Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 10.06.2022, Az.: 16 U 51/22

Antrag auf Aussetzung eines Verfahrens; Anspruch auf Schadensersatz nach Erwerb eines vom Dieselskandal betroffenen Fahrzeugs; Keine drittschützende Wirkung von Europäischen Zulassungsrichtlinien für Kraftfahrzeuge

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
10.06.2022
Aktenzeichen
16 U 51/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 32492
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hildesheim - AZ: 5 O 173/21

In dem Rechtsstreit
pp.

Tenor:

  1. 1.

    Der Antrag des Klägers auf Aussetzung des Verfahrens nach § 148 ZPO analog bis zu den Entscheidungen des EuGH in den Verfahren C-100/21 und C-873/19 wird zurückgewiesen.

  2. 2.

    Die dem Kläger durch Beschluss des Senats vom 12. April 2022 unter Ziffer 3. gesetzte Frist wird auf Antrag (erneut) verlängert bis zum 28. Juni 2022. Der weitergehende Fristverlängerungsantrag wird zurückgewiesen.

Gründe

I.

Der Aussetzungsantrag des Klägers ist zurückzuweisen, weil die Voraussetzungen für eine Aussetzung nach § 148 ZPO (analog) nicht vorliegen.

1. Nach § 148 Abs. 1 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei. Eine Aussetzung kommt auch in Betracht, wenn nach Art. 267 Abs. 2 oder Abs. 3 AEUV eine Vorlage zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) erforderlich ist; hängt die Entscheidung des Rechtsstreits von der Beantwortung einer Frage ab, die bereits in einem anderen Rechtsstreit dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt wurde, ist die Aussetzung des Verfahrens analog § 148 ZPO grundsätzlich auch ohne gleichzeitiges (weiteres) Vorabentscheidungsersuchen in dem auszusetzenden Verfahren zulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2012 - VIII ZR 236/10, BeckRS 2012, 4329; BeckOK ZPO/Wendtland ZPO § 148 Rn. 5 [Stand: 1. März 2022]; MüKoZPO/Fritsche, 6. Aufl., § 148 Rn. 4 f.).

2. Diese Voraussetzungen sind jedoch im Streitfall nicht erfüllt.

a) Die Regelungen in § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV bezwecken nicht den Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer von Kraftfahrzeugen und dienen damit nicht deren Interessen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn. 12 ff.). Eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV bedarf es nicht, weil die Auslegung der genannten Bestimmungen unzweifelhaft ist ("acte clair"; BGH, Beschlüsse vom 12. Januar 2022 - VII ZR 391/21, BeckRS 2022, 6626 Rn. 15 f. und vom 10. Februar 2022 - III ZR 87/21, VersR 2022, 579 Rn. 17); daher kommt auch eine Aussetzung in analoger Anwendung von § 148 ZPO nicht in Betracht. Das Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Ravensburg (Beschluss vom 12. Februar 2021 - 2 O 393/20, juris), auf das der Kläger seinen Aussetzungsantrag stützt, ändert daran nichts (BGH, Beschluss vom 12. Januar 2022 aaO Rn. 16 f.).

b) Die Kommission, die sich in ihrer vom Kläger angeführten Stellungnahme vom 19. Dezember 2019 zu dem mittlerweile aus dem Register des Gerichtshofs der Europäischen Union gestrichenen Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Gera äußert, hält fest, dass offensichtlich nur die nationalen Gerichte in der Lage sind, die betreffenden EU-Vorschriften unter das Konzept einer drittschützenden Norm zu subsumieren. Sie meint zwar im Ergebnis, die zwischenzeitlich zum 31. August 2020 außer Kraft getretene Richtlinie 2007/46 und die Verordnung (EG) 715/2007 bezweckten "den Schutz aller Käufer eines Fahrzeugs einschließlich des Endkunden vor Verstößen des Herstellers gegen seine Verpflichtung, neue Fahrzeuge in Übereinstimmung mit ihren genehmigten Typen bzw. den für ihren Typ geltenden Rechtsvorschriften nach Anhang IV zur Richtlinie 2007/46 einschließlich, unter Anderem, der Verordnung 715/2007 sowie insbesondere ihres Artikels 5 in den Verkehr zu bringen". Dies besagt aber für die hier allein interessierende Frage, ob damit auch der Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts und damit der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrages erfasst sein soll, nichts. Es sind auch im vorliegenden Verfahren keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber mit den genannten Vorschriften (auch) einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer bezweckte und an die (auch fahrlässige) Erteilung einer inhaltlich unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung einen gegen den Hersteller gerichteten Anspruch auf (Rück-)Abwicklung eines mit einem Dritten geschlossenen Kaufvertrags hätte knüpfen wollen (BGH, Beschlüsse vom 12. Januar 2022 aaO Rn. 18 und vom 10. Februar 2022 aaO Rn. 15).

c) Die Schlussanträge des Generalanwalts ... vom 23. September 2021 in Bezug auf Vorlagefragen österreichischer Gerichte betreffend das Thermofenster geben keinen Anlass zu einer abweichenden Bewertung (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2022 aaO Rn. 19). Durchgreifende Argumente, warum die nach Angaben des Klägers für den 2. Juni 2022 erwarteten Schlussanträge des Generalanwalts in dem Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH - anders als die Schlussanträge vom 23. September 2021 - eine abweichende Beurteilung rechtfertigen sollten, ergeben sich aus den Ausführungen des Klägers nicht.

d) Auch die Schlussanträge des Generalanwalts ... vom 2. Juni 2022, auf die der Kläger seinen Aussetzungsantrag stützt, ändern an dieser Beurteilung nichts. Aus ihnen ergibt sich nicht, dass auch der hier berührte Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts und damit der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrages von einer etwaigen drittschützenden Wirkung der Richtlinie 2007/46 umfasst sein sollte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Januar 2022 - VII ZR 391/21, BeckRS 2022, 6626 Rn. 18 und vom 10. Februar 2022 - III ZR 87/21, VersR 2022, 579 Rn. 17).

Der Generalanwalt hat in den genannten Schlussanträgen eine Entscheidung dahingehend vorgeschlagen, dass Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46 dahin auszulegen sind, "dass sie die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 ausgestattet ist" (Schlussanträge des Generalanwalts vom 2. Juni 2022 in der Rechtssache C-100/21, juris Rn. 50). Diese Schutzwirkung nimmt der Generalanwalt vor dem Hintergrund eines dem Käufer eines betroffenen Fahrzeugs entstehenden sowohl materiellen als auch immateriellen Schadens an. Der Käufer erleide einen materiellen Schaden, der zu einem Wertverlust des betroffenen Fahrzeugs führe und sich daraus ergebe, dass mit der Aufdeckung des Einbaus der Software zur Manipulation der Abgasdaten die Gegenleistung der für den Erwerb eines solchen Fahrzeugs geleisteten Zahlung ein Fahrzeug sei, das mit einem Mangel behaftet sei und daher einen geringeren Wert habe. Der Besitz eines Fahrzeugs, das durch Schadstoffemissionen, die die festgelegten Grenzwerte überschritten, die Umweltschutzvorschriften der Union nicht einhalte, führe zudem zu einem immateriellen Schaden dieses Käufers (Schlussanträge des Generalanwalts vom 2. Juni 2022 aaO Rn. 49). Mit der Annahme eines materiellen Schadens bezieht sich der Generalanwalt ausdrücklich auf eine in einem Rechtsstreit gegen die Beklagte ergangene Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH), in der der materielle Schaden, der zu einem Wertverlust jedes betroffenen Fahrzeugs führe und sich daraus ergebe, dass mit der Aufdeckung des Einbaus der Software zur Manipulation der Abgasdaten die Gegenleistung der für den Erwerb eines solchen Fahrzeugs geleisteten Zahlung ein Fahrzeug sei, das mit einem Mangel behaftet sei und daher einen geringeren Wert habe, von einem reinen Vermögensschaden abgegrenzt wird (EuGH, Urteil vom 9. Juli 2020 - C-343/19, Verein für Konsumenteninformation/VW AG, NJW 2020, 2869 Rn. 34).

Dieser materielle Schaden, mit dem der Generalanwalt die auf den einzelnen Käufer bezogene Schutzrichtung von Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46 begründet, unterscheidet sich von dem Schaden, den der Kläger geltend macht, ebenso wie ein daneben in Betracht gezogener immaterieller Schaden. Denn der Kläger begehrt nicht Ersatz eines Minderwerts, den das Fahrzeug infolge der behaupteten Ausstattung mit unzulässigen Abschalteinrichtungen aufgewiesen hätte. Vielmehr meint er, einen Vermögensschaden und damit einen materiellen Schaden allein durch den Abschluss des Kaufvertrags über das Fahrzeug erlitten zu haben (Bl. 7R Bd. I d.A.). Dementsprechend hat er nicht Zahlung von Schadensersatz in Gestalt einer Wertminderung begehrt, sondern die Rückgängigmachung des Kaufvertrags. Dass auch dieses Interesse vom Schutzzweck der Richtlinie 2007/46 erfasst sein sollte, ergibt sich aus den Schlussanträgen des Generalanwalts nicht; vielmehr ist, da sich der Generalanwalt ausdrücklich auf den materiellen Wertminderungsschaden sowie einen etwaigen immateriellen Schaden beschränkt, anzunehmen, dass der vom Kläger geltend gemachte Vermögensschaden durch Eingehung des Vertrags nicht vom Schutzbereich der Richtlinie umfasst ist.

Damit sind auch vor dem Hintergrund der Schlussanträge des Generalanwalts vom 2. Juni 2022 keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber mit den genannten Vorschriften (auch) einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer bezweckte und an die (auch fahrlässige) Erteilung einer inhaltlich unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung einen gegen den Hersteller gerichteten Anspruch auf (Rück-)Abwicklung eines mit einem Dritten geschlossenen Kaufvertrags hätte knüpfen wollen (BGH, Beschlüsse vom 12. Januar 2022 und vom 10. Februar 2022 jew. aaO).

II.

Die Voraussetzungen, unter denen das Gericht gemäß § 251 ZPO das Ruhen des Verfahrens anzuordnen hat, liegen unzweifelhaft nicht. Im Streitfall beantragt ausschließlich der Kläger die Anordnung des Ruhens des Verfahrens, ein beiderseitiger Antrag iSd § 251 Satz 1 ZPO liegt nicht vor.

III.

Auf den Fristverlängerungsantrag war schließlich die dem Kläger durch Beschluss des Senats vom 12. April 2022 unter Ziffer 3. gesetzte Frist (erneut) bis zum 28. Juni 2022 zu verlängern. Der weitergehende Fristverlängerungsantrag war zurückzuweisen.

1. Nach § 224 Abs. 2 ZPO können auf Antrag richterliche und gesetzliche Fristen abgekürzt oder verlängert werden, wenn erhebliche Gründe glaubhaft gemacht sind. Es müssen Umstände gegeben sein, die der antragstellenden Partei eine Fristwahrung unmöglich machen oder zumindest erheblich erschweren, und auf die sie nur bei einer Fristverlängerung angemessen reagieren kann (vgl. KG, Beschluss vom 5. Februar 2009 - 2 U 10/07, BeckRS 2009, 6267; BeckOK ZPO/Jaspersen, ZPO § 224 Rn. 6 [Stand: 1. März 2022]).

2. Diesen Maßstab zugrunde gelegt, kommt im Streitfall lediglich eine Fristverlängerung in dem nunmehr bewilligten zeitlichen Umfang in Betracht.

Erhebliche, eine Fristverlängerung rechtfertigende Gründe sind zwar insbesondere die Arbeitsüberlastung des Prozessbevollmächtigten (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020 - I ZR 9/20, BeckRS 2020, 32857 Rn. 11 mwN). Eine nur formelhaft angeführte Arbeitsüberlastung ist jedoch regelmäßig nicht ausreichend (OLG München, Beschluss vom 9. Juli 2020 - 8 U 967/20, BeckRS 2020, 22390 Rn. 10). Der Anspruch auf rechtliches Gehör des Klägers könnte allerdings lediglich dann verletzt werden, wenn eine vom Gericht gesetzte Frist zur Äußerung objektiv nicht ausreicht, um innerhalb der Frist eine sachlich fundierte Äußerung zum entscheidungserheblichen Sachverhalt und zur Rechtslage zu erbringen (BGH, Beschluss vom 15. Mai 2018 - VI ZR 287/17, NJW 2018, 3316 Rn. 7).

Ein solcher Fall liegt aber hier nicht vor. Ungeachtet der nur formelhaft angeführten und nicht ansatzweise konkret dargelegten (geschweige denn glaubhaft gemachten) angeblichen Arbeitsüberlastung, hat der Senat den Fristverlängerungsantrag nicht vollständig abgelehnt. Vielmehr gibt die weitere Frist von drei Wochen dem Kläger ausreichend Gelegenheit, sich mit dem Hinweisbeschluss des Senats auseinanderzusetzen und hierzu - wie bereits in zahlreichen weiteren Verfahren - Stellung zu nehmen. Warum die nunmehr eingeräumte Frist von drei Wochen (zusätzlich zu der bereits bis 7. Juni 2022 verlängerten Frist) nicht ausreichend wäre, lässt sich dem klägerischen Vorbringen nicht entnehmen und ist nicht ansatzweise hinreichend konkret dargelegt und glaubhaft gemacht.