Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 11.08.2023, Az.: 10 A 1111/23

Dublin-Verfahren; Italien; Die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers ist nicht mehr gegeben

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
11.08.2023
Aktenzeichen
10 A 1111/23
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 30452
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2023:0811.10A1111.23.00

Amtlicher Leitsatz

Die Voraussetzungen für eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG liegen im Hinblick auf die Italienische Republik derzeit nicht vor.

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 20.06.2023 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand

Der in Syrien geborene Kläger wendet sich gegen einen sog. Dublin-Bescheid.

Mit Bescheid vom 20.06.2023, zugestellt am 29.06.2023, lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien an. Auf diesen Bescheid wird Bezug genommen.

Der Kläger hat am 03.07.2023 Klage erhoben und zugleich um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht (H.). Das italienische Asylsystem und die dortigen Aufnahmebedingungen wiesen systemische Mängel auf.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

den Bescheid der Beklagten vom 20.06.2023 aufzuheben,

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie tritt dem klägerischen Vortrag entgegen. Es stehe weiterhin fest, dass die Überstellung durchgeführt werden könne und im Hinblick auf das Asylsystem in der Italienischen Republik keine systemischen Mängel vorliegen und auch nicht in absehbarer Zeit zu erwarten seien.

Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die das Gericht im Einverständnis der Beteiligten (Kläger mit Schriftsatz vom 12.07.2023, Beklagte durch Schriftsatz vom 06.07.2023) gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheidet, hat Erfolg. Die Anfechtungsklage ist zulässig und im gem. § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. AsylG maßgeblichen Zeitpunkt begründet.

In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass gegen Entscheidungen des Bundesamtes, die Durchführung eines Asylverfahrens nach Maßgabe von § 29 AsylG abzulehnen, (nur) eine Anfechtungsklage statthaft ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4/16 -, BVerwGE 157, 18-34, Rn. 15 - 16).

Der streitgegenständliche Bescheid vom 20.06.2023 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Voraussetzungen von § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG und § 34a AsylG sind vorliegend nicht erfüllt (vgl. auch Nds. OVG, Beschlüsse vom 26.04.2023 - 10 LA 48/23 -, vom 05.05.2023 - 10 LA 51/23 - sowie vom 08.05.2023 - 10 LA 58/23 -; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 5. Juli 2023 - 11 A 1722/22.A -, Rn. 26, juris und vom 16. März 2023 - 11 A 252/23.A -, Rn. 31 ff., juris; vgl. auch https://www.raadvanstate.nl/talen/artikel/english-version/state-secretary-blocked-from-returning). Voraussetzung für eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ist, dass feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Die Abschiebung muss also nicht nur rechtlich zulässig, sondern in nächster Zeit ("sobald") mit großer Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich möglich sein. Voraussetzung ist dabei immer die tatsächliche (Wieder-)Aufnahmebereitschaft des Rückführungszielstaates (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 5. Januar 2023 - 1a L 1642/22.A -, Rn. 6 - 8, juris). Diese liegt im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr vor.

Italien hat die anderen Dublin-Staaten mit Rundschreiben vom 5. Dezember 2022 darüber informiert hat, dass es vorübergehend keine Flüchtlinge zurücknehme (https://www.frnrw.de/fileadmin/frnrw/media/downloads/Themen_a-Z/EU-Politik/Dublin_Italien_12.2022.pdf). Italien hat hierauf noch einmal mit Rundschreiben vom 07.12.2022 Bezug genommen und lediglich Familienzusammenführungen hiervon ausgenommen (https://www.frnrw.de/fileadmin/frnrw/media/Dublin/S._v._07.12.2022.pdf; vgl. auch https://www.derbund.ch/italien-stoppt-ruecknahme-von-fluechtlingen-schweiz-aechzt-noch-mehr-925864640038). War zunächst noch erwartet worden, dass der Stopp nach Weihnachten 2022 wieder aufgehoben werde, so hat sich dies nicht bewahrheitet. Der Stopp gilt nach wie vor (vgl. https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/sem/aktuell/italien-dublin.html; https://www.nzz.ch/schweiz/italien-nimmt-bis-mindestens-anfang-mai-keine-fluechtlinge-zurueck-ld.1733446).

Ob und unter welchen Bedingungen die neue italienische Regierung die Rückführungen wieder aufnehmen wird, ist derzeit nicht absehbar. Auch die Einigung beim Rat für Justiz und Inneres über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) im Juni 2023 hat zu keiner ersichtlichen Änderung der italienischen Handlungsweise geführt, zumal das Europäische Parlament noch im Weiteren über die Beschlüsse beraten muss und die Reformvorschläge frühestens bis zum Ende der europäischen Legislaturperiode im Frühjahr 2024 verabschiedet werden (vgl. https://atlanticsentinel.com/2023/03/melonis-asylum-plan-gains-support; https://www.euractiv.com/section/migration/news/leak-pact-on-migration-and-asylum-reaffirm-the-dublin-system). Es liegen damit derzeit - auch vor dem Hintergrund der aufgezeigten politischen Umstände - keine belastbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass die Wiederaufnahme der Rücküberstellungen innerhalb der Frist des Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO erfolgen könnte (vgl. https://www.euractiv.com/section/migration/news/migration-ministers-promise-to-agree-asylum-bill-stance-by-june). Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die Anzahl der Flüchtlinge über das Mittelmeer bis Anfang August 2023 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt hat (vgl. UNHCR Italy weekly snapshot, 31 Jul - 06 Aug 2023).

Somit ist die Bundesrepublik Deutschland gem. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO für das Asylverfahren des Klägers zuständig geworden (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. Juli 2023 - 11 A 1722/22.A -, Rn. 29 ff., juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO; 83 b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.