlicher Grundsätze organisieren. Auch dann wäre es rechtlich aber nicht zu beanstanden, dass der Antragsteller zunächst die Versorgung von Pflegeeinrichtungen mit dem Impfstoff abwarten muss, bevor sich für ihn ein Anspruch auf Erhalt einer Schutzimpfung ergibt.
So steht dem Anspruchsteller derzeit kein Teilhabeanspruch aus Art. 2 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) zu, denn auch dieser Anspruch besteht nur im Rahmen der aktuell tatsächlich zur Verfügung stehenden Kapazitäten (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 11.1.2021 – 20 L 1812/20 –, juris, Rn. 50). Die Begrenzung des Anspruchs auf Teilhabe an staatlichen Leistungen auf die jeweils vorhandenen Kapazitäten ist allgemein anerkannt. Gewährt der Staat eine staatliche Leistung, folgt aus Art. 3 Abs. 1 GG ein Anspruch auf Teilhabe, wenn die Nichtleistung dem Anspruchssteller gegenüber eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung darstellt. Der Anspruch steht allerdings unter dem Vorbehalt des Möglichen in dem Sinn, dass die Verwaltung etwa nicht mehr als die ihr für eine bestimmte Subvention zur Verfügung gestellten Mittel ausgeben oder nur bis zur Kapazitätsgrenze Personen zur Nutzung einer Einrichtung zulassen kann. Diese Grenzen des Möglichen sind mit anderen Worten auch unter Gleichheitsgesichtspunkten sachgerechte Gründe für eine Beschränkung des Anspruchs. Ihre praktische Ausgestaltung (z.B. Windhundprinzip, gleichmäßige Begrenzung der Leistung, je unterschiedliche Leistungen) obliegt der Verwaltung, solange die dabei gefundenen Differenzierungen nur wiederum sachgerecht sind (VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 11.1.2021 – 20 L 1812/20 –, juris, Rn. 50). Hierbei kommen der Verwaltung eine Einschätzungsprärogative und ein weiter Gestaltungsspielraum zu.
Wie bereits dargelegt, sind zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ausreichend Impfstoffe vorhanden, um allen in Niedersachsen wohnhaften Personen eine Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV- 2 zu ermöglichen. Grundsätzlich kann der Antragsteller zur Wahrung seines Teilhabeanspruchs somit nur verlangen, dass die vorhandenen Impfstoffkapazitäten nach sachgerechten Maßstäben verteilt werden. Dies ist hier nach Auffassung der Kammer der Fall. Die durch den Antragsgegner festgelegte Reihenfolge der Verteilung der Impfstoffe ist aus den oben dargelegten Gründen verhältnismäßig und stellt keine sachlich ungerechtfertigte Ungleichbehandlung des Antragstellers mit Bewohnern und Bewohnerinnen von Pflege- und Altenheimen dar. Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsgegner systematisch gleichheitswidrig bei der Verteilung des Impfstoffes vorgeht. Die Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronavirus SARS-CoV- 2 ist für Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, deren Widerstandfähigkeit oftmals durch hohes Alter oder bestehende Vorerkrankungen stark eingeschränkt ist und für die es kaum umsetzbar ist, sich von Mitbewohnern und Pflegekräften räumlich zu distanzieren, deutlich erhöht. Personen, die in häuslicher Umgebung wohnen, ist es dagegen wesentlich leichter möglich, zum Eigenschutz die Kontakte erheblich zu reduzieren (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 11.1.2021 – 20 L 1812/20 –, Rn. 58, juris). Dies gilt (wie oben bereits ausgeführt) auch für den Antragsteller. Zwar verkennt die Kammer nicht, dass der Antragsteller Vorerkrankungen hat und damit ebenfalls als besonders vulnerabel anzusehen ist. Sein Risiko, sich bei Haushaltsangehörigen anzustecken ist im Vergleich zu Bewohnerinnen und Bewohnern von Pflegeeinrichtungen aber als vergleichsweise gering anzusehen. So ist es ihm möglich und zumutbar, sich in der verbleibenden Zeit bis zu seiner Impfung bestmöglich durch Kontaktvermeidung und weitere Schutzmaßnahmen zu schützen. Hierbei ist schließlich auch zu berücksichtigen, dass die Impfung der Personen über 80, zu denen auch der Antragsteller gehört, in Niedersachsen bereits ab dem 28. Januar 2021 beginnen soll. Eine Ungleichbehandlung ist somit aktuell gerechtfertigt. Ein Teilhabeanspruch zugunsten des Antragstellers besteht nach alledem nicht.
Sonstige Rechtsgrundlagen, aus denen der Antragsteller einen Anspruch auf sofortige Impfung herleiten könnte, sind nicht ersichtlich.
Da es somit bereits an einem Anordnungsanspruch fehlt, muss über die Frage, ob der Antragsteller einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht hat, nicht mehr entschieden werden. Damit bleibt dem Antrag des Antragstellers – bei allem Verständnis für dessen Situation und Wunsch nach einer umgehenden Schutzimpfung – der Erfolg versagt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Von einer Reduzierung des Betrages im Eilverfahren (vgl. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs der Verwaltungsgerichtsbarkeit) ist abzusehen, weil aufgrund der begehrten Vorwegnahme der Hauptsache die Bedeutung des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens dem Hauptsacheverfahren entspricht.