Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 29.08.2023, Az.: 4 B 1353/23

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
29.08.2023
Aktenzeichen
4 B 1353/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 44093
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2023:0829.4B1353.23.00

Tenor:

Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 2.500,00 € festgesetzt.

Gründe

Der sinngemäße Antrag,

den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller einstweilen ab dem Schuljahr 2023/2024 den Besuch der Grundschule H. - anstelle der I. - (erste Jahrgangsstufe) zu gestatten,

bleibt ohne Erfolg.

Gemäß § 123 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der antragstellenden Person vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Gemäß den §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) hat die antragstellende Person sowohl die Eilbedürftigkeit der begehrten gerichtlichen Regelung (Anordnungsgrund) als auch seine materielle Anspruchsberechtigung (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen.

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

Es kann dahinstehen, ob hier ein Anordnungsgrund vorliegt, da jedenfalls ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden ist.

Gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 des Niedersächsischen Schulgesetzes (NSchG) haben die Schülerinnen und Schüler, soweit - wie hier - Schulbezirke festgelegt worden sind, diejenige Schule der von ihnen gewählten Schulform zu besuchen, in deren Schulbezirk sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Im Fall des Antragstellers ist dies die I.. Von diesem Grundsatz abweichend kann der Besuch einer anderen Schule nach § 63 Abs. 3 Satz 4 NSchG gestattet werden, wenn der Besuch der zuständigen Schule für die betreffenden Schülerinnen und Schüler oder deren Familien eine unzumutbare Härte darstellen würde (Nr. 1) oder der Besuch einer anderen Schule aus pädagogischen Gründen geboten erscheint (Nr. 2).

Die Annahme einer unzumutbaren Härte im Sinne der Nr. 1 muss sich aus der besonderen Situation des Einzelfalls ergeben, die es rechtfertigt, dem sich hierauf berufenden Schüler und/oder den Erziehungsberechtigten im Verhältnis zu dem öffentlichen Interesse an der Beachtung der Schulbezirkseinteilung ausnahmsweise eine Sonderstellung einzuräumen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 20. Juli 2020, 2 ME 288/20, juris m.w.N.). Pädagogische Gründe im Sinne der Nr. 2 sind dann gegeben, wenn der Besuch einer anderen Schule pädagogisch als geboten erscheint, wobei insbesondere das besondere Profil der Schulen oder pädagogisch-psychologische Gründe in der Person der Schülerin oder des Schülers eine Rolle spielen (vgl. hierzu Brockmann, in: Brockmann/Littmann/Schippmann, NSchG, § 63 Anm. 5.2.2 m.w.N.). Aufgrund des Ausnahmecharakters des § 63 Abs. 3 Satz 4 NdsSchG verlangt die Darlegung "pädagogischer Gründe" ebenso wie die Darlegung einer "unzumutbaren Härte" mehr als das Anführen sachlicher Gründe oder den Hinweis auf reine Unbequemlichkeiten, die sich mit dem Besuch der zuständigen Schule ergeben. Die Nachteile, die eine Schülerin bzw. ein Schüler bei dem Besuch der zuständigen Pflichtschule zu erleiden hätte, müssen ungleich schwerer wiegen als das öffentliche Interesse an einer sinnvollen Verteilung der Schülerströme auf die nach dem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt zuständige Schule. Es müssen atypische Umstände gegeben sein, die deutlich über die Belastungen hinausgehen, die regelmäßig mit dem Besuch der Pflichtschule verbunden sind und bei deren Vorliegen es den auf den Normalfall bezogenen Leitvorstellungen des Gesetzgebers nicht mehr entspräche, die betroffene Schülerin bzw. den betroffenen Schüler der zuständigen Pflichtschule zuzuweisen; diese Umstände müssen zugleich den Besuch der Wunschschule gebieten (Nds. OVG, Beschl. v. 21. November 2018, 2 ME 512/18, juris mwN).

Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht.

Der Antragsteller hat Folgendes zur Begründung seines Begehrens vorgetragen:

Er leide an einer Trisomie J.. Es sei daher ein Grad der Behinderung von 50, das besondere Kennzeichen "H" (hilflos) und der Pflegegrad drei festgestellt worden. Mit Bescheid vom 23. Mai 2023 sei sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt "Geistige Entwicklung" festgestellt worden. Der Schulbesuch sei aufgrund seiner Entwicklungsrückstände um ein Jahr zurückgestellt worden. Er habe am 24. Mai 2023 eine Hormontherapie begonnen, damit sein Körperwachstum fortschreite. Es bestehe aus diesem Grund ein erhebliches Gesundheitsrisiko (erhebliche Nebenwirkungen), so dass er durchgehend betreut werden müsse. Seit August 2017 besuche er als Integrationskind den Kindergarten; seit 2019 den K. (8:00 Uhr bis 14:00 Uhr). Während des Kindergartenbesuches sei eine für ihn zuständige heilpädagogische Fachkraft anwesend gewesen. Er erhalte Logopädie, Ergotherapie und besuche eine Reittherapie. Sowohl die Leitung des Kindergartens als auch die heilpädagogische Fachkraft würden die Beschulung an der gewünschten Schule befürworten. Dort werde in altersgemischten Lernklassen der Jahrgänge eins bis vier kompetenzorientiert beschult. Er könne damit auch Anschluss zu Kindern anderer Altersgruppen - insbesondere jüngeren Kindern - finden. Das habe im Kindergarten gut funktioniert. Es existiere an der gewünschten Schule ein Assistentenpool, der - auch bei Krankheit oder anderweitiger Verhinderung - eine stetige Betreuung sicherstelle. Die gewünschte Schule biete zudem Logopädie und eine gesicherte Ganztagsbetreuung (Montag bis Donnerstag 8:15 Uhr bis 15:00 Uhr, Freitag bis 13:00 Uhr) an. Seine Eltern seien beide berufstätig; sein Vater ganztägig (Montag bis Donnerstag von 7:00 Uhr bis 16:00 Uhr, Freitag bis 13:00 Uhr) und seine Mutter werktäglich (wohl) von 7:40 Uhr bis 15:25 Uhr. Seine Schwester werde im Kindergarten wochentäglich von 7:30 Uhr bis 15:00 Uhr betreut. Er erhalte in der gewünschten Schule zudem während der Schulzeit therapeutische Angebote (Logotherapie), so dass er nach dem anstrengenden Schultag nicht noch weitere Termine wahrnehmen müsse. Die zuständige Schule sei für ihn nicht geeignet. Er wäre voraussichtlich der einzige Schüler mit dem Förderstatus "Geistige Entwicklung". Es sei zu befürchten, dass ihn das zum Außenseiter mache. Klassenübergreifende Teams aus Klassenleitung, Fachlehrern, Förderschullehrern, pädagogischen Mitarbeiterinnen und Sozialpädagogen würde es an der zuständigen Schule nicht geben. Die beteiligten Grundschulen hätten dem Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zugestimmt, so dass bereits eine Genehmigung vorliege.

Diese Gründe rechtfertigen weder die Annahme einer unzumutbaren Härte noch einer pädagogischen Gebotenheit im oben dargelegten Sinne.

Eine Genehmigung des gestellten Antrags oder eine Zusicherung hinsichtlich einer solchen Genehmigung (vgl. § 1 Abs. 1 des Niedersächsischen Verwaltungsverfahrensgesetzes i.V.m. § 38 des Verwaltungsverfahrensgesetzes) ist zunächst nicht in der ursprünglichen verwaltungsinternen Stellungnahme der zuständigen Schule zu sehen, wonach keine Einwände hinsichtlich der begehrten Ausnahmegenehmigung bestehen. Unabhängig davon, wie die Eltern des Antragstellers Zugang zu dem - zur internen Vorbereitung der Entscheidung vorgesehenen - Dokument erhalten haben, hat der Schulleiter der zuständigen Schule seine Auffassung - auf die ausführliche Stellungnahme des Trägers der Schülerbeförderung der zuständigen Schule hin - revidiert und den Vorgang - entsprechend der Ziffer 3.6.2 der ergänzenden Bestimmungen zum Rechtsverhältnis zur Schule und zur Schulpflicht (RdErl. d. MK v. 1. Dezember 2016-26-83100-VORIS 22410) - dem Antragsgegner zur Entscheidung vorgelegt.

Der Besuch der zuständigen Schule stellt nicht wegen des besonderen Förderbedarfs (Geistige Entwicklung) und der gesundheitlichen Beeinträchtigung (Hormonbehandlung) des Antragstellers eine besondere Härte dar. Die zuständige Schule ist, wie alle öffentlichen Schulen in Niedersachsen, gemäß § 4 NSchG eine inklusive Schule, an der alle Schülerinnen und Schüler kompetenzorientiert beschult werden. Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass die zuständige Schule nicht dazu in der Lage ist, die hieraus erwachsenden Herausforderungen in angemessener Form zu bewältigen. Das Kollegium der zuständigen Schule besteht im Wesentlichen aus 16 Grundschullehrkräften, zwei Förderschullehrerinnen, einem Schulsozialarbeiter, pädagogischen Mitarbeiter/innen und Schulassistenten. Für die Inklusion sind die zwei Förderschullehrerinnen zuständig. Fördermöglichkeiten bestehen zunächst im Rahmen der Beschulung im Klassenverband (z.B. individualisierte Lernangebote, individuelle Fördermaßnahmen während der Tages- bzw. Wochenplanarbeit, Reduzierung des Umfangs, individuelle Arbeitszeiten, verschiedene Anspruchsniveaus, Erstellung von Nachteilsausgleichen, Entspannungsphasen). Darüber hinaus gibt es weitere Unterstützungsmaßnahmen (Einzel- und Gruppenangebot) in Zusammenarbeit mit den Förderschullehrkräften. Derzeit werden insgesamt sechs Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf an der zuständigen Schule beschult. Auch wenn keines dieser Kinder einen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf im Bereich "Geistige Entwicklung" hat, wurden in der Vergangenheit bereits mehrfach Kinder mit einem solchen Förderbedarf an der zuständigen Schule beschult. Wie der Antragsgegner zu Recht betont, sind die Lehrkräfte weder an der zuständigen noch an der gewünschten Schule für medizinische, therapeutische bzw. pflegerische Maßnahmen zuständig. Im Fall eines medizinischen Notfalls obliegt es der gewünschten wie der zuständigen Schule gleichermaßen, Erste-Hilfe-Maßnahmen einzuleiten und den Rettungsdienst sowie die Eltern des Antragstellers zu verständigen. Notwendige Therapien können grundsätzlich in der zuständigen - wie in der gewünschten - Schule in den Schulalltag integriert werden.

Der Umstand, dass an der gewünschten Schule die Lerngruppen jahrgangsgemischt unterrichtet werden, führt nicht zur Annahme, dass der Besuch der gewünschten Schule aus pädagogischen Gründen geboten ist. Soweit ersichtlich favorisieren die Eltern des Antragstellers dieses Konzept, weil es es dem Antragsteller ermöglicht, auch zu jüngeren Schülern Kontakt aufzunehmen. Das ist ihm auch an der zuständigen Schule möglich. Diese verfügt über einen Schulkindergarten, der im Rahmen eines Kooperationskonzepts mit den ersten Klassen zusammenarbeitet. Damit kann der Antragsteller auch an der zuständigen Schule entsprechende Kontakte knüpfen. Es sei noch angemerkt, dass der Antragsteller in einer jahrgangsgemischten Lerngruppe (zunächst) mit einer Vielzahl älterer Kinder konfrontiert wäre. Dies könnte einen nachteiligen, frustrierenden Effekt auf ihn haben, da er sich ausweislich der vorgelegten Stellungnahmen häufig an jüngeren, seinem Entwicklungsstand entsprechenden Kindern orientiert. Darüber hinaus führt der Besuch der deutlich näher am Wohnort gelegenen zuständigen Schule dazu, dass etwaige schulische Kontakte zu anderen Kindern in der Freizeit leichter gepflegt und intensiviert werden könnten.

Eine pädagogische Gebotenheit für den Besuch der gewünschten Schule ist auch nicht darin zu sehen, dass an der zuständigen Schule - anders als an der gewünschten Schule - kein sogenannter Schulbegleitungspool zur Verfügung steht, sondern der Antragsteller den Schulalltag voraussichtlich mit einer persönlichen (eigenen) Schulbegleitung zu bestreiten hat. Unabhängig von der hier nicht zu beurteilenden Frage, ob dem Hilfebedarf des Antragstellers durch die Inanspruchnahme eines Schulbegleitungspools adäquat begegnet werden kann, obliegt die Entscheidung über die Art und Weise der Hilfemaßnahme den Landkreisen. Dies gilt auch für Vertretungsfälle.

Eine unzumutbare Härte bzgl. des Besuchs der zuständigen Schule folgt auch nicht aus der Berufstätigkeit der Eltern. Die Berufstätigkeit beider Elternteile ist in der heutigen Zeit kein atypischer Sachverhalt, sondern betrifft eine große Zahl von Schülerinnen und Schülern und deren Eltern. Ein atypischer Sachverhalt im oben genannten Sinne kann im Einzelfall vorliegen, wenn mit der berufsbedingten Belastung der Eltern weitere Umstände einhergehen, die sich erheblich auf die Betreuungssituation des Kindes auswirken und von den Eltern nicht in zumutbarer Weise abgewendet werden können (Nds. OVG, Beschl. v. 31. Juli 2018, 2 ME 405/18, juris). Bei der zuständigen Schule handelt es sich um eine offene Ganztagsschule. Die schulischen und außerschulischen Angebote umfassen die Zeit von 7:25 Uhr bis 15:25 Uhr bzw. montags und freitags bis 12:40 Uhr. Soweit - vor dem Hintergrund der Arbeitszeiten der Eltern des Antragstellers - montags und freitags (nachmittags) ein Betreuungsdefizit besteht, ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass dieses nicht in zumutbarer Weise abgewendet werden kann. Zudem ist der Antragsteller den Ausführungen des Antragsgegners auf Seite 5 der Antragserwiderung, wonach sich die Betreuungssituation an der zuständigen Schule im Hinblick auf die Berufstätigkeit seiner Eltern deutlich besser darstelle als an der gewünschten Schule, nicht entgegengetreten.

Der Sorge der Eltern des Antragstellers, dass ihr Sohn an der zuständigen Schule zum Außenseiter werden könnte, soll nach dem Grundgedanken des inklusiven Unterrichts an den Regelschulen gerade derart begegnet werden, dass die Klassengemeinschaft heterogen ist, alle Schülerinnen und Schüler individuell lernen und die Chance bekommen, ihr Bestes zeigen zu können, mit oder ohne sonderpädagogischem Förderbedarf. Besondere Bedürfnisse werden respektiert, um so die gesellschaftliche Teilhabe zu unterstützen. Sollte dies - mit allen Herausforderungen (aber auch Chancen), die für den Antragsteller damit einhergehen - von den Eltern nicht gewollt sein, bleibt es ihnen unbenommen, ihren Sohn an einer Förderschule beschulen zu lassen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 und 2 GKG sowie in Anlehnung an Ziff. 38.4 und 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. hierzu: Nds. OVG, Beschl. v. 8. Juni 2023, 2 ME 27/23 (n.v.)).