Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 15.04.2010, Az.: 8 U 205/09

Unklarheit der Formulierung "Funktionsunfähigkeit einer Hand im Handgelenk" i.R.v. Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB); Addition von Invaliditätsgraden der Finger zum Invaliditätsgrad einer Hand bzw. eines Handgelenks

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
15.04.2010
Aktenzeichen
8 U 205/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 19545
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2010:0415.8U205.09.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Bückeburg - 11.08.2009 - AZ: 2 O 5/09

Fundstelle

  • VRR 2010, 424-425

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Formulierung "Funktionsunfähigkeit einer Hand im Handgelenk" ist unklar i.S.d. § 305c BGB

  2. 2.

    Dies hat aber nicht zur Folge, dass nunmehr die einzelnen Invaliditätsgrade der Finger zu dem Invaliditätsgrad der Hand bzw. des Handgelenks hinzu zu addieren sind.

In dem Rechtsstreit
...
hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 9..April 2010
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Glimm,
den Richter am Oberlandesgericht Voß und
den Richter am Oberlandesgericht Dr. Dietrich
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Berufung des Klägers gegen das am 11. August 2009 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bückeburg wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.

  2. 2.

    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

  3. 3.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

  4. 4.

    Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 6.920,27 EUR

    festgesetzt.

Gründe

1

Der Kläger macht mit seiner Klage weitere Versicherungsleistungen aus einer zwischen den Parteien seit 2001 bestehenden Unfallversicherung geltend. Dieser liegen die AUB 88 (BI. 36) zugrunde. Versicherte Person ist auch die Ehefrau des Klägers (Versicherungsschein BI. 6). Die Invaliditätssumme beträgt 58.000,00 DM/ 29.654,93 EUR. Bei einem Invaliditätsgrad zwischen 25% und 50% besteht ein Anspruch auf die doppelte Invaliditätssumime.

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Die Ehefrau des Klägers erlitt am 2. September 2006 einen Unfall, bei dem sie sich ein schweres Distorsionstrauma der rechten Hand mit einer Mittelhandquetschung und Mittelhand-Knochenfrakturen in den Bereichen II bis V zuzog. Nach dem handchirurgischen Fachgutachten des Dr. Schönberger vom 25. März 2008 (BI. 7 ff.) beträgt die dauernde Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit - des rechten Handgelenkes und der rechten Hand - nach der Gliedertaxe der AUB 88 ein Drittel.

3

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Invaliditätsgrad gemäß § 7 I. (2) AUB 88 betrage 55% für die Beeinträchtigung der Hand sowie 20% für die des

4

Daumens, 10% für die des Zeigefingers und je 5% für die weiteren Finger, wobei die Werte zu addieren seien und sich daraus eine 100%-ige Invalidität ergebe. Da das Handgelenk und die einzelnen Finger jedoch nicht vollständig funktionsunfähig, sondern lediglich beeinträchtigt seien, und zwar den Angaben des Gutachters zufolge zu einem Drittel, stehe dem Kläger ein Anspruch von 33,33% zu, wobei dann die doppelte Invaliditätssumme anzusetzen sei. Daraus errechnet der Kläger folgenden Anspruch:

29.654,93 E x 25%=7.413,73EUR
+ 2 x 29.654,93 x 8,33%=4.942,29EUR
Insgesamt:12.356,02 EUR
abzüglich gezahlter5.435,75 EUR
was der Klagforderung entspricht.=6.920,27 E,
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Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dem Kläger stehe lediglich ein Anspruch von 1/3 x 55% derVersicherungssumme zu. Eine Addition komme nicht in Betracht. In den Prozentsätzen der Gliedertaxe sei berücksichtigt, wie sich der unfallbedingte Verlust bzw. die unfallbedingte Gebrauchsunfähigkeit oder Gebrauchseinschränkung eines Untergliedes oder Gliedteils auf den verbleibenden Gliedrest auswirke. Maßgeblich sei allein die prozentuale Einschränkung des betroffenen Obergliedes.

6

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Eine Addition der Gliedertaxen komme nicht in Betracht, wie sich aus der Systematik ergebe. Auch wenn dies nicht ausdrücklich in § 7 AUB 88 aufgeführt sei, bestehe ein Über- und Unterordnungsverhältnis der einzelnen Gliedmaßen. Der Verlust bzw. die Gebrauchsunfähigkeit eines funktionell höher bewerteten, rumpfnäheren Gliedes schließe grundsätzlich die Beeinträchtigung bzw. den Verlust eines rumpfferneren Gliedes mit ein. Aus den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu den Formulierungen "Hand im Handgelenk" und "Arm im Schultergelenk", die der Bundesgerichtshof für unklar gehalten hat, ergebe sich für den Kläger nichts. Um die Frage der Addition einzelner Invaliditätsgrade sei es dort gerade nicht gegangen.

7

Gegen das Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit der er seinen erstinstanzlich gestellten Zahlungsantrag weiterverfolgt. Er wiederholt im Wesentlichen seinen erstinstanzlichen Vortrag.

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Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 6.920,27 EUR, verzinslich mit 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz gemäß § 247 BGB seit dem 1. April 2008 zu zahlen.

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Die Beklagte beantragt,

die gegnerische Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen. Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

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Wegen der Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien, das angefochtene Urteil sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlungen verwiesen.

11

Die zulässige Berufung des Klägers bleibt in der Sache ohne Erfolg. Das angefochtene Urteil trifft zu.

12

a)

Dem Versicherungsverhältnis zwischen den Parteien, in das die geschädig-

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te Ehefrau des Klägers einbezogen ist, liegen die zu den Akten gereichten AUB 88 zugrunde. Diese enthalten in § 7 I. (2) a Pauschalierungen in Gestalt der sog. Gliedertaxe. Diese enthält - in ihrem Anwendungsbereich unter regelmäßigem Ausschluss des Nachweises einer höheren oder geringeren Invalidität - feste Invaliditätsgrade für Verlust- oder Funktionsunfähigkeit der dort genannten Glieder. Jedem dort abgegrenzten Teilbereich eines Armes oder Beines werden feste Invaliditätsgrade zwischen 2% und 70% zugeordnet. Dabei steigt der Invaliditätsgrad mit Rumpfnähe des Teilgliedes. Die Gliedertaxe stellt dabei für den Verlust bzw. die Funktionsunfähigkeit der in ihr genannten Gliedmaßen öder deren Teilbereiche durchgängig alleine auf den Sitz der unfallbedingten Schädigung ab (BGH, VersR 1991, 413 [BGH 23.01.1991 - IV ZR 60/90]; IV ZR 203/03, Urteil vom 24. Mai 2006, VersR 2006, 1117 [BGH 24.05.2006 - IV ZR 203/03]). Dass Verlust- oder Funktionsunfähigkeit eines rumpfferneren Glieds auch die Gebrauchsfähigkeit des verbleibenden Teils beeinträchtigen kann, ist bei den Prozentsätzen bereits berücksichtigt und kann nicht zu einer Erhöhung der Leistung führen (vgl. BGH, VersR 1990, 964 [BGH 30.05.1990 - IV ZR 143/89]; 1991, 413; 2001, 360; OLG Brandenburg, 12 U 147/04, Urteil vom 10. März 2005, Rdnr. 15 bei [...]; LG Dortmund, 2 0 255/07, Urteil vom 27. September 2007, Rdnr. 13 bei [...]). Eine Addition findet in einem Fall wie dem vorliegenden lediglich statt, wenn mehrere Finger einer Hand betroffen sind. Der Invaliditätsgrad ist dann nach einer Addition der Sätze der Gliedertaxe für die einzelnen Finger zu ermitteln und kann demnach maximal 45% betragen, womit die Gliedertaxe nicht zufällig hinter dem Wert für die Hand im Handgelenk zurückbleibt; der Wert für die Hand ist zu verstehen als Beeinträchtigung ab der Hand/im Handgelenk und schließt Beeinträchtigungen der Finger dieser Hand ohne Weiteres ein. Ist - wie hier - aber neben den Fingern auch die Mittelhand oder die Handwurzel in Gestalt von bleibenden Unfallfolgen betroffen, ist der Satz der Gliedertaxe für den "höherrangigen" Teilbereich des Armes anzusetzen, nämlich die Hand im Handgelenk, womit die Bedeutung von Unfallfolgen der einzelnen Finger mit abgegolten ist. Die. Argumentation des Klägers führte dazu, dass bei einer Verletzung auch des Armes eine Invalidität von 170% anzusetzen wäre, bzw. bei einer Beschränkung auf 100% es keinen Un terschied machte, ob der gesamte Arm betroffen ist oder "nur" Hand und Finger.

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b)

Diese Systematik hat nach wie vor Bestand. Insbesondere ist sie nicht durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, mit dem dieser verschiedene Wendungen der Gliedertaxe für unklar i.S.d. § 305 c Abs. 2 BGB gehalten hat, überholt (ebenso LG Dortmund, a. a. 0., Rdnr. 14 bei [...]; Marlow, r+s 2007, 353, 359, re. Sp.; s. a. BGH, [V ZR203/03, Urteil vom 24. Mai 2006, VersR 2006, 1117, unter II. 1. a). Mit Urteil vom 24. Mai 2006 (IV ZR 203/03, VersR 2006, 1117; bestätigt im Beschluss vom 12. Dezember 2007, VersR 2008, 483; ebenso OLG Karlsruhe, VersR 2006, 104) hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass die Formulierung "Verlust- oder Funktionseinschränkung eines Armes im Schultergelenk" unklar gemäß § 305 c Abs. 2 BGB ist. Die Wortwahl "Arm im. Schultergelenk" könne den Versicherungsnehmer zu einem Verständnis führen, dass auf die Funktionsunfähigkeit des Gelenks selbst und nicht auf die Funktionsunfähigkeit des Gliedes "Arm" abzustellen ist. Die sich aus der mehrdeutigen Formulierung "Arm im Schultergelenk" ergebenden Zweifel ließen sich aus der Sicht eines verständigen Versicherungsnehmers auch nicht überwinden, sodass nach der Regelung des § 305 c Abs. 1 BGB von der für den Versicherungsnehmer günstigeren Auslegung auszugehen sei. Diese Entscheidung beruht auf einem vorangegangenen Urteil zu der Wendung "Funktionsunfähigkeit einer Hand im Handgelenk", die vom Bundesgerichtshof ebenfalls als unklar angesehen wurde (VersR 2003, 1163 [BGH 09.07.2003 - IV ZR 74/02]). Die Formulierung kann zum einen dahin verstanden werden, dass sie sich auf die Funktionsfähigkeit der gesamten Hand bis zum Handgelenk bezieht, sodass der volle Invaliditätsgrad von 55% in jedem Fall auch eine Funktionsunfähigkeit der Hand voraussetzt. Zum anderen ist aber eine Auslegung auch dahin möglich, dass auf die volle oder teilweise Funktionsunfähigkeit im Gelenk abzustellen ist und nicht auf die Funktionsunfähigkeit der Hand insgesamt. Da insoweit die dem Versicherungsnehmer günstigere Auslegung maßgeblich ist, sind Mehrfachbewertungen der Invalidität vorzunehmen, und ist dann das dem Versicherungsnehmer günstigste Ergebnis zugrunde zu legen (vgl. Marlow, a. a. 0., 359). Dass eine solche Alternativberechnung hier zu einem Wert von mehr als 55% führen könnte, ist aber nicht ersichtlich. Die Feststellungen des Sachverständigen Dr. Schönberger in seinem handchirurgischen Fachgutachten vom 25. März 2008 haben sich beide Parteien zueigen gemacht. Danach ist unstreitig von einer dauernden Beeinträchtigung des rechten Handgelenkes und der rechten Hand von einem Drittel auszugehen. Anders als in dem dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorliegenden Sachverhalt, der dem Urteil vom 9. Juli 2003 (IV ZR 74/02, VersR 2003, 1163) zugrunde lag, hat hier insbesondere die Beklagte sich nicht auf eine - geringere - Funktionsbeeinträchtigung des ganzen Armes gestützt. Auch der Kläger hat eine solche Beeinträchtigung, die über die Hand hinausgeht, nicht behauptet, sondern sich ausdrücklich auf den Sachverständigen Dr. Schönberger und dessen Feststellungen bezogen.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

16

Anlass, gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO die Revision zuzulassen, hat der Senat nicht.