Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 15.05.2019, Az.: 4 A 5817/18

Baulinie; Befreiung; Durchführungsplan; Überleitung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
15.05.2019
Aktenzeichen
4 A 5817/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69507
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Befreiung von Baulinien in einem als Bebauungsplan fortgeltenden Durchführungsplan

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, die Bauvoranfrage des Klägers vom 19.10.2017 in der Fassung vom 15.05.2019 dahingehend unter Erteilung einer Befreiung zu bescheiden, dass eine gewerbliche Nutzung in den rückwärtigen Anbauten an dem Gebäude Lavesstraße C. und dem Gebäude Haasenstraße D. bauplanungsrechtlich zulässig ist. Im Übrigen wird das Verfahren eingestellt.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten einen positiven Bauvorbescheid.

Der Kläger ist Eigentümer eines Grundstücks mit den beiden mehrstöckigen Gebäuden Lavesstraße C. und Haasenstraße D.. Zu dem um 1900 errichteten Gebäude Haasenstraße D. fehlen Baugenehmigungsunterlagen, bis in die jüngere Gegenwart wurde es als Wohnhaus genutzt. 1949/50 genehmigte die Beklagte dem seinerzeitigen Grundstückseigentümer den Wiederaufbau des kriegszerstörten Gebäudes Lavesstraße C. als Wohn- und Geschäftshaus.

Seinerzeit schon befanden sich an beiden Gebäuden an der Grenze zum östlich gelegenen Grundstück Lavesstraße E. jeweils eingeschossige rückwärtige Anbauten, für die eine Baugenehmigung nicht vorliegt.

Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich des 1953 in Kraft getretenen Durchführungsplans Nr. 48 für den „Wiederaufbau in dem Gebiet zwischen Prinzenstr., Am Schiffgraben, Haasenstraße, Kirchwender Str., Dieterichsstr., Marienstr. u. Aegidientorplatz“. Der Teil „a) Fluchtlinien“ sieht (unter Zugrundelegung der damaligen Straßenverbindungen) für den von den Straßen Am Schiffgraben, Haasenstraße, Kirchwender Straße und Lavesstraße eingefassten Bereich entlang der Lavesstraße und Haasenstraße eine Blockrandbebauung jeweils bis zu einer rückwärtigen Baulinie vor. Im östlichen Bereich sind nach dem Teil „b) Nutzung“ des Durchführungsplans „gewerbliche Betriebe zulässig“. Im westlichen Bereich mit dem Grundstück des Klägers und dem Grundstück Lavesstraße E. ist „Wohngebiet, nichtstörend“ vorgesehen.

Unter dem 19.10.2017 richtete der Kläger einen Antrag auf Erteilung eines Bauvorbescheids für eine Baumaßnahme nach § 63 NBauO mit den Fragen an die Beklagte:

1. Kann eine nachträgliche Genehmigung der eingeschossigen Anbauten im Hofbereich in Aussicht gestellt werden?

2. Ist die Nutzung dieser Räume in den Anbauten zu Wohn- und Gewerbezwecken planungsrechtlich zulässig?

Die Anbauten sollten künftig zum Teil als Wohnraum der Erdgeschoss-Wohnung Haasenstraße D. und zum anderen Teil dem Ladenlokal in dem Gebäude Lavesstraße C. zugeordnet werden.

Mit Bauvorbescheid vom 08.03.2018 äußerte sich die Beklagte zu beiden Fragen dahingehend, dass eine Baugenehmigung nicht in Aussicht gestellt werden könne. Das Bauvorhaben sei planungsrechtlich unzulässig, denn der Durchführungsplan Nr. 48 schließe eine Bebauung hinter den Baulinien im Hofbereich an der Lavesstraße und Haasenstraße aus.

In seinem Widerspruch hiergegen führte der Kläger aus, die Anbauten stammten vom Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre, bevor der Bebauungsplan 1954 in Kraft getreten sei. Außerdem habe die Beklagte nach 1953 andere Bauvorhaben in dem Blockinnenbereich hinter den Baulinien baugenehmigt.

Mit Bescheid vom 03.08.2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Durchführungsplan setze eine rückwärtige Baulinie fest, die dürfe nach der Bauordnung für die Hauptstadt B-Stadt von 1943 nicht überschritten werden.

Am 10.09.2018 hat der Kläger Klage erhoben und vertieft seinen bisherigen Vortrag, dass die Beklagte in unmittelbarer Nachbarschaft auf dem Grundstück Lavesstraße E. für eine gewerbliche Zimmervermietung jenseits der Baulinien eine Baugenehmigung erteilt habe.

Mittlerweile nutzt der Kläger sein Grundstück vollständig für den Betrieb einer gewerblichen Zimmervermietung.

Der Kläger stellt in der mündlichen Verhandlung klar, dass er seine Bauvoranfrage so verstanden wissen will, ob die angestrebte Nutzung mit Ferienwohnungen in den beiden streitbefangenen Anbauten an die Gebäude Laves-straße C. und Haasenstraße D. bauplanungsrechtlich zulässig ist.

Entsprechend beantragt der Kläger sinngemäß,

die Beklagte zu verpflichten, seine Bauvoranfrage vom 19.10.2017 in der Fassung vom 15.05.2019 dahingehend unter Erteilung einer Befreiung zu bescheiden, dass eine gewerbliche Nutzung in den rückwärtigen Anbauten an dem Gebäude Lavesstraße C. und dem Gebäude Haasenstraße D. bauplanungsrechtlich zulässig ist.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Gegen den Vorbescheid spräche, dass hinter der Baulinie keine Hauptnutzung stattfinden dürfe. Im Übrigen habe der Kläger mit der Voranfrage zu 1) auch eine bauordnungsrechtliche Klärung erstrebt und dieses Anliegen nunmehr fallen gelassen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Soweit der Kläger nicht bisheriges Begehren fallen gelassen und insoweit die Klage zurückgenommen hat, weshalb das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen ist, ist die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger hat mit der in der mündlichen Verhandlung (bezüglich des Anbaues Haasenstraße D., der bereits bei Antragstellung zu Ferienwohnungen genutzt wurde) auf eine gewerbliche Zimmervermietung konkretisierten bzw. (bezüglich des Anbaus Lavesstraße C., der bei Antragstellung noch ein Ladenlokal enthielt) geänderten Voranfrage, auf die sich die Beklagte eingelassen hat, einen Anspruch auf Erteilung des beantragten Bauvorbescheides.

Nach § 73 Abs. 1 NBauO ist auf Antrag über einzelne Fragen, über die im Baugenehmigungsverfahren zu entscheiden wäre und die selbständig beurteilt werden können, durch Bauvorbescheid zu entscheiden; dies gilt auch für die von dem Kläger zur Entscheidung gestellte Frage, ob auf seinem Grundstück die Nutzung der rückwärtigen Anbauten für Zwecke der Zimmervermietung planungsrechtlich zulässig ist.

Nach § 30 Abs. 1 und 3 Baugesetzbuch (BauGB) ist ein Vorhaben im Geltungsbereich eines Bebauungsplans nur zulässig, wenn es den Festsetzungen dieses Bebauungsplans nicht widerspricht und die Erschließung gesichert ist.

Das Gericht geht davon aus, dass der Durchführungsplan Nr. 48 gemäß § 173 Abs. 3 Satz 1 BauGB 1960 übergeleitet worden ist und gemäß § 233 Abs. 3 BauGB als einfacher Bebauungsplan fortgelten kann, weil er dem bei seiner Aufstellung geltenden Recht entsprach (zu dieser Anforderung vgl. BVerwG, Urteil vom 20.10.1972 - IV C 14.71 -, BVerwGE 41, 67; OVG NRW, Urteil vom 26.08.2004 - 7 A 4005/03 -, BauR 2005, 853) und er auch verbindliche Regelungen im Sinne von § 9 BBauG 1960 bezüglich der Festsetzung von Baulinien enthielt.

Mit der Festsetzung rückwärtiger Baulinien verfolgt der Durchführungsplan Nr. 48 offenkundig das Ziel, entlang der jeweiligen Straßenkarrees eine Blockrandbebauung zu ermöglichen und gleichzeitig die Bebauung des seinerzeit ganz überwiegend bereits bebauten Blockinnenbereichs einzuschränken/zu beseitigen mit dem Ziel, die rückwärtigen Grundstücksbereiche von straßenferner Bebauung freizuhalten.

Zugunsten der Beklagten geht das Gericht davon aus, dass ungeachtet der Tatsache, dass die Beklagte

- im Bestandsgebäude Schiffgraben F. Einbauten/Umnutzungen innerhalb des Gebäudes,

- den rückwärtigen Anbau an das Gebäude Lavesstraße G. mit einer Genehmigung vom 20.9.1988 (1844/88) bzw. für eine veränderte Ausführung vom 13.8.1991 (1905/91) für ein Wohn- und Geschäftshaus im Bestand und

- auf dem Grundstück Lavesstraße H. an der Haasenstraße mit Bauschein 3864/57 ein dreigeschossiges Lagergebäude, dessen Umnutzung zu einem Videoverleih laut Schreiben der Beklagten vom 06.11.1992 baugenehmigungsfrei ist,

genehmigte, die Festsetzung der rückwärtigen Baulinien nicht funktionslos geworden ist und dem Vorhaben des Klägers entgegensteht.

Als der Durchführungsplan Nr. 48 beschlossen wurde, bildete eine Baufluchtlinie nach § 1 Abs. 4 Preußisches Fluchtliniengesetz die Grenze, über welche die Bebauung ausgeschlossen ist. Gleichzeitig bestimmte § 6 Abs. 3 Satz 1 der Bauordnung für die Landeshauptstadt Hannover vom 31.01.1930 (Bauordnung 1930) in Verbindung mit der Verordnung über die Regelung der Bebauung vom 15.02.1936 (RGBl. I S. 104), dass bei Bestehen einer Baufluchtlinie alle Gebäude an dieser errichtet werden müssen. Der Kläger beabsichtigt aber eine Nutzung jenseits der Baulinien.

Soweit die Beklagte darauf verweist, dass bei Beschlussfassung des Durchführungsplans Nr. 48 auch die Bestimmung des § 7 Abs. 10 Bauordnung 1930 inkorporiert gewesen sei und der positiven Bescheidung der Bauvoranfrage entgegenstehe, überzeugt das nicht. Die Vorschrift regelt, dass in gemischten Wohngebieten A, zu dem der hier streitgegenständliche Blockinnenbereich gehört, Flügelbauten nur für Geschäftshäuser, Werkstätten, Waschhäuser und ähnlichen Gebäudeteilen zulässig sind (Satz 6). Ungeachtet der Frage, auf welcher Rechtsgrundlage die Bauordnung 1930 ein solches „Flügelbauverbot“ hat festsetzen können, konnte dieses nicht nach § 173 Abs. 3 BBauG 1960 mit dem Durchführungsplan Nr. 48 übergeleitet werden.

Nach § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 galten bei Inkrafttreten des Gesetzes 1960 festgestellte städtebauliche Pläne als Bebauungspläne, soweit sie verbindliche Regelungen der in § 9 BBauG 1960 bezeichneten Art enthielten. § 9 Abs. 1 Nr. 1b BBauG (jetzt § 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB) ermächtigte dazu, nicht überbaubare Grundstücksflächen festzusetzen und gab dazu der planenden Gemeinde das Instrument der Baulinie (§ 23 Abs. 1 Satz 1 BauNVO) an die Hand. Insoweit gilt der Durchführungsplan Nr. 48 damit als Bebauungsplan weiter. Darüber hinaus ermächtigte § 9 BBauG 1960 aber nicht zu dem „Flügelbauverbot“ nach § 7 Abs. 10 Bauordnung 1930, das damit nicht dem als Bebauungsplan fortgeltenden Durchführungsplan Nr. 48 innewohnen kann (vgl. auch Schrödter, Bundesbaugesetz, 3. Aufl., 1973, § 173 Rn. 8b).

Der Kläger muss sich von der Beklagten für die von ihm geplante Nutzung der streitgegenständlichen Anbauten zur gewerblichen Zimmervermietung nicht auf die Einhaltung der Baulinien auf seinem Grundstück verweisen lassen. Ihm steht insoweit ein Anspruch auf Erteilung einer Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB von dieser Festsetzung zu.

Nach dieser Vorschrift kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit, einschließlich des Bedarfs zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden, die Befreiung erfordern oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

Die begehrte Befreiung berührt die Grundzüge der Planung nicht. Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Was zum planerischen Grundkonzept zählt, beurteilt sich nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck kommenden Planungswillen der Gemeinde. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in den mit der Planung gefundenen Interessenausgleich eingreift, desto eher liegt es nahe, dass das Planungskonzept in einem Maße berührt wird, das eine (Um-)Planung erforderlich macht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 05.03.1999 - 4 B 5.99 -, juris; Beschluss vom 19.05.2004 - 4 B 35.04 -, juris; Urteil vom 18.11.2010 - 4 C 10/09 -, Rn. 37, juris; Urteil vom 02.02.2012 - 4 C 14/10 -, Rn. 22, juris). Was den Bebauungsplan in seinen „Grundzügen“, was seine „Planungskonzeption“ verändert, lässt sich nur durch Planung ermöglichen und darf nicht durch einen einzelfallbezogenen Verwaltungsakt der Baugenehmigungsbehörde zugelassen werden. Denn die Änderung eines Bebauungsplans obliegt nach § 2 BauGB der Gemeinde und nicht der Bauaufsichtsbehörde; hierfür ist ein bestimmtes Verfahren unter Beteiligung der Bürger und der Träger öffentlicher Belange vorgeschrieben, von dem nur unter engen Voraussetzungen abgesehen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 09.06.1978 - 4 C 54.75 -, Rn. 27, juris; Urteil vom 02.02.2012 - 4 C 14/10 -, Rn. 22, juris).

Ausgangspunkt der Betrachtung ist vorrangig der Bebauungsplan selbst und die Gesamtschau der unterschiedlichen Festsetzungen (OVG Thüringen, Beschluss vom 26.07.1996 - 1 EO 662/95 -, NVwZ-RR 1997, 596; Siegmund, in: Spannowsky/Uechtritz, BauGB, 39. Auflage 2017, § 31, Rn. 61) sowie die Planbegründung (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 05.06.2009 - 2 Bs 26/09 -, NordÖR 2009, S. 310). Ergänzend können die Planaufstellungsvorgänge herangezogen werden (BVerwG, Beschluss vom 19.05.2004 - 4 B 35/04 -, BeckRS 2004, 22801; VG Hamburg, Urteil vom 30.01.2018 – 7 K 1901/16 –, Rn. 45, juris; Siegmund, in: Spannowsky/Uechtritz, BauGB, 39. Ed., Stand: 10/2017, § 31, Rn. 61). Von Bedeutung für die Beurteilung, ob die Zulassung eines Vorhabens im Wege der Befreiung die Grundzüge der Planung berührt, können auch Auswirkungen des Vorhabens im Hinblick auf mögliche Vorbild- und Folgewirkungen für die Umgebung sein. Eine Befreiung von einer Festsetzung, die für die Planung tragend ist, darf nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 05.03.1999 - 4 B 5.99 -, Rn. 6, juris; Beschluss vom 29.07.2008 - 4 B 11/08 – Rn. 4, juris; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 13. Auflage 2016, § 31 Nr. 36).

Die an diesen Maßgaben orientierte Auswertung ergibt, dass die streitgegenständliche Befreiung die Grundzüge der Planung nicht zu berühren vermag.

Grundsätzlich gehören zu den Grundzügen der Planung gerade die planerischen Festsetzungen, die zu der Umsetzung des Gestaltungskonzeptes eines Baugebietes beitragen. Ein solches Konzept kann auch darauf abzielen, ein von dem Planungsgeber gewünschtes Wohnmilieu zu schaffen, sodass die Planung auch darauf gerichtet sein kann, Quartiere zu schaffen, die von einer geringen Grundstücksauslastung geprägt sind (so z.B. der Fall bei VGH München, Beschluss vom 04.11.2009 – 9 CS 09.2422 -, BeckRS 2011, 46043, beck-online). Der Beklagten ist auch darin beizupflichten, dass sich ein entsprechendes Konzept im hiesigen Fall dem Durchführungsplan Nr. 48 entnehmen lässt, um den Blockinnenbereich hinter den Baulinien von seiner bisherigen Bebauung zu befreien.

Dabei darf aber nicht aus dem Blick geraten, dass dem Plan widersprechende Bauten hinter den Baulinien nicht nur Bestandsschutz genießen, sondern ihre Nutzung mit neueren Baugenehmigungen unter Mitwirkung der Beklagten sich nicht nur auf den bereits genannten Grundstücken Schiffgraben F., Lavesstraße G. und Lavesstraße H. verfestigt hat, sondern die Beklagte für das unmittelbar an das Grundstück des Klägers grenzende Grundstück Lavesstraße E. in jüngster Zeit neue bauliche Nutzungen hinter der Baulinie an der Haasenstraße und damit im Blockinnenbereich zugelassen hat. Die Beklagte genehmigte auf dem Grundstück (postalische Zuordnung: Lavesstraße E. A und E. B) unter dem 08.03.2018 die Umnutzung einer bisherigen Werkstatt zu einer gewerblichen Zimmervermietung/Beherbergungsbetrieb unter Ausschluss einer Dauerwohnnutzung. Für das Hauptgebäude Lavesstraße E. erteilte die Beklagte unter dem 06.11.1997 die Genehmigung zur Umnutzung von gewerblichen Zwecken zu Wohnzwecken und an der Ostseite dieses Gebäudes mit Baugenehmigung vom 24.09.2018 die Umnutzung einer Lagerhalle zum Sportstudio. Alle drei Gebäude ragen rückwärtig über die Baulinie entlang der Haasenstraße hinaus. Die Baugenehmigungen verhalten sich nicht dazu, dass hierzu eine Befreiung erteilt wurde.

Als weiteres Indiz dafür, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, kann herhalten, dass bei einer Parallelbetrachtung nach § 34 Abs. 1 BauGB sich das Vorhaben in die Umgebung einfügen würde (Schrödter, Baugesetzbuch, BauGB, 9. Auflage 2019, § 31 Rn 21a m.w.N., beck-online). Es hält sich an die durch die unmittelbare Umgebung gesetzten Maßstäbe.

Die Abweichung ist im Sinne von § 31 Abs. 2 Nr. 2 städtebaulich vertretbar. Städtebauliche Vertretbarkeit bedeutet zunächst die Vereinbarkeit mit einer geordneten städtebaulichen Entwicklung gemäß den Anforderungen des § 1 BauGB (Begründung zum Regierungsentwurf zum BauGB, BT-Drs. 10/4630 S. 85). Das Merkmal beinhaltet also, dass die Befreiung mit den Grundsätzen des § 1 BauGB, insbesondere der Abwägung, vereinbar ist (BVerwG, Beschluss vom 20.11.1989 – 4 B 163.89 -, vor Rn. 1, beck-online; OVG Berlin, Urteil vom 13.06.1991 – 2 B 29.88 -, NVwZ-RR 1992, 228). Die Abweichung müsste also in einem Planungsänderungsverfahren zum Inhalt des Bebauungsplans gemacht werden können, von dem abgewichen werden soll (BVerwG, Urteil vom 17.12.1998 – 4 C 16.97, vor Rn. 1, beck-online; EZBK/Söfker, 131. EL Oktober 2018, BauGB § 31 Rn. 47). Vorliegend spricht nichts dagegen, entsprechende Festsetzungen zu treffen.

Die Abweichung ist auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Die Befreiung hat insbesondere keine Auswirkungen auf die Nachbarschaft. Zwar ist die Nutzung gegenüber dem Nachbarn geändert, doch verfügen diese ebenfalls über die rückwärtigen Baulinien überschreitende Bauten. Insbesondere das Grundstück Lavesstraße E. A/B kann nicht betroffen sein, da der dortige Bau ebenfalls unmittelbar an die Grenze zu den Anbauten des Klägers gebaut ist, diese aber um die doppelte Höhe überragt und die Nutzung beider Bauten – gewerbliche Zimmervermietung – identisch ist.

Angesichts der Baugenehmigungen für das Grundstück Lavesstraße E. hat die Beklagte schon aus Gleichbehandlungsgründen die durch § 31 Abs. 2 BauGB eröffnete Ermessensentscheidung zugunsten des Klägers zu treffen. Eine Ermessensreduzierung auf Null kommt im Rahmen einer Befreiung insbesondere in Betracht, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Befreiung erfüllt sind und für die Gemeinde Nachteile durch die Zulassung des Vorhabens nicht in Betracht kommen. Dies berücksichtigt, dass wegen des Umfangs der Anwendungsvoraussetzungen für die Erteilung von Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB die Spielräume für zusätzliche Erwägungen bei Ausübung des Ermessens tendenziell gering sind. Die für die drei Befreiungstatbestände verlangten Voraussetzungen, die Wahrung der Grundzüge der Planung sowie die Beachtung sonstiger öffentlicher und privater Belange sind – jedenfalls in städtebaurechtlicher Hinsicht – nahezu erschöpfend. (OVG Münster, Beschluss vom 02.04.2004 – 10 A 3502/02 -, BeckRS 2004, 25863, beck-online; EZBK/Söfker, 131. EL Oktober 2018, BauGB § 31 Rn. 61 m.w.N.). Das ist auch hier der Fall.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Das Gericht erachtet den Teil der Klage, den der Kläger seit der mündlichen Verhandlung nicht mehr verfolgt (Bescheidung der Bauvoranfrage zu 1) als so gering, dass er bei der Kostenentscheidung nicht zu berücksichtigen ist. Die Bauvoranfrage ist, wie die Beklagte in der Bauakte schon handschriftlich feststellte, „keine direkte Frage“ und gewinnt ihren Sinn erst durch die mit der Klage weiterverfolgte Bauvoranfrage zu 2. Aus der Voranfrage wird auch sonst deutlich, dass es dem Kläger nur um die Klärung der planungsrechtlichen Zulässigkeit der beiden Anbauten ging.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.