Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 07.07.2008, Az.: 5 A 575/08
Nichtigkeitsklage gegen ein den Widerruf der Asylberechtigung bestätigendes Prozessurteil.; Nichtigkeitsklage
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 07.07.2008
- Aktenzeichen
- 5 A 575/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 45989
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGOLDBG:2008:0707.5A575.08.0A
Rechtsgrundlagen
- § 579 I Nr. 4 ZPO
- § 178 I Nr. 1 ZPO
- § 67 VwGO
Amtlicher Leitsatz
- 1.
§ 67 VwGO modifiziert die Voraussetzungen für eine stillschweigende Genehmigung der Prozessführung i.S.v. § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO nicht, da der Nichtigkeitsgrund nicht die Einhaltung einer Formvorschrift in Fällen ohne gesetzlichen Vertretungszwang bezweckt, sondern rechtskräftige Urteile gegen Personen verhindern soll, die sich nicht selbst vertreten können.
- 2.
Eine ordnungsgemäße Ersatzzustellung i.S,v. § 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO kann im Einzelfall auch dann vorliegen, wenn der Bescheid einer Schwester des Betroffenen zugestellt worden ist, die im großfamiliären Verbund unter derselben Adresse und im selben Haus, aber in einer separaten Wohnung wohnt.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich im Wege der Nichtigkeitsklage erneut gegen den Widerruf seiner Asylanerkennung.
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischen Glaubens. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt -) erkannte ihn mit Bescheid vom 17. August 1989, unanfechtbar geworden am 20. Mai 1992, als Asylberechtigten an. Zur Begründung führte es aus, der Kläger sei wegen seines yezidischen Glaubens einer unmittelbaren Gruppenverfolgung ausgesetzt.
Unter dem 29. September 2006 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein, da sich die Situation für Yeziden in der Türkei grundlegend verbessert habe und von einer Gruppenverfolgung nicht mehr auszugehen sei. Im Rahmen seiner Anhörung wies der Kläger darauf hin, dass die Verfolgungsgefahr für Yeziden fortbestehe. Außerdem sei ihm die Türkei fremd, da er als Kind nach Deutschland gekommen und hier aufgewachsen sei.
Mit Bescheid vom 21. Mai 2007 widerrief das Bundesamt die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter und stellte fest, dass die Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der an die zur Haftentlassung am 27. April 2007 behördlich bekannte Adresse (D. in E.) gerichtete Bescheid wurde laut Zustellungsurkunde am 22. Mai 2007 durch Übergabe an die Schwester des Klägers F. zugestellt.
Die Rechtsanwälte G. pp. aus H. erhoben im Namen des Klägers am 6. Juni 2007 Klage. Eine angekündigte schriftliche Vollmacht reichten sie nicht zu den Gerichtsakten. Mit Schriftsatz vom 27. Juli 2007 erklärten sie, dass es keine Einwände gegen eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid gebe.
Das erkennende Gericht wies die Klage durch rechtskräftig gewordenen Gerichtsbescheid vom 8. August 2007 - 5 A 1608/07 - zugestellt am 10. August 2007, als unzulässig ab, weil der Kläger die Klagefrist um einen Tag versäumt habe und ihm Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nicht gewährt werden könne.
Am 26. Februar 2008 hat der Kläger Klage erhoben, mit der er sich gegen den Gerichtsbescheid und erneut gegen den Widerruf seiner Asylanerkennung wendet. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor: Er habe die Frist für die Nichtigkeitsklage aus § 586 Abs. 1 und Abs. 3 2. Halbsatz ZPO gewahrt. Kenntnis von dem fehlerhaften Gerichtsbescheid vom 8. August 2007 habe er erst über die Akteneinsicht seines neuen Bevollmächtigten am 21. Februar 2008 erhalten. Dabei sei festgestellt worden, dass er im vorausgegangenen Verfahren nicht ordnungsgemäß vertreten gewesen sei. Entgegen § 67 Abs. 3 VwGO sei keine schriftliche Vollmacht erteilt worden (vgl. Zeugnis der Rechtsanwälte G. pp.). In anderer Weise habe er die Rechtsanwälte G. pp. nicht bevollmächtigt. Insbesondere habe er die Rechtsanwältin G. weder mündlich noch fernmündlich beauftragt. Eben so wenig habe er einen anderen Rechtsanwalt der Kanzlei beauftragt. Im Ferngespräch vom 23. Juli 2007 habe ihn die Rechtsanwältin I. über den Sachstand aufgeklärt und aufgefordert, einen Vorschuss für die Vertretung im Verfahren zu zahlen. Er habe dies wegen der Entfernung zum Sitz der Kanzlei abgelehnt, auf das Fehlen einer von ihm unterzeichneten Vollmacht verwiesen und die Rücksendung der Unterlagen gefordert. Nach Haftentlassung habe er sich zwei Wochen in Belgien anlässlich einer Hochzeitsfeier aufgehalten. Der Bescheid vom 21. Mai 2007 sei am 22. Mai 2007 nicht wirksam zugestellt worden. Eine wirksame Ersatzzustellung an einen Familienangehörigen liege nicht vor. Denn seine Schwester F. lebe zwar im gleichen Haus, aber in einer separaten Wohnung im ersten Stock. Demgegenüber wohne er mit seiner Lebensgefährtin und den aus dieser Verbindung entstandenen Kindern in einer anderen Wohnung eine Etage höher. Folglich habe er Kenntnis von dem Bescheid erst durch Akteneinsicht seiner neuen Bevollmächtigten am 21. Februar 2008 erhalten. Der Widerruf seiner Asylberechtigung sei rechtswidrig, da auch gegenwärtig nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass er einer mittelbaren Gruppenverfolgung wegen seines yezidischen Glaubens in der Türkei unterliege.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 8. August 2007 - 5 A 1608/07 - und den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. Mai 2007 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie erwidert ergänzend: Schon die Einhaltung der einmonatigen Notfrist nach § 586 ZPO für die Nichtigkeitsklage sei fraglich. Jedenfalls fehle es an einem Nichtigkeitsgrund nach § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO, weil der Kläger die vorausgehende Prozessführung zumindest stillschweigend genehmigt habe. Den im Vorprozess vorgelegten Bescheid könnten die Anwälte G. pp. nur vom Kläger bzw. mit seinem Einverständnis erhalten haben. Jedenfalls sei das Einverständnis zur Entscheidung in Form eines Gerichtsbescheides mit Schriftsatz vom 27. Juli 2007 nach Rücksprache mit dem Kläger erfolgt. Rechtsanwältin J. habe dieses Vorgehen am 23. Juli 2007 in einem Ferngespräch mit dem Kläger abgestimmt (vgl. deren Schriftsatz vom 15. April 2008 auf eine entsprechende Verfügung des Gerichts). Im Übrigen sei die Zustellung des Widerrufsbescheides am 22. Mai 2007 wirksam, da der Kläger bereits am 27. April 2007 aus der Haft wieder zu seiner offiziellen Meldeadresse "D. in K." entlassen gewesen sei. Der Kläger sei durch ordnungsgemäß zugestelltes Anhörungsschreiben vom 30. Oktober 2006 auf seine die aktuelle Wohnanschrift betreffenden Mitwirkungspflichten hingewiesen worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakte 5 A 1608/07 und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat keinen Erfolg.
Der Kläger hat schon keinen tragfähigen Grund für die begehrte Wiederaufnahme des durch rechtskräftig gewordenen Gerichtsbescheid vom 8. August 2007 - 5 A 1608/07 - abgeschlossenen Verfahrens gegen den Widerrufsbescheid der Beklagten vom 21. Mai 2007 unterbreitet. Der der Sache nach geltend gemachte Nichtigkeitsgrund nach §§ 579 Abs. 1 Nr. 4, 578 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 153 Abs. 1 VwGO liegt nicht vor.
Nach § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO findet eine Wiederaufnahme durch Nichtigkeitsklage statt, wenn eine Partei in dem (vorausgegangenen) Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat. § 67 VwGO modifiziert die Voraussetzungen für eine stillschweigende Genehmigung der Prozessführung nicht, da der Nichtigkeitsgrund nicht die Einhaltung einer Formvorschrift in Fällen ohne gesetzlichen Vertretungszwang bezweckt, sondern rechtskräftige Urteile gegen Personen verhindern soll, die sich nicht selbst vertreten können.
Hier kann jedenfalls von einer stillschweigenden Genehmigung der Prozessführung in dem Vorverfahren 5 A 1608/07 der Rechtsanwälte G. pp. aus H. durch den Kläger ausgegangen werden, ohne dass es einer weiteren Beweiserhebung bedurfte. Dass in dem genannten Vorprozess keine schriftliche Vollmacht des Klägers erteilt wurde, ergibt sich bereits aus der Gerichtsakte 5 A 1608/07 und den Verwaltungsvorgängen der Beklagten (die keinen Hinweis auf eine Bevollmächtigung vor Klageerhebung enthalten). Das Vorliegen einer stillschweigenden Genehmigung ist eine Rechtsfrage, für die es eine hinreichend belastbare Tatsachengrundlage gibt. Nicht nur aus Sicht der Rechtsanwälte G.pp. und des Gerichts, sondern auch bei objektiver Betrachtung hat der Kläger die Prozessführung im Verfahren 5 A 1608/07 nach den Grundsätzen einer Anscheins- bzw. Duldungsvollmacht stillschweigend genehmigt. Nach den - vom Gericht erbetenen - schriftsätzlichen Erklärungen der Rechtsanwältin J. aus der Kanzlei G. pp. vom 15. April 2008 sowie deren Vermerk vom 23. Juli 2007 vertritt die Anwaltskanzlei Familienangehörige des Klägers in vier (anhängigen) Verfahren. Am 6. Juni 2007 erhielten sie ohne Anschreiben und Zustellungsnachweis den den Kläger betreffenden Bescheid des Bundesamtes vom 21. Mai 2007, worauf sie per Fax am selben Tag Klage erhoben. Dabei gaben sie an, dass eine schriftliche Vollmacht nachgereicht werden solle. Danach korrespondierten sie schriftlich und fernmündlich mit Angehörigen des Klägers. Am 23. Juli 2007 erörterte die Rechtsanwältin J. fernmündlich mit dem Kläger die späte Bescheidübermittlung, mögliche Wiedereinsetzungsgründe und das weitere prozessuale Vorgehen. Diese schriftliche Darstellung der Anwältin hat der Kläger nicht substantiiert bestritten. Er bestätigt ausdrücklich das Ferngespräch vom 23. Juli 2007, stellt dessen Inhalt allerdings grundlegend anders dar, ohne diesen belegen oder zumindest plausibel darlegen zu können. Unerfindlich bleibt insbesondere, warum er sich nicht weiter um die ihm (spätestens dabei) bekannt gewordene Widerrufsangelegenheit gekümmert hat, wenn er doch den Rechtsanwälten G. pp. ein weiteres Tätigwerden in seiner Sache untersagt haben will. Infolge des Ferngesprächs erhob Rechtsanwältin L. unter dem 27. Juli 2007 keine Bedenken gegen die Entscheidung durch Gerichtsbescheid. Auch diesbezüglich ist davon auszugehen, dass sie den Kläger über diesen Schritt schriftsätzlich unterrichtet hat. Unter dem 13. August 2007 wurde dem Kläger das Urteil (der Gerichtsbescheid) mit Hinweis auf die Rechtsbehelfsbelehrung von der Kanzlei übersandt. Nach allem war der Kläger über die Existenz des Vorprozesses, dessen Verfahrensgang sowie prozessuale Risiken und Möglichkeiten hinreichend informiert und hat die Prozessführung durch sein Verhalten stillschweigend genehmigt. Angesichts der ihm zuzurechnenden und ihm bekannt gewordenen Umstände reicht es nicht aus, sich allein durch den Hinweis von dem Vorprozess zu distanzieren, er habe keine schriftliche Vollmacht unterzeichnet und wolle kein weiteres Tätigwerden mehr.
Unabhängig davon dürfte der Kläger auch die einmonatige Notfrist zur Erhebung der Nichtigkeitsklage gemäß § 586 Abs. 1 und Abs. 3 2. Halbsatz ZPO versäumt haben, zumal ihm der Gerichtsbescheid nach Erklärung der Rechtsanwälte G. pp. unter dem 13. August 2007 übersandt wurde und keine plausiblen Umstände dafür behauptet oder ersichtlich sind, dass ihn das Anschreiben nicht erreichte. Immerhin wohnte der Kläger nach eigenem Vorbringen wieder zusammen mit Lebensgefährtin und gemeinsamen Kindern unter der Adresse "D. in K.". Zudem musste er nach dem Ferngespräch mit seiner Anwältin vom 23. Juli 2007 und den Angaben seiner Familienangehörigen mit dem Fortgang des Verfahrens rechnen.
Selbst wenn der Kläger entgegen der Einschätzung des Gerichts die Wiederaufnahme des rechtskräftig beendeten Verfahrens erreichen sollte, könnte er nicht die begehrte Aufhebung des Widerrufsbescheides verlangen. Dann wäre ihm der Vorprozess 5 A 1608/07 nicht zurechenbar und müsste sozusagen weggedacht werden. Trotzdem bliebe es bei der Bestandskraft des Widerrufsbescheides vom 21. Mai 2007. Denn der Bescheid wurde ihm entgegen seiner Auffassung wirksam zugestellt, nicht fristgemäß binnen 2 Wochen angefochten, und auch Wiedereinsetzungsgründe für die versäumte Klagefrist wurden nicht fristgemäß unterbreitet. Dabei mag dahinstehen, ob sich die wirksame Zustellung bereits aus der Zustellfiktion nach § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG ergibt und insbesondere die Belehrung über Mitwirkungspflichten bei Adressänderungen im Anhörungsschreiben vom 30. Oktober 2006 den Anforderungen des § 10 Abs. 7 AsylVfG genügt. Jedenfalls liegt eine ordnungsgemäße Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO vor, weil der Widerrufsbescheid laut Zustellungsurkunde am 22. Mai 2007 der unter derselben Adresse wohnenden Schwester des Klägers F. übergeben wurde. Nach eigenem Vorbringen wohnte der Kläger nach seiner Haftentlassung am 27. April 2007 wieder unter der genannten Adresse und zwar in einer Wohnung mit seiner Lebensgefährtin und gemeinsamen Kindern. Der behauptete Umstand, dass seine Schwester F. unter derselben Adresse in einer möglicherweise separaten Wohnung lebt, beeinträchtigt die Wirksamkeit der Zustellung nicht. Der Begriff der "Wohnung" i.S.v. § 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist stets nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen, wobei auf den Sinn und Zweck der Ersatzzustellungsvorschriften abzustellen ist (vgl. Zöller, ZPO, 25. Auflage 2005, § 178 Rdnr. 7; Hess. LAG, Urteil vom 23. Juni 2006 - 10 Sa 1140/05 - juris). Hiervon ausgehend rechtfertigen das nahe verwandtschaftliche Verhältnis des Klägers zu seiner Schwester, die räumliche Nähe der übereinander liegenden Wohnungen und die bekanntermaßen bestehende großfamiliäre Verbundenheit im Kulturkreis des Klägers den Schluss, dass zwischen den in einem Haus wohnenden Geschwistern ein derartiges Vertrauensverhältnis besteht, das die Weitergabe der zuzustellenden Sendung an den Adressaten erwarten lässt. Diese Erwartung hat sich im Übrigen bestätigt, da der Bescheid den Rechtsanwälten G. pp. am 6. Juni 2006 übermittelt wurde. Der besondere verfassungsrechtliche Schutz der Wohnung steht dieser, an die Interessenlage im Zustellungsrecht anknüpfenden Auslegung nicht entgegen.
Schließlich fehlt es ebenso wie im Vorprozess 5 A 1608/07 an hinreichenden Darlegungen dazu, warum der Kläger ohne Verschulden verhindert gewesen sein soll, die zweiwöchige Klagefrist einzuhalten, also an einem fristgemäß vorgetragenen Wiederaufgreifensgrund im Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO. Der erstmals in der mündlichen Verhandlung erfolgte Hinweis, er sei nach seiner Haftentlassung (am 27. April 2007) anlässlich einer Hochzeitseinladung zwei Wochen in Belgien gewesen, ist zu vage und unzureichend.