Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 13.05.2014, Az.: 6 B 9277/14
Dublin II VO, Abschiebungsanordnung; Überstellungsfrist; Dublin II VO, Überstellung; Fristablauf
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 13.05.2014
- Aktenzeichen
- 6 B 9277/14
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2014, 42625
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 34a Abs 2 AsylVfG
- Art 19 Abs 4 EGV 343/2003
- § 80 Abs 7 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein erfolglos gebliebener Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO hindert nicht den Ablauf der durch Annahme des Aufnahmegesuchs ausgelösten Überstellungsfrist (wie VG Hannover - 1. Kammer -, Beschl. vom 31.03.2014 - 1 B 6483/14 -, juris).
Gründe
I.
Die am 15. Mai 1987 in D. (Provinz E., Irak) geborene Antragstellerin ist irakische Staatsangehörige. Sie wird ausweislich des ihr ausgestellten irakischen Reisepasses im Irak unter dem vollständigen Namen F. G. H. geführt.
Nachdem die Antragstellerin am 12. August 2013 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte gestellt hatte, wurde festgestellt, dass die Auslandsvertretung der Tschechischen Republik in Bagdad der Antragstellerin am 26. Juli 2013 ein befristet gültiges Visum für eine einmalige Reise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten des Schengener Durchführungsübereinkommens erteilt hatte.
Auf das entsprechende Aufnahmeersuchen der Antragsgegnerin vom 10. Oktober 2013 teilte das Innenministerium der Tschechischen Republik dem Bundesamt am 23. Oktober 2013 unter Anerkennung der nach Art. 9 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II VO) begründeten Zuständigkeit der Tschechischen Republik mit, dass die Tschechische Republik die Antragstellerin aufnehmen werde.
Das Bundesamt stellte mit Bescheid vom 12. März 2014 die Unzulässigkeit des Asylantrags gemäß § 27a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) fest und ordnete die Abschiebung der Antragstellerin in die Tschechische Republik an.
Die Antragstellerin hat am 21. März 2014 im Verfahren 6 A 6307/14 Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes erhoben, über die noch nicht entschieden worden ist. Ihren zeitgleich mit der Klageerhebung im Verfahren 6 B 6310/14 gestellten Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. März 2014 anzuordnen, hat das Verwaltungsgericht mit dem Beschluss des Einzelrichters vom 28. März 2014 als unbegründet abgelehnt.
Das Bundesamt hat der Stadt I. als zuständige Ausländerbehörde mitgeteilt, dass die Frist zur Überstellung der Antragstellerin in die Tschechische Republik am 3. Oktober 2010 verstreichen werde. Die Stadt I. hat der Antragstellerin angekündigt, die Abschiebungsanordnung am 16. Februar 2014 durch Überstellung in die Tschechische Republik zu vollziehen.
Mit dem am 9. Mai 2014 gestellten Antrag hat die Antragstellerin zunächst den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Unterlassung von Abschiebungsmaßnahmen beantragt. Mit Schriftsatz vom 13. Mai 2014 hat die Antragstellerin ihr Rechtsschutzbegehren in einen Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO zur Änderung der gerichtlichen Entscheidung über den vorläufigen Rechtsschutz gegen die Vollziehung der Abschiebungsanordnung geändert. Die Antragstellerin trägt vor, die Antragsgegnerin sei nicht bereit, das Asylverfahren in eigener Zuständigkeit durchzuführen, obwohl in ihrem Fall die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art 19 Abs. 3 der Dublin II-Verordnung verstrichen sei. Diese Frist sei am 23. April 2014 abgelaufen. Die erfolglose Stellung eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO führe nicht zur Hemmung oder zum Neubeginn des Laufs der Überstellungfrist. Da das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung ihrer Klage im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht angeordnet habe, trete die aufschiebende Wirkung des Rechtsschutzantrags auch nicht nach Maßgabe der Dublin II-Verordnung ein.
Die Antragstellerin beantragt,
ihr unter Beiordnung von Rechtsanwalt J. Prozesskostenhilfe zu bewilligen, sowie
den Beschluss des Einzelrichters vom 28. März 2014 - 6 B 6310/14 - zu ändern und die aufschiebende Wirkung der im Verfahren 6 A 6307/14 erhobenen Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. März 2014 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin hat sich bis zur Entscheidung des Gerichts nicht zur Sache und zum erneuten Rechtsschutzbegehren geäußert.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten 6 A 9276/14, 6 B 9277/14, 6 A 6307/14 und 6 B 6310/14 sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes Bezug genommen.
II.
Der für das Abänderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO gestellte Prozesskostenhilfeantrag ist abzulehnen, weil ….
Der (Sach-) Antrag auf Änderung des Beschlusses des Einzelrichters vom 28. März 2014 - 6 B 6310/14 - ist gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO zulässig. Die mit Schriftsatz vom 13. Mai 2014 erklärte Änderung des Rechtsschutzbegehrens der Antragstellerin ist gemäß § 91 Abs. 1 VwGO aus prozessökonomischen Gründen sachdienlich, weil sie die Einleitung eines weiteren Verfahrens auf vorläufigen Rechtsschutz verhindert.
Der Antrag ist auch begründet.
Seit dem Wirksamwerden des unanfechtbaren Beschlusses, das entgegen der vom Bundesamt vertretenen Auffassung nicht erst mit dessen Zustellung am 3. April 2014, sondern bereits mit dessen Übergabe an die Geschäftsstelle am 28. März 2014 eingetreten ist, hat sich die für die Entscheidung des Gerichts im Eilverfahren maßgebende Sach- und Rechtslage entscheidend geändert. Gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates der Europäischen Union vom 18. Februar 2003 (Dublin II VO) ist die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Asylantrag der Antragstellerin mit Ablauf des 23. April 2014 von der Tschechischen Republik auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen, so dass die Antragstellerin nicht mehr in die Tschechische Republik überstellt werden darf. Das hat zur Folge, dass die Abschiebungsanordnung der Antragsgegnerin nunmehr rechtswidrig ist und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt.
Die Rechtsfolge des Zuständigkeitsübergangs auf die Bundesrepublik Deutschland wird dadurch ausgelöst, dass die Überstellung der Antragstellerin nicht spätestens innerhalb von sechs Monaten ab der am 23. Oktober 2013 durch die Tschechische Republik erklärten Annahme des Aufnahmeantrags durchgeführt worden ist, wie dieses von Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II VO vorgeschrieben wird. Wie das Gericht bereits im Beschluss vom 28. März 2014 ausgeführt hat, gelten diese Zuständigkeitsregelungen der Dublin II VO nach Art. 49 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr.604/2013 (Dublin III VO) auf für Asylanträge, die wie im Fall der Antragstellerin vor dem 1. Januar 2014 gestellt worden sind. Danach hätte die Überstellung der Antragstellerin in die Tschechische Republik tatsächlich bis zum Ablauf des 23. April 2014 (§§ 31 Abs. 1 VwVfG, 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB) geschehen müssen, damit es bei der Zuständigkeit der Tschechischen Republik für die Entscheidung über das Asylbegehren der Antragstellerin verblieben wäre. Das ist aber nicht der Fall. Ein Tatbestand, der nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II VO ausnahmsweise zu einer Verlängerung der Überstellungsfrist führt, ist im Fall der Antragstellerin ersichtlich nicht gegeben.
Der in der Rechtsprechung zum Teil vertretenen Auffassung, wonach ein erfolglos gestellter Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO einer „Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat,“ gleichzusetzen ist (vgl. VG Göttingen, Beschl. vom 28.11.2013 - 2 B 887/13 -; vgl. VG Regensburg, Beschl. vom 13.12.2013 - RO 9 S 13.30618 -; beide zitiert nach juris), kann in Anbetracht des Wortlauts und der Systematik der Regelungen der Dublin II VO nicht gefolgt werden.
Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II VO bestimmt, dass die Überstellung der Antragstellerin in den durch die Erteilung eines Visums (zunächst) zuständigen gewordenen Mitgliedstaat gemäß den nationalen Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland nach Abstimmung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten erfolgt, sobald dies materiell möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Danach wurde der Lauf der Überstellungfrist am 23. Oktober 2013 ausschließlich mit der an diesem Tag in elektronischer Form übermittelten Annahme des Aufnahmeersuchens durch das Innenministerium der Tschechischen Republik ausgelöst. Denn die im Verfahren 6 A 6307/14 erhobene Klage der Antragstellerin hatte gemäß § 75 Satz 1 AsylVfG keine aufschiebende Wirkung und das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage im Verfahren 6 B 6310/14 unanfechtbar abgelehnt.
Die Sechsmonatsfrist wird nach der 2. Alternative des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II VO nur dann zu dem in der Verordnung genannten späteren Zeitpunkt in Lauf gesetzt, wenn das Verwaltungsgericht einem gemäß § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG zulässigen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO stattgibt. In diesem Fall beginnt die Sechsmonatsfrist erst nach rechtskräftigem Abschluss des zugehörigen Klageverfahrens zu laufen (VG Hannover, Beschl, vom 31.03.2014 - 1 B 6483/14 -, juris). Dies ist in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29. Januar 2009 (vgl. EuGH, Urt. vom 29.01.2009 - C-19/08 -, juris Rdnr. 46) zur inhaltsgleichen Regelung für die Rücküberstellung in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) Dublin II VO ausdrücklich ausgeführt worden.
Dafür, dass Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 Dublin II VO so auszulegen wäre, dass auch eine ablehnende Entscheidung über einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage als „Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat,“ anzusehen wäre, nämlich weil deutsche Behörden nach Art. 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG vor dem Vollzug der Abschiebungsanordnung die Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzuwarten haben, lassen sich aus der Systematik und Zielsetzung der Zuständigkeitsregelungen in der Dublin II VO keine überzeugenden Argumente ableiten (ebenso: VG Düsseldorf, Beschl. vom 24.03.2014 - 13 L 644/14.A; VG Oldenburg, Beschl. vom 21.01.2014 - 3 B 7136/13 -; jeweils zitiert nach juris). Vielmehr hat der Europäische Gerichtshof (a. a. O. Rdnr. 51) im Zusammenhang mit den Alternativen des Laufs der Überstellungsfristen hervorgehoben, dass sich der ersuchende Mitgliedsstaat im Namen der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts nicht über eine stattgebende gerichtliche Aussetzungsentscheidung hinwegsetzen muss, wenn diese im Rahmen eines Rechtsbehelfs ergangen ist, der aufschiebende Wirkung haben kann. Daraus folgt, dass die Regelungen der Dublin II VO von einem Begriff der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs ausgehen, die mit dem Inhalt des im nationalen Recht in § 80 Abs. 1 VwGO und § 75 Abs. 1 AsylVfG verwendeten Rechtsbegriffs der „aufschiebenden Wirkung“ deckungsgleich ist.
Das folgt im Übrigen auch aus den Rechtsschutzvorschriften der Dublin II VO. Diese sehen in Art. 19 Abs. 2 Satz 3 und 20 Abs. 1 Buchst. e) ausdrücklich vor, dass ein Rechtsbehelf gegen eine Überstellung bzw. Rücküberstellung keine aufschiebende Wirkung hat, es sei denn die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders und wenn dies nach ihrem innerstaatlichen Recht zulässig ist. Entscheidend ist danach stets die im Einzelfall getroffene Entscheidung, mit der die aufschiebende Wirkung angeordnet wird. Eine generelle Regelung wie in § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG, die zur Vermeidung unwiederbringlicher Rechtsverluste nur die Bedeutung des Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz in gerichtlichen Eilverfahren hervorhebt, selbst aber noch keine Aussage über den Inhalt der im Einzelfall ergehenden Gerichtsentscheidung trifft, stellt die Vollziehbarkeit der im Klageverfahren angefochtenen Abschiebungsanordnung nicht in Frage.
Diese am Wortlaut orientierte Auslegung der Regelungen der Dublin II VO ist bei ansonsten inhaltlich gleich gebliebener Rechtslage (vgl. Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III VO) in Bezug auf die Wirkung des gerichtlichen Eilrechtsschutzes in der zwischenzeitlich in Kraft getretenen Dublin III VO ausdrücklich klargestellt worden. Nach 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III VO erfolgt die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat. Damit hat der Verordnungsgeber klargestellt, dass nur eine stattgebende gerichtliche Entscheidung oder Überprüfung der Aussetzung des Vollzugs der Überstellungsentscheidung eine gesetzlich vorgesehene Alternative zum erstmaligen Auslösen des Laufs der Überstellungsfrist darstellt. Hierzu heißt es in Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) Dublin III VO, dass die betreffende Person die Möglichkeit hat, bei einem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung zu beantragen und dass die Mitgliedstaaten für einen wirksamen Rechtsbehelf in der Form, dass die Überstellung ausgesetzt wird, bis die Entscheidung über den ersten Antrag auf Aussetzung ergangen ist, sorgen. Damit trifft Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) Dublin III VO eine dem § 34 a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG inhaltsgleiche Regelung, die für sich betrachtet noch keine Wirkung für den Lauf der Überstellungsfrist entfaltet.
Im Hinblick auf die Antragsfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG, wonach ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung des Bundesamtes zu stellen ist, stellt das in § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG verankerte Gebot des effektiven Rechtsschutzes die Möglichkeiten der Antragsgegnerin, die technischen und organisatorischen Einzelheiten der Überstellung einer Asylbewerberin mit dem aufnahmebereiten Mitgliedsstaat vorzubereiten, nicht ernsthaft in Frage. Dies wird im vorliegenden Verfahren daran deutlich, dass das Verstreichen der Überstellungsfrist nicht maßgeblich auf dem Abwarten der gerichtlichen Entscheidung in dem nur sieben Tage währenden Eilverfahren 6 B 6310/14 beruht.