Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 31.05.2019, Az.: 6 A 7641/16
Sunnitisch-schiitische Ehe; konfessionell gemischte Ehe; Familienverfolgung; Sippenhaft; Politische Verfolgung
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 31.05.2019
- Aktenzeichen
- 6 A 7641/16
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2019, 69755
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Für eine politische oder religiöse Verfolgung ist es ausrei-chend, wenn die Täter die Verfolgungsmaßnahme gegen den Ausländer als Instrument zur Verfolgung politisch oder religiös missliebiger Dritter einsetzen, etwa als Druckmittel oder zur In-formationserlangung, d.h. weil sie den Ausländer pauschal der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zurechnen, die ihrerseits Objekt politischer oder religi-öser Verfolgung ist.
2. In diesem Fall geschieht die Verfolgung zugleich wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG), hier: der Familie des Betroffenen.
Tenor:
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Der Bescheid der Beklagten vom 7. Dezember 2016 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, sofern nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand:
Der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Glau-benszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Er reiste eigenen Angaben zufolge im April 2014 aus dem Irak in die Türkei aus, wo er ca. 1 Jahr und fünf Monate ohne Aufenthaltsstatus lebte und als Tischler arbeitete. Am 8. September 2015 reiste er in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte er in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag. In seiner Anhörung im Februar 2016 erklärte er, er habe den Irak verlassen, da unbekannte Extremisten seine Familie seit mehreren Jahren verfolgt hätten.
Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte er, er habe im Irak bis zu seiner Ausreise in Bagdad gelebt, d.h. bis zum Jahr 2006 im schiitisch dominierten Viertel Aldulie, dann im sunnitischen Viertel Almashada, welches innerhalb einer Gruppe schiitischer Ortschaften gelegen habe, sodann im sunnitischen Viertel Al-Amiriya. Seine Mutter sei Schiitin, sein Vater Sunnit. Er selbst habe die Schule bis zur neunten Klasse besucht.
Zu den Gründen seiner Flucht erklärte der Kläger, seine Familie sei wegen der konfessionell-gemischten Ehe seiner Eltern langjährig verfolgt worden. Im schiitischen Viertel Aldulie sei die Familie ebenso wie die übrigen im Viertel lebenden Sunniten bedroht und belästigt worden. Ein schiitischer Nachbar, welcher mit der schiitischen Miliz „Mahdi-Armee“ zusammengearbeitet habe, habe an ihre Hauswand geschrieben, dass sie das Viertel verlassen sollten. Zudem habe seine Familie Drohbriefe und –anrufe erhalten. Einen entsprechenden Nachweis der Stadt Bagdad, dem zufolge die klägerische Familie im Jahr 2006 das Viertel Aldulie verlassen musste, legte der Kläger vor. Auch im sunnitischen Viertel Almashada, so der Kläger, hätten unbekannte bewaffnete Gruppen die Familie in Telefonaten und Kurzmitteilungen mit dem Tode bedroht, weil seine Mutter Schiitin sei, sein Vater hingegen Sunnit, und sie aufgefordert, ihr Haus und die Stadt zu verlassen. Deshalb seien sie im Jahr 2007 oder 2008 nach Al-Amiriya gezogen. Dort hätten sie auf Nachfrage von Bewohnern angegeben, dass ihre Familie in Almashada bedroht worden sei. Nach zwei bis drei Monaten hätten Nachbarn sie dort ebenfalls dazu aufgefordert, die Stadt zu verlassen, da man ihretwegen keine Probleme bekommen wolle. Die Familie habe darauf zunächst nicht reagiert. Nachdem ihnen unbekannte Mitglieder einer bewaffneten Gruppierung jedoch an ihre Tür und ihre Wand geschrieben hätten, sie sollten die Stadt verlassen, habe sein Vater Angst um ihn, den Kläger, und seine Geschwister bekommen, und sie seien fortgezogen.
Innerhalb der Stadtteile Almashada und Al-Amiriya hätten sie oft die Wohnung gewechselt; infolge ihrer schlechten wirtschaftlichen Lage hätten sie die sunnitischen Stadtteile jedoch nicht verlassen können. Im Jahr 2009 seien sie notgedrungen an ihre ursprüngliche Adresse im Viertel Almashada zurückgekehrt. Sie hätten sich jedoch nicht getraut, auch in ihrer Wohnung zu übernachten, sondern hätten sich nachts in den angrenzenden Feldern versteckt, aus der Angst heraus, umgebracht zu werden. Im selben Jahr habe eine unbekannte bewaffnete Gruppierung seinen Bruder, der tagsüber in dem Viertel als Polizist gearbeitet habe, durch einen Sprengstoffanschlag auf die Polizeistation getötet. Eine entsprechende Bescheinigung legte der Kläger gegenüber dem Bundesamt vor. Nach dem Tod seines Bruders sei es eine Zeit lang ruhig geblieben, dann habe seine Familie Anrufe und Textmitteilungen erhalten. Unbekannte hätten sie aufgefordert, die Stadt zu verlassen und ihnen mitgeteilt, sie hätten in Almashada nichts zu suchen. Ergänzend führte der Kläger aus, in Almashada habe es Terroristen gegeben, welche zum Beispiel die im Stadtteil gelegenen Felder zerstört hätten.
Im Jahr 2013 hätten Unbekannte seinen im Jahr 1985 geborenen älteren Bruder Omar entführt und Lösegeld in Höhe von 30.000 US-Dollar verlangt. Die Familie habe ihren gesamten Besitz verkauft, um das Lösegeld zu bezahlen, und seinen Bruder direkt nach seiner Freilassung in die Türkei geschickt. Anfang Oktober 2013 hätten Unbekannte sodann einen Angriff auf seine Schwester verübt, welche mit ihrem Ehemann in der Nähe von Almashada lebte. Weil seine Schwester die Haustür nicht geöffnet habe, hätten die Täter das Haus von außen durch die Fenster beschossen und dabei seine Schwester am Bein und an der Schulter getroffen. Zu diesem Zeitpunkt sei seiner Familie bewusst geworden, dass die gesamte Familie in das Fadenkreuz von Extremisten geraten sei. Er, der Kläger, sei deshalb nicht mehr in die Schule gegangen. Er selbst habe ebenfalls ca. eine Woche vor seiner Ausreise im April 2014 einen Drohanruf und eine anschließende SMS bekommen, in denen ihn Unbekannte unter Todesdrohungen aufgefordert habe, die Stadt zu verlassen. Als am Telefon entgegnet habe, dass er nichts getan habe, habe die Person am anderen Ende der Leitung einfach aufgelegt. Er habe sich dann mit seinem Vater besprochen und ihm gesagt, dass er nicht mehr bleiben könne. Im Anschluss sei er in die Türkei gereist. Eigentlich habe er nach einiger Zeit wieder zurückgehen wollen, doch seine Eltern seien weiterhin bedroht worden. Sie würden nun zwischen Almashada und Hai Aldubat in Al-Amiriya leben, weil sein Bruder krank und die medizinische Versorgung in Almashada sehr schlecht sei. Seine Familie habe sich auch nicht getraut, die Vorfälle bei der Polizei zu melden, da sie Angst gehabt hätten, am nächsten Tag umgebracht zu werden.
Mit Bescheid vom 7. Dezember 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter (Nr. 1) sowie auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 2) ab und erkannte dem Kläger den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte die Abschiebung des Klägers in den Irak an (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6).
Zur Begründung führte es u.a. aus, der Antragsteller habe sich mit seinem Verfolgungsvortrag auf die allgemeine Sicherheitslage im Irak bezogen, ohne selbst ein konkretes fluchtauslösendes Ereignis vorgetragen zu haben. Gegen eine begründete Furcht vor Verfolgung spreche außerdem, dass weder der Kläger noch seine Familie die Bedrohungen bei der Polizei angezeigt hätten und sich die Eltern weiterhin in der Herkunftsregion in der Provinz Bagdad aufhielten. Aus der Ermordung seines Bruders im Jahr 2009, der Entführung seines anderen Bruders im Jahr 2013 sowie dem Feuerüberfall auf seine Schwester im gleichen Jahr könne der Klägers kein anderes Ergebnis herleiten, weil die Zuerkennung internationalen Schutzes voraussetze, dass der Einzelne einer gezielten und damit individuellen Rechtsgutsverletzung ausgesetzt sei.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 15. Dezember 2016 Klage erhoben. Zur Begründung führt er aus, er sei vorverfolgt aus dem Irak ausgereist, weil eine solche bei verständiger Würdigung unmittelbar bevorgestanden habe. Die gesamte Familie des Klägers sei im Rahmen einer Art „Sippenverfolgung“ in das Visier einer bewaffneten bzw. terroristischen Gruppierung geraten, weil die Familie dem von der unbekannten Gruppierung propagierten Bild des (politischen) Islam nicht gerecht geworden sei. Dieses gelte aufgrund der konfessionell-gemischten Ehe der klägerischen Eltern sowie in Anbetracht des Umstandes, dass der verstorbene Bruder des Klägers als Sunnit für die schiitischen Sicherheitskräfte gearbeitet habe. Auch die Eltern des Klägers hätten zwischenzeitlich aufgrund zunehmender Repressalien durch ihre Nachbarn, welche ihnen vorgeworfen hätten, ihre Söhne in den Westen geschickt zu haben, ihre Heimatregion und auch den Irak verlassen.
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 9. November 2018 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen, dieser hat dem Kläger mit Beschluss vom selben Tag Prozesskostenhilfe bewilligt.
Der Kläger hat sich mit Schriftsatz vom 11. März 2019 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Die Beklagte hat bereits mit Generalerklärung des Bundesamts vom 25. Februar und 24. März 2016 auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 7. Dezember 2016 zu verpflichten,
1. dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
2. hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
3. hilfsweise, festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter sowie im Einverständnis der Beteiligten (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 7. Dezember 2016, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person des Klägers erfüllt.
Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).
Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs sowie der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Die für die Verfolgung des Klägers sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.
Bei der Beurteilung der Frage, ob ihm (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12), kommt dem Kläger die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) nicht zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ersteres ist hier nicht der Fall, da sich der unmittelbare Kontakt des Klägers mit der seine Familie bedrohenden Gruppierung nach seiner eigenen Darstellung auf eine kurze telefonische Drohung beschränkte und es an weitergehenden Hinweisen ermangelt, dass konkrete Verfolgungshandlungen unmittelbar bevorstanden.
Das Gericht ist jedoch aufgrund substantiierten Ausführungen des Klägers in seiner Anhörung beim Bundesamt, deren Glaubhaftigkeit die Beklagte nicht substantiiert in Frage gestellt hat, zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund der ihm als Mitglied einer bestimmten Familie pauschal zugeschriebenen religiösen oder politischen Haltung von Verfolgungsmaßnahmen bedroht ist, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen.
Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Eine Verfolgung wegen politischer Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4 AsylG liegt vor, wenn diese an eine abweichende Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung zu Fragen des öffentlichen Staats- oder Gesellschaftslebens angeknüpft, unabhängig davon, auf welchen Lebensbereich sich diese bezieht. Entscheidend ist, ob Opposition im weiteren Sinne bekämpft wird, und sei es auch nur durch „normale“ Strafverfolgung mit Politmalus (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3b AsylG, Rn. 2). Als Verfolgungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten dabei gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss des Weiteren zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, welche der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rnr. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich z.B. die religiösen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger nur zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Für den Bereich des Asylrechts hat das Bundesverfassungsgericht diese Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund dahingehend konkretisiert, dass es für eine politische Verfolgung ausreiche, wenn die Täter die Verfolgungsmaßnahme gegen den Ausländer als Instrument zur Verfolgung politisch missliebiger Dritter einsetzen, etwa als Druckmittel oder zur Informationserlangung, d.h. weil sie den Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zurechnen, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. In diesem Fall geschieht die Verfolgung zugleich wegen der Zugehörigkeit zu einer besonderen sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG), etwa der Familie des Betroffenen (BVerfG, Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96, juris Rn. 5; BVerwG, Beschluss vom 27.04.2017 - 1 B 63.17, 1 PKH 23.17, juris; Nds. OVG, Urteil vom 27.6.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 28). Diese Erwägungen gelten für die religiöse Verfolgung entsprechend.
Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle des Klägers die Vorausset-zungen einer religiösen bzw. politischen Verfolgung sowie der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer besonderen sozialen Gruppe vor (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2, 4, 5 AsylG). Das Gericht ist aufgrund der aus der Anhörung beim Bundesamt gewonnenen Erkenntnisse sowie unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass eine unbekannte bewaffnete Gruppierung sämtliche Mitglieder der Kernfamilie des Klägers bedrohte, weil sie diesen pauschal eine missliebige Interpretation des sunnitischen Islam zuschrieb, ferner eine abweichende politische Haltung zugunsten der schiitisch-dominierten irakischen Zentralregierung.
Die Konflikte zwischen schiitischen und sunnitischen Arabern im Irak beschreibt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 22. November 2017 (Az.: 25 K 3.17 A –, juris Rn. 29) wie folgt:
„Die Sunniten im Irak bilden im Unterschied zum weltweiten Verhältnis von Sunniten und Schiiten die Minderheit. Während die arabischen Schiiten 60 bis 65 % ausmachen, stellen arabische Sunniten hingegen nur 17 bis 22 % der Bevölkerung (sonstige: sunnitische Kurden 15 bis 20 % und Turkmenen, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 7; hierzu gibt es nur begrenzte genaue Daten; die letzte vollständige irakische Volkszählung erfolgte im Jahr 1987, vgl. Home Office UK, Iraq: Sunni (Arab) Muslims, Juni 2017, S. 9). Die damit in der Minderheit im Irak lebenden arabischen Sunniten sind im irakischen Alltag auch Anfeindungen ausgesetzt. Sie haben sich im Wesentlichen in den Tälern der Flüsse Euphrat und Tigris nördlich und nordöstlich von Bagdad angesiedelt. Ganz im Unterschied zur schiitischen Mehrheit, die vorwiegend die Flussebenen südlich von Bagdad sowie große Teile der irakischen Hauptstadt selbst bewohnt. Seit der Staatsgründung (1912) kontrollierten – ungeachtet der genannten Mehrheitsverhältnisse – zunächst die sunnitischen Araber den Irak. Insbesondere während der Herrschaft der Baath-Partei bzw. Saddam Husseins war die schiitische Mehrheit regelmäßig staatlicher Verfolgung ausgesetzt (vgl. UNHCR, Auskunft an VG Köln zur Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten, 8. Oktober 2007, S. 2 ff). Nach dem Sturz des Baath-Regimes (2003) und dem Wahlsieg eines Bündnisses verschiedener schiitischen Parteien (Ministerpräsident Al-Maliki) und der Verdrängung von sunnitischen Arabern aus öffentlichen Positionen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF zu Sunniten in gehobener Position in Bagdad, 29. November 2016, S. 2) kam es zu starken gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen Arabern und Schiiten (vgl. EZKS, Gutachten an VG Köln zur Lage der schiitischen und sunnitischen Bevölkerung, insb. in Bagdad, 12. Mai 2007, S. 2 ff m. w. N.). Nach dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 blieb insbesondere die humanitäre Lage dort prekär und die Sicherheitslage trotz signifikanter Verbesserung weiter kritisch (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 26. März 2012, S. 6). Diese verschlechterte sich mit dem Vormarsch des sogenannten „Islamischen Staates“ (im Folgenden: IS) ab Mitte 2014 wieder. Neben den Gebietseroberungen kamen insbesondere terroristische Anschläge auch in Bagdad hinzu (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 16).“
Zum Ausbau und zur Konsolidierung ihrer Machtposition setzten die Anhänger des IS bzw. seiner sunnitischen Vorgängerorganisationen seit jeher auf die Strategie, in den von ihnen beanspruchten Gebieten Personen anzugreifen, die in oppositioneller Haltung zur Organisation stehen könnten. Dieses betrifft insbesondere Personen, die mit der irakischen Zentralregierung zusammengearbeitet haben, etwa Politiker, Regierungsmitarbeiter oder (ehemalige) Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte oder der örtlichen Polizei (siehe hierzu ausführlich: EASO, Country of Origin Information Report: Iraq. Targeting of Individuals, März 2019, S. 118 ff. m.w.N.). Auch nach dem Zusammenbruch des IS als territoriale Einheit mit dem Anspruch eines Staatsgebildes greift der IS weiterhin (ehemalige) Angehörige der irakischen Sicherheitskräfte an (EASO, a.a.O., S. 120 f.). Des Weiteren toleriert der IS keine religiösen Anschauungen und Praktiken, die von seiner eigenen fundamentalistischen Ideologie abweichen, seien sie sunnitischen oder schiitischen Ursprungs, und geht gewaltsam gegen derart Andersgläubige vor (EASO, a.a.O., S. 109 ff.). Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel existiert für Personen, die in einer sunnitisch-schiitischen Ehe leben – dabei im Irak zwar kein generelles Verfolgungsrisiko (Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), Entscheidung vom 16. Mai 2011 – EA (Sunni/Shi’a mixed marriages) Iraq CG [2011] UKUT 00342 (IAC) –, LS 1). Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung von Partnern einer konfessionell-gemischten Ehe, welche – abgesehen von dem hier ebenfalls nicht einschlägigen Fall eines staatlichen Verfolgungsprogramms – eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraussetzen würde (ebenso: VGH Hessen, Urteil vom 11.05.2010 – 10 A 2658/06.A -, juris Rn. 40 ff.). Nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls kann jedoch auch für die Ehepartner einer entsprechenden Verbindung die Gefahr bestehen, Opfer eines gewaltsamen Übergriffs durch religiöse Fundamentalisten zu werden (Lattimer, in: European Asylum Support Office (EASO), EASO COI Meeting Report, Iraq. Practical Cooperation Meeting, 25-26 April 2017, Juli 2017, S. 19, 24; Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), a.a.O., LS 1 f., Rn. 37 f.; siehe hierzu ausführlich: VG Hannover, Urteil vom 21.03.2018 – 6 A 5487/16, juris Rn. 33 ff.). Für die Kinder, welche aus einer entsprechenden konfessionell-gemischten Verbindung hervorgehen, gelten diese Feststellungen entsprechend (VG Hannover, Urteil vom 21.03.2018 – 6 A 5070/16 ; Urteil vom 21.03.2018 – 6 A 5074/16).
Eine besondere Schwierigkeit der Abgrenzung der Aktivitäten des IS oder anderer sunnitischer Terrorgruppen zur regulären Kriminalität entsteht in diesem Zusammenhang daraus, dass der IS seinen Kampf extensiv durch kriminelle Aktivitäten (z.B. Schmuggel, Entführungen, Schwarzmarktgeschäfte, Raubüberfälle, Menschenhandel) finanziert und zahlreiche Mitglieder krimineller Banden in seinen Rängen aufgenommen hat. Derartige kriminelle Organisationen können im Irak vergleichsweise in Straffreiheit operieren (EASO, a.a.O., S. 128 f. m.w.N.). Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes und des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ist zudem die irakische Polizei nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen seien hierfür die Hauptursachen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 07.02.2017, S. 9; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 70). Nach Angaben örtlicher Vertrauenspersonen ist es vor allem in dicht besiedelten Gebieten wie Bagdad besonders schwierig, zufriedenstellende Polizeiarbeit zu leisten (Landinfo/Migrationsverket – Joint Norwegian-Swedish Fact Finding Mission to Iraq, Iraq: Rule of Law in the Security and Legal system, November 2013, S. 23).
Diese Erkenntnismittellage findet ihre sachliche Entsprechung in den glaubhaften Schilderungen des Klägers bei seiner Anhörung beim Bundesamt. Die im Anhörungsprotokoll des Bundesamts im Einzelnen dokumentierte Aussage des Klägers enthielt hinreichende Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines erlebten Geschehens sprechen. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten.
Auf Basis dieser Angaben steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu seiner Kernfamilie droht, weil Mitglieder einer ihm unbekannten sunnitischen Terrororganisation – mutmaßliche solche des IS – sämtliche Familienangehörigen eine fehlerhafte Interpretation des sunnitischen Islam zuschreiben, weil die Eltern des Klägers in einer sunnitisch-schiitischen Ehe leben, ferner eine missliebige politische Haltung zugunsten des zentralirakischen Staates.
Die Vielzahl der verbalen und gewaltsamen Übergriffe auf die Familie des Klägers innerhalb eines Zeitraums von ca. 4 ½ Jahren lassen keinen begründeten Zweifel daran aufkommen, dass unbekannte Extremisten, die ggf. zusätzlich auch kriminelle Ziele verfolgten, sämtliche Familienangehörige nach Art einer „Sippenhaft“ wegen eines der gesamten Familie zugeschriebenen „Fehlverhaltens“ gezielt verfolgten. Der Kläger hat in diesem Zusammenhang insbesondere substantiiert dargelegt, wie seine sunnitisch-schiitisch gemischte Familie infolge von Anfeindungen der örtlichen schiitischen Bevölkerung im Jahr 2006 aus dem schiitisch dominierten Viertel Aldulie weggezogen sei, jedoch auch in den sunnitischen Vierteln Almashada und Al-Amiriya immer wieder wegen telefonischer Bedrohungen durch Unbekannte hätte umziehen müssen. Gerade im Viertel Almashada, so der Kläger, hätten Unbekannte die Familie in Telefonaten und Kurzmitteilungen mit dem Tode bedroht, weil seine Mutter Schiitin sei, sein Vater hingegen Sunnit, und sie aufgefordert, ihr Haus und die Stadt zu verlassen. Nachdem sein als Polizist tätiger Bruder im Jahr 2009 in Almashada von Unbekannten mit einem Sprengstoffanschlag ermordet worden sei, hätten Unbekannte im Jahr 2013 sowohl seinen älteren Bruder Omar zur Erpressung von Lösegeld entführt als auch seine Schwester bei einem Feuerüberfall auf ihr Haus angeschossen. Ihn selbst habe man im April 2014 telefonisch mit dem Tode bedroht, sollte er das Viertel nicht verlassen. Dieses Risiko besteht für den Kläger weiterhin.
Die dem Kläger drohende Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG. Hiernach kann die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (Nr. 3), sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen – wie im vorliegenden Fall – erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
Dem Kläger steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr auch kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (s. etwa: VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/18, juris Rn. 52 ff.) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gegeben seien (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 2). Insbesondere bietet sich für den Kläger keine zumutbare innerstädtische Fluchtalternative in Bagdad, denn die Möglichkeit, in ein sunnitisch geprägtes Stadtviertel zu fliehen, ist extrem begrenzt. So führt die Deutsche Orient-Stiftung in einem Gutachten aus November 2017 betreffend die innerstädtische Fluchtalternative eines von schiitischen Milizen verfolgten Sunniten aus, zumutbare Rückzugsorte seien realistischerweise kaum vorhanden. Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen seien viele zuvor gemischte Stadtviertel ethnisch und konfessionell homogenisiert worden. Es werde ge-schätzt, dass bis zu 80 Prozent der Bevölkerung Bagdads schiitisch seien. Zudem übten schiitische Milizen, welche sich im Zuge der Rückeroberung sunnitischer Gebiete vom IS mit Vorwürfen massiver Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sähen, weiterhin lokalen Einfluss aus. Soweit sunnitisch-arabisch geprägte Gebiete in Bagdad weiterhin existierten, sei im Übrigen auf die weiterhin sehr schlechte Sicherheitslage in der Stadt hinzuweisen (im Jahr 2016: 6.878 getötete Zivilisten, von Januar bis Oktober 2017: 3.112 getötete Zivilisten, jeweils bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 6,6 Mio. Menschen; Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft zum Beschluss A 1 K 5641/16, 22. November 2017, S. 5 f.).
Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigen-schaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.
2.
Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsan-drohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251).
Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 Auf-enthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.