Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 04.07.2008, Az.: 7 A 3665/07

Heilpraktiker; Heilkunde; Physiotherapeut; Physiotherapie

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
04.07.2008
Aktenzeichen
7 A 3665/07
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2008, 45987
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOLDBG:2008:0704.7A3665.07.0A

Fundstelle

  • GewArch 2008, 450-453

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Erlaubnis zur selbständigen Ausübung zur Heilkunde darf auch gegenständlich beschränkt für bestimmte Fachgebiete erteilt werden (hier: Beschränkung auf Physiotherapie unter Ausschluss bestimmter Behandlungen).

  2. 2.

    Für die Erlaubnis zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktiker) beschränkt auf das Gebiet der Physiotherapie sind die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Inhabers einer Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 MPhG nicht gemäß § 2 Abs. 1 lit. i. HeilprDV (schriftlich und mündlich) zu überprüfen.

  3. 3.

    Der Inhaber einer Erlaubnis gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 MPhG, der beschränkt auf das Gebiet der Physiotherapie die Heilkunde ausübt, ist nicht gemäß § 1 Abs. 3 Halbsatz 2 HPG verpflichtet, die Berufsbezeichnung Heilpraktiker zu führen.

Tatbestand:

1

Der Senator für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Berlin erteilte dem 1941 geborenen Kläger durch Urkunde vom 13. Januar 1969 die Erlaubnis "nach dreijähriger Ausbildung aufgrund des Gesetzes über die Ausübung der Berufe des Masseurs und medizinischen Bademeisters und des Krankengymnasten vom 21. Dezember 1958", eine Tätigkeit unter der Berufsbezeichnung Krankengymnast auszuüben. Der Kläger war danach zunächst als angestellter Krankengymnast und seit 1978 freiberuflich in eigener Praxis in Oldenburg tätig; seit ca. drei Jahren behandelt der Kläger lediglich Privatpatienten.

2

Der Kläger beantragte am 16. Juli 2007 und am 1. Oktober 2007 bei der Beklagten die Erlaubnis, die Heilkunde nach § 1 Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (im Folgenden: HPG) selbstständig auszuüben, und zwar bezogen und beschränkt auf den Bereich der Physikalischen Therapie und der Physiotherapie im Sinne der §§ 3 und 8 des Gesetzes zur Regelung der Berufe in der Physiotherapie (im Folgenden: MPhG) ohne weitere Eignungsprüfung und unter Freistellung von der Verpflichtung, die Berufsbezeichnung "Heilpraktiker" zu führen. Zur Begründung bezog er sich auf ein Urteil des OVG Koblenz vom 21. November 2006.

3

Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 13. Dezember 2007 ab. Zur Begründung bezog sie sich auf § 2 Abs. 1i der ersten Durchführungsverordnung zum Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (im Folgenden: DVO-HPG I), wonach die Erlaubnis eine Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers durch das Gesundheitsamt voraussetze. Diese sei nicht wegen der Prüfung des Klägers durch den staatlichen Prüfungsausschuss an der Lehranstalt für Krankengymnastik in Berlin (Prof. Dr. Vogler - s. die Urkunde des Landes Berlins vom 13. Januar 1969) entbehrlich. Das Urteil des OVG Koblenz vom 21. November 2006 werde von den für das Heilpraktikergesetz zuständigen Länderreferenten abgelehnt, weil es den Vorgaben des Heilpraktikergesetzes nicht ausreichend Rechnung trage und auf einer Fehleinschätzung der differentialdiagnostischen Fähigkeiten der Physiotherapeuten beruhe. Zudem hielten die Länder einhellig daran fest, dass die Heilpraktikererlaubnis nicht teilbar sei. Die "Heilpraktikererlaubnis beschränkt auf das Gebiet der Psychotherapie" sei eine einzige Ausnahme von diesem Grundsatz und trage einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ( BVerfGE 78, 179 [BVerfG 10.05.1988 - 1 BvR 482/84] ) Rechnung.

4

Der Kläger hat am 27. Dezember 2007 Klage erhoben.

5

Er trägt vor: Der Erlaubnisvorbehalt des § 1 des Gesetzes über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestellung (im Folgenden: HPG) diene der Gefahrenabwehr im Bereich der nichtärztlichen Heilberufe. Die Erlaubnis lasse sich auch auf einen Ausschnitt der nichtärztlichen Heiltätigkeiten beschränken und mit der beantragten Nebenbestimmung erteilen. Nur eine solche Auslegung werde der starken Ausdifferenzierung der nichtärztlichen Heilberufe gerecht, für die das HPG weder ein einheitliches Berufsbild noch eine vereinheitlichende Berufszulassung regele. Anderenfalls würde der Erlaubnisvorbehalt aus § 1 Abs. 1 HPG die eigenverantwortliche Tätigkeit als Physiotherapeut von den Fähigkeiten als Heilpraktiker abhängig machen, was mit Art. 12 GG unvereinbar sei. Dem Zweck der Gefahrenabwehr durch diesen Erlaubnisvorbehalt genüge es, wenn die Behörde aufgrund des Nachweises einer entsprechenden Ausbildung (wie dem Physiotherapeutenexamen) wisse, dass von der eigenverantwortlichen Tätigkeit des Antragstellers keine Gefahr für die Gesundheit seiner Patienten ausgehe. Dies sei im Fall des Klägers auch durch seine langjährige berufliche Tätigkeit als Physiotherapeut nachgewiesen. Die Ausbildung zum Physiotherapeuten bereite auf einen Berufsalltag vor, in dem ganz überwiegend Patienten vom Arzt nur unter knapper Angabe des Leitsymptoms und damit zu einer faktisch eigenverantwortlichen Behandlung überwiesen würden. Ein Physiotherapeut müsse auch diagnostische Verfahren zur fachspezifischen Befundung anwenden; insoweit sei seine Anamnesepraxis mit der eines spezialisierten Facharztes vergleichbar. Der Verdacht, von der eigenverantwortlichen Tätigkeit des Klägers gingen höhere Gefahren für die Patienten aus, nur weil diese in Folge der Erlaubnis nach dem HPG nicht mehr aufgrund einer ärztlichen Verschreibung zum Kläger kommen müssten, sei daher nicht gerechtfertigt. Er werde in seiner Berufsfreiheit aus Art. 12 GG verletzt, wenn er so mittelbar gezwungen werde, für die begehrte Ausübung seines Heilberufs zusätzlich den des Heilpraktikers zu erlernen.

6

Der Kläger beantragt,

  1. die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 13. Dezember 2007 zu verpflichten, ihm unter Freistellung von der Verpflichtung zur Führung der Berufsbezeichnung "Heilpraktiker" die Erlaubnis zu erteilen, Heilkunde nach Maßgabe von § 1 Heilpraktikergesetz selbständig und beschränkt auf den Bereich der Physikalischen Therapie und Physiotherapie im Sinne von §§ 3 und 8 des Gesetzes über die Berufe in der Physiotherapie mit Ausnahme von Behandlungen der Traktion der Wirbelsäule und der Durchführung von Thermalbädern als Vollbäder inklusive Stangerbäder auszuüben.

7

Die Beklagte beantragt unter Vertiefung und Ergänzung ihres bisherigen Vortrags,

  1. die Klage abzuweisen.

8

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen; sie waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

9

Das Gericht hat erwogen, ob der Kläger seine Klage teilweise durch seinen Schriftsatz vom 3. Juni 2008 zurückgenommen hat. Erst in diesem Schriftsatz hat er den Antrag wie in der mündlichen Verhandlung vom 4. Juli 2008 gestellt; ursprünglich hatte der Kläger die "Heilpraktiker-Erlaubnis" ohne Einschränkungen beantragt. Der Kläger hat indes mit dem Schriftsatz vom 3. Juni 2008 sein Begehren lediglich klargestellt; er hat mit diesem Schriftsatz glaubhaft gemacht, dass er in seiner Praxis nicht über die apparative Ausstattung für Heilbäder verfügt, und dass Traktionen der Wirbelsäule nicht Gegenstand seiner Tätigkeit ohne ärztliche Verordnung sein würden.

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Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 13. Dezember 2007 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass ihm die beantragte Heilpraktikererlaubnis ohne Überprüfung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten nach § 2 Abs. 1 DVO-HPG I (dazu 1.) beschränkt auf bestimmte Tätigkeiten als Physiotherapeut (dazu 2.) und unter Freistellung von der Pflicht, die Berufsbezeichnung "Heilpraktiker" zu führen (dazu 3.), erteilt wird.

11

Anspruchsgrundlage für die begehrte Erlaubnis ist § 1 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 HPG i.V.m. § 2 Abs. 1 DVO-HPG I i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG. Nach § 1 Abs. 1 HPG bedarf der Erlaubnis, wer die Heilkunde, ohne als Arzt bestellt zu sein, ausüben will; zwischen den Beteiligten ist zurecht unstreitig, dass der Kläger für die von ihm begehrte Tätigkeit dieser Erlaubnis bedarf. Ihre Erteilung steht nicht im Ermessen der Beklagten. Vielmehr ist nach der gebotenen verfassungskonformen Auslegung des vorkonstitionellen HPG zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung zuzulassen, wer keinen der rechtsstaatlich unbedenklichen Versagungsgründe aus § 2 Abs. 1 DVO-HPG I gegen sich hat (ständige Rechtsprechung seit BVerwG, Urteil vom 24. Januar 1957 - 1 C 194.54 -, BVerwGE 4, 250[BVerwG 24.01.1957 - BVerwG I C 194/54] ).

12

1.

Der Erteilung dieser Erlaubnis steht im Falle des Klägers nicht die hier allein streitige Regelung des § 2 Abs. 1i DVO-HPG I entgegen. Nach dieser Vorschrift darf die Heilpraktikererlaubnis nicht erteilt werden, wenn sich aus einer Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers durch das Gesundheitsamt ergibt, dass die Ausübung der Heilkunde durch den Betreffenden eine Gefahr für die Volksgesundheit bedeuten würde. Indes regeln weder das Gesetz noch die DVO-HPG I, in welcher Form und in welchem Umfang das Gesundheitsamt Kenntnisse und Fähigkeiten eines Antragstellers zu überprüfen hat. Dies löst zwar im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 GG Bedenken aus, welche sich aber durch verfassungskonforme Auslegung überwinden lassen (s. hierzu insbesondere BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 1988 - 1 BvR 482/84 und  1166/84 -, BVerfGE 78, 179 [BVerfG 10.05.1988 - 1 BvR 482/84] ). Nach Überzeugung der Kammer wird die Volksgesundheit nicht i.S.v. § 2 Abs. 1i DVO-HPG I gefährdet, wenn der Kläger ohne vorherige Überprüfung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten selbstständig physiotherapeutische Leistungen erbringt. Dafür sind folgende Erwägungen maßgeblich:

13

Die Überprüfung nach § 2 Abs. 1i DVO-HPG I ist eine Maßnahme der Gefahrenabwehr und keine berufseröffnende Eignungskontrolle. Sie ist ein Negativattest, wonach die Ausübung der Heilkunde durch den Anwärter die Volksgesundheit nicht gefährdet, und soll Personen mit schwerwiegenden medizinischen Fehlvorstellungen von der Ausübung der Heilkunde ausschließen ( OVG Koblenz, Urteil vom 21. November 2006 - 6 A 10271/06 -, zitiert nach juris; VG Stuttgart, Urteil vom 10. April 2008 - 4 K 5891/07 -, zitiert nach juris jeweils mit m.w.N.). Eine solche Überprüfung ist im Regelfall notwendig, weil für den Beruf des Heilpraktikers kein gesetzlich fest umrissenes Berufsbild, sondern nur ein Berufsfeld ohne staatlich reglementierte Ausbildung existiert (s. BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 1988, a.a.O.). Demgegenüber muss ein Physiotherapeut die im MPhG umschriebene Ausbildung durchlaufen und mit einer staatlichen Prüfung abgeschlossen haben. Damit ist nachgewiesen, dass der Physiotherapeut den beruflichen Anforderungen in Theorie und Praxis vollständig gewachsen ist und sich bei seiner Tätigkeit nicht von medizinischen Fehlvorstellungen leiten lässt.

14

Zu diesem Personenkreis zählt auch der Kläger. Zwar ist ihm nicht eine Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 MPhG erteilt worden, sondern - im Jahre 1969 - die Erlaubnis, eine Tätigkeit unter der Berufsbezeichnung Krankengymnast auszuüben. Gemäß § 16 Abs. 1 Satz 2 MPhG gilt eine vor Inkrafttreten des MPhG erteilte Erlaubnis als "Krankengymnast" als eine Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 MPhG. Diese Berufsqualifikation berechtigt den Kläger zur Ausübung der erlernten Berufstätigkeit innerhalb des Berufsbildes der Physiotherapeuten. Der Physiotherapeut verfügt nach seiner Ausbildung über Kenntnisse, die mit den Grundsätzen der Schulmedizin übereinstimmen. Sein Betätigungsfeld ist - anders als beim Heilpraktiker - von vornherein die Schulmedizin; die Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz berechtigt demgegenüber grundsätzlich im gesamten heilkundlichen Bereich zur Diagnostik und therapeutischen Tätigkeit, was wegen der fehlenden geregelten Ausbildung und der Freiheit bei der Diagnostik und Therapie mit - aus Sicht der Schulmedizin - vielfältigen und um überschaubaren Gefahren für die Volksgesundheit i.S.v. § 2 Abs. 1i DVO-HPG I verbunden sein kann (VG Stuttgart, Urteil vom 10. April 2008, a.a.O.).

15

Die Erlaubnis, die Berufsbezeichnung "Physiotherapeut" zu führen (§ 1 Abs. 1 MPhG) setzt nach §§ 12, 13 Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Physiotherapeuten (im Folgenden: PhysTh-APrV) voraus, dass der Bewerber die für seine Berufstätigkeit notwendigen Kenntnisse in Anatomie, Physiologie und spezieller Krankheitslehre sowie in Trainings- und Bewegungslehre, Prävention und Rehabilitation sowie in der methodischen Anwendung der Physiotherapie in den medizinischen Fachgebieten nachweist. Ihm werden mithin Kenntnisse in allgemeiner und spezieller Krankheitslehre sowie physiotherapeutische Befund- und Untersuchungstechniken vermittelt (VG Stuttgart, Urteil vom 10. April 2008, a.a.O.). Er lernt Behandlungsindikationen und Kontraindikationen selbstständig zu erkennen. So weist der Kläger zutreffend darauf hin, dass er oftmals nicht aufgrund einer genauen Diagnose des Arztes, sondern nach einem von diesem angegebenen Beschwerdebild behandeln müsse, weshalb er in aller Regel - zumindest ergänzend - selbst befunden müsse. Wer nach dem Gesetz über die Berufe in der Physiotherapie ausgebildet und examiniert ist, hat bereits deshalb die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Ausübung der Heilkunde, wenn und solange er sein Behandlungsbemühen auf dieses Gebiet begrenzt. Zu Recht weist das OVG Koblenz darauf hin, dass etwas anderes nur dann gelten kann, wenn im Einzelfall begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein Physiotherapeut die notwendigen oder zumindest durchschnittlichen Kenntnisse und Fähigkeiten für seine Berufsfähigkeiten nicht hat (Urteil vom 21. November 2006, a.a.O.). Hierfür ist im Falle des Klägers nichts vorgetragen oder ersichtlich.

16

Es sprechen beachtliche Gesichtspunkte dafür, dass das schulmedizinisch fundierte Wissen, das ein Physiotherapeut auf seinem Fachgebiet nachweisen muss, deutlich weiter reicht als das des Heilpraktikers. Während die dreijährige Ausbildung des Physiotherapeuten mindestens einen theoretischen und praktischen Unterricht von 2900 und eine praktische Ausbildung von 1600 Stunden (jedenfalls in der Regel) umfasst (§ 1 Abs. 1 Satz 1 PhysTh-AbrV), ist für die Zulassung zur Überprüfung nach § 2 Abs. 1i DVO-HPG I eine bestimmte Zahl an Unterrichtsstunden nicht vorgeschrieben. Bei ihr werden Grundkenntnisse in der allgemeinen Krankheitslehre, Erkennung und Unterscheidung von Volkskrankheiten, insbesondere der Stoffwechselkrankheiten, der Herz-Kreislauf-Krankheiten, der degenerativen und übertragbaren Krankheiten, der bösartigen Neubildungen sowie seelischer Erkrankungen (Ziffer 5.7.2d Richtlinie zur Durchführung des Verfahrens zur Erteilung einer Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz vom 1. März 2007 - Nds. MBl. S. 253 - im Folgenden: HP-RL) und Technik der Anamneseerhebung sowie Methoden der unmittelbaren Krankenuntersuchung (Ziffer 5.8.3 HP-RL) überprüft. Dabei können Fehler bei der Beantwortung der Fragen in dieser Überprüfung (Multiple-Choice-Verfahren) durch richtige Antworten auf anderen Gebieten ausgeglichen werden. Zu Recht weist das VG Stuttgart darauf hin, das deshalb nicht erkennbar sei, inwiefern der Physiotherapeut über schlechtere Fähigkeiten im Bereich der Differenzialdiagnose, d. h. bei der Erkennung von Beschwerdebildern, für deren Behandlung er nicht befähigt ist, verfügen soll (Urteil vom 10. April 2008 - 4 K 5891/07 - a.a.O.) Das Gericht teilt auch dessen Auffassung, dass es für die Diagnose derartiger Krankheiten entweder bildgebender Verfahren bedarf, über die auch ein Heilpraktiker nicht verfüge, oder es seien die Krankheitsbilder bereits so schwer oder speziell, dass sich ein Arztbesuch ohnehin aufdränge, und dass im Zweifelsfall ein Physiotherapeut wegen seiner Nähe zur Schulmedizin mit höherer Wahrscheinlichkeit als ein Heilpraktiker den Arztbesuch anraten werde.

17

Nach alledem geht die Nachweisfunktion der Staatsprüfung des Physiotherapeuten über den denkbaren Erkenntniswert der Überprüfung nach § 2 Abs. 1i DVO-HPG I - der Prüfling bedeutet keine Gefahr für die Volksgesundheit - bei weitem hinaus. Das Bestehen dieser Staatsprüfung enthält die Feststellung, dass Heilbehandlungen durch einen examinierten Physiotherapeuten jedenfalls dann kein gesundheitliches Risiko bedeuten, wenn die Dienstleistungen Materien betreffen, die Gegenstand der Prüfung gewesen sind. Deshalb ist eine verfassungskonforme Reduktion der Regelung von § 2 Abs. 1i HPG-DVO I erforderlich. Da der Physiotherapeut in seiner Ausbildung lernt, darauf zu achten, ob seine Behandlung erfolgreich ist oder eine andere nicht abgeklärte Ursache das Leiden seines Patienten nahe legt, ist im Lichte der Bedeutung des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG eine Überprüfung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten gemäß § 2 Abs. 1i DVO-HPG I weder geeignet noch verhältnismäßig (VG Stuttgart, Urteil vom 10. April 2008, a.a.O.). Gefahren für die Volksgesundheit bestehen bei einem geprüften Physiotherapeuten mit Rücksicht auf seine qualifizierte Ausbildung und Prüfung nicht, wenn er lediglich auf seinem Fachgebiet als Heilpraktiker tätig werden will (OVG Koblenz, Urteil vom 21. November 2006, a.a.O.).

18

Das Gericht teilt auch nicht die Auffassung des VG Gelsenkirchen, wonach im Rahmen einer Überprüfung nach § 2 Abs. 1i HPG-DVO I mindestens geklärt werden muss, ob der Kläger in der Lage sei, vor einer Erstbehandlung festzustellen, ob eine physiotherapeutische Behandlung oder Massage zur Behebung oder Linderung der Beschwerden angezeigt sei, und ob ausgeschlossen werden könne, das die Beschwerden Ursachen hätten, die mit solchen Maßnahmen nicht angemessen behandelt werden könnten oder die sogar kontraindiziert seien ( VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22. August 2007 - 7 K 2003/05 -,

19

zitiert nach juris). Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger aufgrund seiner Ausbildung und seines beruflichen Werdegangs diesen Anforderungen genügt (s. dazu allgemein: VG Stuttgart, Urteil vom 10. April 2008, a.a.O.). Dass der Gesetzgeber den Beruf des Physiotherapeuten eindeutig den Heilhilfsberufen zugeordnet hat, rechtfertigt keine andere Beurteilung der Sach- oder Rechtslage. Hierfür ist maßgeblich, dass nach den Vorschriften über die Ausbildung und die Prüfung des Physiotherapeuten eine Gefährdung der Volksgesundheit ausgeschlossen werden kann (§ 2 Abs. 1i HPG-DVO I), wenn der Kläger - wie hier - lediglich auf seinem Fachgebiet tätig sein will.

20

Für diese Überzeugung des Gerichts sind maßgeblich auch die gutachterlichen Stellungnahmen Professor Dr. L. Schürer vom 13. Mai 2008 und Professor Dr. W. Pförringer vom 27. Februar 2008, die - erstattet für Parallelverfahren am Gericht und mit Zustimmung des dortigen Klägers den Beteiligten dieses Verfahrens bekannt gemacht - zu dem Ergebnis kommen, dass Physiotherapeuten, Masseure und Medizinische Bademeister ohne Vorliegen einer ärztlichen Verordnung ihre heilkundlichen Leistungen bei Patienten ohne Gefährdung der Volksgesundheit durchführen können und dass sie hinreichende differenzialdiagnostische medizinische Erkenntnisse während ihrer Ausbildung erworben haben, die verhindern, dass sie durch ihre selbständige Behandlung die ihnen anvertrauten Patienten gefährden. Zwar handelt es sich bei diesen Stellungnahmen um "Parteigutachten" der jeweiligen Klägerseite. Das Gericht hat aber keinen Zweifel, dass sie für die hier entscheidungserheblichen Fragen ohne Weiteres verwertbar sind. Durch diese Stellungnahmen wird es zunächst entbehrlich, dass das Gericht zu den hier streitigen Fragen eigene Sachverständige hinzuzieht, da die Beurteilung des konkreten Sachverhalts eine besondere Sachkunde erfordert, die kein Mitglied des Gerichts hat. Die Verwertung der beiden gutachterlichen Stellungnahmen ist in diesem Verfahren ohne Weiteres zulässig, da die beiden Gutachten vollständig, in sich widerspruchsfrei und überzeugend sind. Die Gutachter gehen von zutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen aus und verfügen erkennbar als ärztliche Praktiker und Oberärzte von großen Krankenhäusern über die notwendige Sachkunde. Zweifel an der Unparteilichkeit der Herren Prof. Dres. Schürer und Pförringer sind nicht indiziert und auch von den Beteiligten in den Verfahren, in welche die Gutachten eingeführt worden sind, bislang nicht vorgetragen. Auch der Sachvortrag der Beklagten in diesem Verfahren stellt die Beantwortung und die Bedeutung der Fragen durch die Gutachten nicht in Frage und macht nicht geltend, dass andere Sachverständige über neuere oder überlegenere Forschungsmittel verfügten.

21

Zur Vermeidung von Missverständnissen weist das Gericht darauf hin, dass diese Feststellungen es nicht entbehrlich machen, dass das Gesundheitsamt die vorgelegten Zeugnisse und sonstige Nachweise "nach Aktenlage" überprüft. Auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts kann der Nachweis der abgeschlossenen Ausbildung für die Anforderungen von § 2 Abs. 1i HPG-DV I genügen (Beschluss vom 10. Mai 1988, a.a.O.). Demgemäß kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 21. Dezember 1995 - 3 C 24.94 - DVBL 1996, 811) bei Diplom-Psychologen, die eine staatlich anerkannte akademische Ausbildung erfolgreich abgeschlossen, sich einer Zusatzausbildung unterzogen haben und nur psychotherapeutisch tätig sein wollen, von einer schriftlichen und mündlichen Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten abgesehen werden. Dieser Fall ist ohne Weiteres mit dem hier zu beurteilenden Begehren des Klägers vergleichbar.

22

2.

Dem Anspruch des Klägers steht auch nicht entgegen, dass er seine Befugnis zur selbstständigen Ausübung der Heilkunde auf bestimmte physiotherapeutische Behandlungen beschränken will. Zwar sehen das Heilpraktikergesetz und seine Durchführungsverordnung lediglich generell abstrakte Betätigungsausschlüsse vor. Daraus folgt jedoch bei zweckentsprechender und verfassungskonformer Auslegung kein diesbezügliches Verbot, insbesondere, nachdem das Bundesverwaltungsgericht seine ursprünglich dahingehende Rechtsprechung mit dem Urteil vom 21. Januar 1993 (- 3 C 34.90 -, NJW 1993, 2395 ff. [BVerwG 21.01.1993 - BVerwG 3 C 34.90][BVerwG 21.01.1993 - BVerwG 3 C 34.90] -) geändert hat. Es begründet diese Entscheidung ausdrücklich damit, dass sich die Bilder der Heilberufe seit dem Erlass des Heilpraktikergesetzes so weitgehend ausdifferenziert hätten, dass das vorkonstitutionelle Gesetz im Wege der verfassungskonformen Auslegung an die heutigen Verhältnisse anzupassen sei. Eine Anpassungsnotwendigkeit ist demgemäß nicht nur in dem seinerzeit entschiedenen Fall des Psychotherapeuten anzunehmen, sondern überall dort, wo der Anwendungsbereich des Heilpraktikergesetzes mit Normkomplexen in Beziehung zu setzen ist, durch die heilkundliche Berufe nachkonstitutionell verfasst worden sind. Dies trifft auch für das MPhG zu, das die Tätigkeiten u. a. des Physiotherapeuten den gegenwärtigen beruflichen Erfordernissen gemäß strukturiert hat. Wer den Anforderungen dieses Gesetzes und der auf seiner Grundlage erlassenen Ausbildungs- und Prüfungsordnung genügt, ist damit für ein hinreichend abgegrenztes heilkundliches Aufgabenfeld befähigt, für das die Heilpraktikererlaubnis angemessen und geeignet ist, weil ein Physiotherapeut diese Materien selbständig und eigenverantwortlich bearbeiten kann (OVG Koblenz, Urteil vom 21. November 2006, a.a.O.). Dabei verkennt das Gericht nicht, dass die Abgrenzung dieser Tätigkeiten des Physiotherapeuten von solchen, die nach Maßgabe dieser Überlegungen außerhalb des MPhG liegen und bei ihrer Ausübung bei ihrer selbständigen Wahrnehmung der Überprüfung gemäß § 2 Abs. 1i DVO-HPG I unterliegen müssten, nicht immer einfach ist. Erschwerend kommt insoweit hinzu, dass bestimmte Anwendungen wie Bäder u. a. nach wie vor einer vorgängigen Diagnostik und Verschreibung durch einen Arzt bedürfen. Dieser Bereich ist indes so überschaubar, dass die erstrebte Verpflichtung der Beklagten unter Bestimmtheitsgesichtspunkten (noch) nicht bedenklich wäre. Diese Grenzziehung ist indes aufgrund der überragenden Bedeutung des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG geboten (VG Stuttgart, Urteil vom 10. April 2008, a.a.O.). Der Einwand des VG Gelsenkirchen, dass solche Erlaubnisse für Tätigkeiten mit weiteren Einschränkungen auch bei anderen Therapien nicht abgewehrt werden könnten und daher im Interesse der Patienten und der verwaltungspraktischen Umsetzbarkeit nicht Platz greifen dürften (s. Urteil vom 22. August 2007 - 7 K 2003/05 -, zitiert nach juris), überzeugt das Gericht nicht. Der Gesichtspunkt, dass eine weitere Differenzierung der Erlaubnisse nach dem HPG den Heilpraktikerberuf völlig aufsplittern und erhebliche Probleme bei der Überprüfung und im Verwaltungsvollzug auslösen würden, muss nach Überzeugung des Gerichts hinter einer zeitgemäßen Auslegung des vorkonstitutionellen Rechts im Lichte von Art. 12 Abs. 1 GG zurücktreten.

23

3.

Der Kläger ist schließlich auch nicht verpflichtet, gemäß § 1 Abs. 3 2. Halbs. HPG die Berufsbezeichnung "Heilpraktiker" zu führen. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift konzentriert sich bei verfassungskonformer Auslegung auf den Personenkreis der Heilpraktiker ohne spezielle heilkundliche Berufsausbildung, dem - anders als dem Kläger - nur eine umfassende Heilpraktikererlaubnis erteilt werden kann. Einen sachlichen Grund, die Berufsbezeichnung ohne Ausnahme auf alle nichtapprobierten Heilbehandler anzuwenden, gibt es nicht (s. BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 1988, a.a.O.). Mit der Berufsbezeichnung "Heilpraktiker" verbinden sich nämlich Vorstellungen, die für einen Absolventen einer qualifizierten heilkundlichen Berufsausbildung diskriminierend sein können, so dass es gerechtfertigt ist, den Zwang zur Führung des Titels "Heilpraktiker" jedenfalls für diesen Personenkreis zu lockern. Für eine solche Regelung spricht auch der Verkehrsschutz, da Berechtigte wie der Kläger nur eine eingeschränkte Heilpraktikererlaubnis haben und dies in der Berufsbezeichnung mangels geeigneter Zusätze nicht angemessen abgebildet werden kann. Zur Vermeidung von Irritationen über sein berufliches Tätigkeitsfeld ist der Kläger daher nicht verpflichtet, die Berufsbezeichnung "Heilpraktiker" zu der bisher geführten Bezeichnung nach § 1 MPHG hinzuzufügen oder aber letztere gänzlich zu verschweigen (s. OVG Koblenz, Urteil vom 21. Oktober 2006, a.a.O.; VG Stuttgart, Urteil vom 10. April 2008, a.a.O.).

24

Die Kammer sieht ihre Entscheidung als einen weiteren Schritt der grundgesetzkonformen Modernisierung des Berufsrechts des Heilpraktikers. Die ursprüngliche auf die Beseitigung des Heilpraktikerstandes gerichtete Funktion des Heilpraktikergesetzes ist in jahrzehntelanger Praxis seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes in der Anwendung von Art. 2 Abs. 1 HeilPrG von einer repressiven Ausnahmevorschrift zu einer anspruchsbegründenden Norm substantiell verändert worden. Die Reduzierung des Überprüfungsvorbehalts der Gefahrenabwehr bei der Zulassung eines staatlich geprüften Heilhilfsberufs zur Heilpraktikertätigkeit steht in Einklang mit der Abwendung vom repressiven Erlaubnisvorbehalt hin zu einem anspruchsbegründenden Recht.

25

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass der Stattgabe der Klage auch nicht Gemeinschaftsrecht entgegensteht. Dieses trifft selbst keine Regelungen zur Berufsausübung von Heilpraktikern oder Physiotherapeuten, so dass die Mitgliedsstaaten der EU einen weiten Gestaltungsspielraum haben, die Berufsausübung des Heilpraktikers zu regeln (s. Urteil des EuGH - 5. Kammer - vom 11. Juli 2002 - C-294/00 -, zitiert nach juris). Es ist nicht ersichtlich, dass die Entscheidung des Gerichts diese Grenzen missachtet.