Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 15.06.2022, Az.: 7 U 160/22

Antrag auf Aussetzung eines Verfahrens; Anspruch auf kleinen Schadensersatz nach Erwerb eines vom Dieselskandal betroffenen Fahrzeugs; Keine individualschützende Wirkung von Europäischen Zulassungsrichtlinien für Kraftfahrzeuge

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
15.06.2022
Aktenzeichen
7 U 160/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 32493
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hildesheim - AZ: 5 O 37/21

In dem Rechtsstreit
pp.

Tenor:

Der Antrag der Klägerin auf Aussetzung des Verfahrens nach § 148 ZPO analog bis zu den Entscheidungen des EuGH in dem Verfahren C-100/21 wird zurückgewiesen.

Gründe

I.

Der Aussetzungsantrag der Klägerin ist zurückzuweisen, weil die Voraussetzungen für eine Aussetzung gemäß § 148 ZPO (analog) nicht vorliegen.

1. Nach § 148 Abs. 1 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei. Eine Aussetzung kommt auch in Betracht, wenn nach Art. 267 Abs. 2 oder Abs. 3 AEUV eine Vorlage zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) erforderlich ist; hängt die Entscheidung des Rechtsstreits von der Beantwortung einer Frage ab, die bereits in einem anderen Rechtsstreit dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt wurde, ist die Aussetzung des Verfahrens analog § 148 ZPO grundsätzlich auch ohne gleichzeitiges (weiteres) Vorabentscheidungsersuchen in dem auszusetzenden Verfahren zulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2012 - VIII ZR 236/10, BeckRS 2012, 4329; BeckOK ZPO/Wendtland ZPO § 148 Rn. 5 [Stand: 1. März 2022]; MüKoZPO/Fritsche, 6. Aufl., § 148 Rn. 4 f.).

2. Diese Voraussetzungen sind jedoch im Streitfall nicht erfüllt.

a) Die Regelungen in § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV bezwecken nicht den Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer von Kraftfahrzeugen und dienen damit nicht deren Interessen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn. 12 ff.). Eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV bedarf es nicht, weil die Auslegung der genannten Bestimmungen unzweifelhaft ist ("acte clair"; BGH, Beschlüsse vom 12. Januar 2022 - VII ZR 391/21, BeckRS 2022, 6626 Rn. 15 f. und vom 10. Februar 2022 - III ZR 87/21, VersR 2022, 579 Rn. 17); daher kommt auch eine Aussetzung in analoger Anwendung von § 148 ZPO nicht in Betracht. Das Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Ravensburg (Beschluss vom 12. Februar 2021 - 2 O 393/20, juris), auf das die Klägerin ihren Aussetzungsantrag stützt, ändert daran nichts (BGH, Beschluss vom 12. Januar 2022 aaO Rn. 16 f.).

b) Die Kommission, die sich in ihrer Stellungnahme vom 19. Dezember 2019 zu dem mittlerweile aus dem Register des Gerichtshofs der Europäischen Union gestrichenen Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Gera äußert, hält fest, dass offensichtlich nur die nationalen Gerichte in der Lage sind, die betreffenden EUVorschriften unter das Konzept einer drittschützenden Norm zu subsumieren. Sie meint zwar im Ergebnis, die zwischenzeitlich zum 31. August 2020 außer Kraft getretene Richtlinie 2007/46 und die Verordnung (EG) 715/2007 bezweckten "den Schutz aller Käufer eines Fahrzeugs einschließlich des Endkunden vor Verstößen des Herstellers gegen seine Verpflichtung, neue Fahrzeuge in Übereinstimmung mit ihren genehmigten Typen bzw. den für ihren Typ geltenden Rechtsvorschriften nach Anhang IV zur Richtlinie 2007/46 einschließlich, unter Anderem, der Verordnung 715/2007 sowie insbesondere ihres Artikels 5 in den Verkehr zu bringen". Dies besagt aber für die hier allein interessierende Frage, ob damit auch der Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts und damit der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrages erfasst sein soll, nichts. Es sind auch im vorliegenden Verfahren keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber mit den genannten Vorschriften (auch) einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer bezweckte und an die (auch fahrlässige) Erteilung einer inhaltlich unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung einen gegen den Hersteller gerichteten Anspruch auf (Rück-)Abwicklung eines mit einem Dritten geschlossenen Kaufvertrags hätte knüpfen wollen (BGH, Beschlüsse vom 12. Januar 2022 aaO Rn. 18 und vom 10. Februar 2022 aaO Rn. 15).

c) Die Schlussanträge des Generalanwalts R. vom 23. September 2021 in Bezug auf Vorlagefragen österreichischer Gerichte betreffend das Thermofenster geben keinen Anlass zu einer abweichenden Bewertung (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2022 aaO Rn. 19).

d) Auch die Schlussanträge des Generalanwalts R. vom 2. Juni 2022, auf die die Klägerin ihren Aussetzungsantrag stützt, ändern an dieser Beurteilung nichts. Aus ihnen ergibt sich nicht, dass auch der hier berührte Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts und damit der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrages von einer etwaigen drittschützenden Wirkung der Richtlinie 2007/46 umfasst sein sollte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Januar 2022 - VII ZR 391/21, BeckRS 2022, 6626 Rn. 18 und vom 10. Februar 2022 - III ZR 87/21, VersR 2022, 579 Rn. 17).

Der Generalanwalt hat in den genannten Schlussanträgen eine Entscheidung dahingehend vorgeschlagen, dass Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46 dahin auszulegen sind, "dass sie die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 ausgestattet ist" (Schlussanträge des Generalanwalts vom 2. Juni 2022 in der Rechtssache C-100/21, juris Rn. 50). Diese Schutzwirkung nimmt der Generalanwalt vor dem Hintergrund eines dem Käufer eines betroffenen Fahrzeugs entstehenden sowohl materiellen als auch immateriellen Schadens an. Der Käufer erleide einen materiellen Schaden, der zu einem Wertverlust des betroffenen Fahrzeugs führe und sich daraus ergebe, dass mit der Aufdeckung des Einbaus der Software zur Manipulation der Abgasdaten die Gegenleistung der für den Erwerb eines solchen Fahrzeugs geleisteten Zahlung ein Fahrzeug sei, das mit einem Mangel behaftet sei und daher einen geringeren Wert habe. Der Besitz eines Fahrzeugs, das durch Schadstoffemissionen, die die festgelegten Grenzwerte überschritten, die Umweltschutzvorschriften der Union nicht einhalte, führe zudem zu einem immateriellen Schaden dieses Käufers (Schlussanträge des Generalanwalts vom 2. Juni 2022 aaO Rn. 49). Mit der Annahme eines materiellen Schadens bezieht sich der Generalanwalt ausdrücklich auf eine in einem Rechtsstreit gegen die Beklagte ergangene Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH), in der der materielle Schaden, der zu einem Wertverlust jedes betroffenen Fahrzeugs führe und sich daraus ergebe, dass mit der Aufdeckung des Einbaus der Software zur Manipulation der Abgasdaten die Gegenleistung der für den Erwerb eines solchen Fahrzeugs geleisteten Zahlung ein Fahrzeug sei, das mit einem Mangel behaftet sei und daher einen geringeren Wert habe, von einem reinen Vermögensschaden abgegrenzt wird (EuGH, Urteil vom 9. Juli 2020 - C-343/19, Verein für Konsumenteninformation/VW AG, NJW 2020, 2869 Rn. 34).

Dieser materielle Schaden, mit dem der Generalanwalt die auf den einzelnen Käufer bezogene Schutzrichtung von Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46 begründet, unterscheidet sich von dem Schaden, den die Klägerin geltend macht, ebenso wie ein daneben in Betracht gezogener immaterieller Schaden. Denn die Klägerin meint, einen Vermögensschaden und damit einen materiellen Schaden durch den Abschluss eines nicht gewollten Kaufvertrags über das Fahrzeug erlitten zu haben. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass die Klägerin - jedenfalls erstinstanzlich - die Rückgängigmachung des Kaufvertrags verlangt hat.

An dieser Beurteilung ändert auch die Tatsache der vor dem Verhandlungstermin vor dem Landgericht erfolgten Umstellung des Klagebegehrens von großem auf kleinen Schadensersatz nichts. Denn der Übergang vom großen zum kleinen Schadensersatz stellt keine Klageänderung, mithin also keinen Wechsel des Streitgegenstands dar, sondern ist lediglich eine Frage der Schadensberechnung (BGH, Urteil v. 9. Oktober 1991 - VIII ZR 88/90, juris Rn. 21). Dabei ist es dem Geschädigten überlassen, welche der zwei Möglichkeiten des Schadensausgleichs er wählt, ob er also die Rückabwicklung des Vertrags verlangt oder ob er stattdessen an dem Vertrag festhält und den Ersatz der durch das Verschulden des anderen Teils veranlassten Mehraufwendungen verlangt (BGH, Urteil v. 6. Juli 2021 - VI ZR 40/20, juris Rn. 16 m.w.N.). In dem einen wie dem anderen Fall ist die Grundlage seines Ersatzbegehrens bei Betroffenheit vom "Diesel-Abgasskandal" jedenfalls die Belastung mit der Übernahme einer ungewollten Verbindlichkeit.

Dass auch dieses Interesse - nämlich die Kompensation für die Belastung mit den Folgen eines nicht gewollten Vertrags - entgegen der vom BGH bereits mit Entscheidung vom 25. Mai 2020 geäußerten Rechtsauffassung (vgl. BGH VI ZR 252/19, juris Rn. 76) vom Schutzzweck der Richtlinie 2007/46 erfasst sein sollte, ergibt sich aus den Schlussanträgen des Generalanwalts jedoch nicht; vielmehr ist, da sich der Generalanwalt ausdrücklich auf den materiellen Wertminderungsschaden sowie einen etwaigen immateriellen Schaden beschränkt, anzunehmen, dass der von der Klägerin geltend gemachte Vermögensschaden durch Eingehung des Vertrags nicht vom Schutzbereich der Richtlinie umfasst ist.

Damit sind auch vor dem Hintergrund der Schlussanträge des Generalanwalts vom 2. Juni 2022 keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber mit den genannten Vorschriften (auch) einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer bezweckte und an die (auch fahrlässige) Erteilung einer inhaltlich unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung einen gegen den Hersteller gerichteten Anspruch auf (Rück-)Abwicklung eines mit einem Dritten geschlossenen Kaufvertrags hätte knüpfen wollen (BGH, Beschlüsse vom 12. Januar 2022 und vom 10. Februar 2022 jew. aaO).

Unter diesen Voraussetzungen besteht jedoch für die beantragte Aussetzung kein Anlass.