Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 17.08.2000, Az.: 9 L 4119/98
Artzuschlag; Beitrag; Eckgrundstück; Eckgrundstücksvergünstigung; Erschließung; Erschließungsbeitrag; Erschlossensein; Nutzung; planwidrige Nutzung; Planwidrigkeit; Vergünstigung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 17.08.2000
- Aktenzeichen
- 9 L 4119/98
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 42106
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 16.09.1997 - AZ: 8 A 6422/95
Rechtsgrundlagen
- § 131 Abs 1 S 1 BauGB
- § 131 Abs 3 BauGB
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Erreichbarkeitanforderungen für ein Grundstück richten sich im Rahmen des Erschlossenseins im Wesentlichen an den Vorgaben des Bebauungsrechts aus. Setzt ein Bebauungsplan "allgemeines Wohngebiet" fest, reicht - auch im Fall einer planwidrigen gewerblichen Nutzung (hier: großflächiger Verkaufsmarkt) - das Heranfahrenkönnen aus.
2. Wird der durch die planwidrige gewerbliche Nutzung verursachte Verkehr ausschließlich über eine andere (nicht abgerechnete) Straße abgewickelt und besteht für die abgerechnete Straße ein Zu- und Abfahrtsverbot, kommt die Erhebung eines Artzuschlages für die gewerbliche Nutzung ausnahmsweise nicht in Betracht (wie BVerwG, Urt. v. 23.1.1998 - 8 C 12.96 - DVBl. 1998, 175 = BVerwGE 106, 147)
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich als Miteigentümer eines 3.105 qm großen Grundstücks gegen seine Heranziehung zu Erschließungsbeiträgen für die erstmalige Herstellung von zwei Straßen. Für sein Grundstück setzt ein Bebauungsplan "allgemeines Wohngebiet" fest.
Die Beklagte genehmigte auf dem Grundstück 1992 den Neubau eines Geschäftshauses mit einem Verkaufsmarkt im Erdgeschoss (834 m2 Verkaufsfläche bzw. 1.251 m2 Geschossfläche), mit Büroflächen im ersten Obergeschoss (424 m2 Nutzfläche) und einem Pensionsbetrieb von 24 Appartements sowie einer Betreiberwohnung im zweiten Obergeschoss. Gegenstand der Baugenehmigung war ferner die Herstellung von 50 Einstellplätzen im östlichen Teil des Grundstücks mit drei Zufahrten zu einer dritten, von den abgerechneten Erschließungsmaßnahmen nicht betroffenen Straße. Eine der Baugenehmigung beigefügte Nebenbestimmung regelt, dass die Erschließung hinsichtlich der Zufahrts- und Abfahrtsmöglichkeit nur von der dritten Straße aus erfolgen dürfe. Der Ausbau der abgerechneten M. Straße lasse in diesem Bereich eine Zu- und Abfahrtsmöglichkeit für das Bauvorhaben nicht zu.
Die Beklagte zog den Kläger zu Erschließungsbeiträgen von insgesamt 341.331,06 DM heran. Wegen der gewerblichen Nutzung erhob sie einen Artzuschlag.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Grundstück des Klägers werde durch die beiden abgerechneten Straßen nicht erschlossen. Von beiden Straßen aus könne nicht auf das Grundstück heraufgefahren werden. Dies sei trotz der planerischen Festsetzung "allgemeines Wohngebiet" erforderlich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verbiete sich ein ausnahmsloses - gewissermaßen schematisches - Abstellen auf Festsetzungen eines einschlägigen Bebauungsplanes. So seien die Festsetzungen eines Bebauungsplanes für die Frage des Erschlossenseins beispielsweise dann unergiebig, wenn zwar ein Zu- und Abfahrtsverbot festgesetzt, die Anlegung einer Zufahrt aber im Wege einer Befreiung genehmigt worden sei. Das Grundstück des Klägers werde mit dem genehmigten großflächigen Einzelhandelsbetrieb wie ein Grundstück in einem Kerngebiet oder in einem Sondergebiet genutzt.
Entscheidungsgründe
Die vom Senat zugelassene Berufung der Beklagten hat im Wesentlichen Erfolg. Das Grundstück des Klägers ist zu beiden abgerechneten Straßen erschließungsbeitragspflichtig. Zu Unrecht hat die Beklagte aber einerseits den in § 8 Abs. 3 ihrer Erschließungsbeitragssatzung geregelten Artzuschlag für eine gewerbliche Nutzung erhoben und andererseits kommt dem Kläger die Eckgrundstücksvergünstigung des § 9 Abs. 2 der Erschließungsbeitragssatzung zugute. Der mit den angegriffenen Bescheiden geforderte Erschließungsbeitrag in Höhe von insgesamt 341.331,06 DM reduziert sich demnach auf 229.370,57 DM.
Das Grundstück des Klägers wird entgegen der vom Verwaltungsgericht vertretenen Auffassung durch die beiden abgerechneten Straßen erschlossen (§ 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB). Zutreffend ist allerdings zunächst der Ausgangspunkt des Verwaltungsgerichts, dass nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts das erschließungsbeitragsrechtliche Erschlossensein grundsätzlich an das bebauungsrechtliche Erschlossensein anknüpft. Die daraus abgeleiteten "allgemeinen Regeln" entsprechen ebenfalls der angeführten ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts: In Wohngebieten werden Grundstücke durch eine Anbaustraße in der Regel erschlossen i.S. des § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB, wenn die Straße die Möglichkeit eröffnet, mit Personen- und Versorgungsfahrzeugen an deren Grenze heranzufahren und sie von da ab zu betreten. Dagegen wird man annehmen können, das Herauffahrenkönnen auf die Grundstücke sei in der Regel für das bebauungsrechtliche und daraus folgende erschließungsbeitragsrechtliche Erschlossensein von Grundstücken in Gewerbegebiet erforderlich. Nicht zu folgen ist demgegenüber der im Anschluss an das Urteil des BVerwG vom 17. Juni 1994 (8 C 24.92 - DVBl. 1995, 55 = NVwZ 1995, 1211 = KStZ 1996, 74 = BVerwGE 96, 116) vertretenen Auffassung des Verwaltungsgerichts, das im Hinblick auf die von der Beklagten erteilte Baugenehmigung für den großflächigen Einzelhandelsbetrieb von einer gewerblichen Nutzung des Grundstücks auszugehen und deshalb für die Annahme des Erschlossenseins auch erforderlich sei, dass sowohl von der M. als auch von der W. Straße auf das Grundstück des Klägers heraufgefahren werden könne. Diese Folgerung lässt das Urteil des BVerwG vom 17. Juni 1994, das sich mit einer völlig anderen Interessenlage auseinander zu setzen hatte, nicht zu. Während das BVerwG sich in dem von ihm entschieden Fall mit der Frage des "Erschlossenseins" unter dem Blickwinkel auseinander zu setzen hatte, dass trotz eines im Bebauungsplan festgesetzten Zu- und Abgangsverbotes eine Zufahrt langjährig und intensiv genutzt wurde, diese Frage dann wegen der tatsächlichen Gegebenheiten "ausnahmsweise" deswegen bejahte, weil die Eigentümer der übrigen Grundstücke schutzwürdig die Einbeziehung dieses Grundstücks in den Kreis der erschlossenen Grundstücke, und zwar positiv, erwarten konnte, stellt sich die Interessenlage hier völlig anders dar. Die Eigentümer der übrigen durch die M. und die W. Straße erschlossenen Grundstücke können angesichts der konkreten Örtlichkeit (unmittelbare Angrenzung des Grundstücks des Klägers an die Anbaustraßen und Erreichbarkeit in Gestalt der Möglichkeit, mit Personen- und Versorgungsfahrzeugen auf der Fahrbahn der Straße bis zur Höhe des Grundstücks zu fahren und es von da aus betreten zu können) schutzwürdig auf den Grundsatz vertrauen, dass das in einem festgesetzten allgemeinen Wohngebiet liegende Grundstück auch in den Kreis der erschlossenen Grundstücke einzubeziehen ist, nicht aber, gegenteilig, das ausnahmsweise gerade das Erschlossensein, und zwar negativ, ausgeschlossen wird. Der Senat hat dazu bereits in seinem das vorläufige Rechtsschutzverfahren abschließenden Beschluss vom 30. April 1997 (9 M 5018/96) ausgeführt:
"Wie auch das Verwaltungsgericht im Grundsatz angenommen hat, richtet sich die Frage, ob ein Grundstück erschließungsbeitragsrechtlich im Sinne des § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB erschlossen ist, grundsätzlich danach, ob es bebauungsrechtlich erschlossen ist (§§ 30 ff. BauGB); infolgedessen beantwortet sich auch die Frage, welche Anforderungen an die Erreichbarkeit eines Grundstückes zu stellen sind, im wesentlichen nach dem Bebauungsrecht (BVerwG, Urt. v. 17.6.1994 - 8 C 24.92 -, BverwGE 96, 116 (119)). Ist hiervon auszugehen, so spricht im vorliegenden Fall zumindest eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, daß es für die Erreichbarkeit (des Flurstückes des Antragstellers) genügt, daß von der M. Straße und der W. Straße an das Grundstück mit Kraftfahrzeugen herangefahren und das Grundstück von da ab betreten werden kann. Nach den Festsetzungen des Bebauungsplanes liegt das Grundstück in einem allgemeinen Wohngebiet. Trifft dies zu, so erfordert die verkehrsmäßige Erreichbarkeit in der Regel ein Heranfahrenkönnen (vgl. dazu Driehaus aa0, § 17 RdNr. 52). Der vorgenannte Bebauungsplan enthält keine Regelungen, die - die von der Regel abweichende - Annahme rechtfertigen, für das Grundstück des Antragstellers sei eine Erreichbarkeit im Sinne einer gesteigerten Anforderung zu verlangen, nämlich, daß mit Kraftfahrzeugen auf das Grundstück heraufgefahren werden kann (vgl. dazu grd. BVerwG, Urt. v. 1.3.1991 - 8 C 59.89 -, BverwGE 88, 70 (77)). Ferner hat der Umstand, daß mit einer Baugenehmigung vom ... die Errichtung eines "Wohn- und Geschäftshauses" u.a. mit einem Verbrauchermarkt erlaubt worden ist, in diesem Zusammenhang keine Bedeutung für das Erschlossensein. Mit der Erteilung der Baugenehmigung ist erkennbar keine Änderung des für das Flurstück bestehenden Bebauungsrechts - etwa im Wege einer Planänderung - einhergegangen; das Grundstück liegt nach wie vor in einem als allgemeines Wohngebiet ausgewiesenen Bereich. Unerheblich ist, wie das Grundstück tatsächlich baulich genutzt wird. Es kommt erschließungsbeitragsrechtlich auch nicht auf die Frage an, ob insbesondere der im Erdgeschoß eingerichtete Verbrauchermarkt nach den Festsetzungen des Bebauungsplanes sowie nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO zulässig ist".
An dieser Auffassung ist nach erneuter Überprüfung uneingeschränkt festzuhalten. Eine andere rechtliche Beurteilung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn die im einschlägigen Bebauungsplan aufgenommene Festsetzung "allgemeines Wohngebiet" wegen Funktionslosigkeit obsolet geworden sein sollte. In der Rechtsprechung des BVerwG ist geklärt, wann einzelne Festsetzungen eines Bebauungsplanes funktionslos sein können. Eine bauplanerische Festsetzung tritt dann außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt und wenn diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient. Entscheidend ist, ob die jeweilige Festsetzung noch geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung i.S. des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplanes einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Keinesfalls tritt ein Bebauungsplan bereits deshalb ganz oder teilweise wegen Funktionslosigkeit außer Kraft, wenn auf einer Teilfläche eine singuläre planwidrige Nutzung entstanden ist (so BVerwG im Fall eines in einem Gewerbegebiet genehmigten Einrichtungshauses mit einer Verkaufsfläche von 13.000 m2 mit Beschluss vom 21.12.1999 - 4 BN 48.99 - NVwZ-RR 2000, 411; ferner BVerwG, Beschluss vom 3.12.1998 - 4 CN 3.97 - DVBl. 1999, 786 = BVerwGE 108, 71).
...
Allerdings hat die Berufung der Beklagten nicht in voller Höhe der Beitragsforderung von 341.331,06 DM Erfolg.
Die Erschließungsbeitragsforderung ist insoweit herabzusetzen, als die Beklagte auch einen Artzuschlag (Multiplikator 2) für die gewerbliche Nutzung des Grundstücks des Klägers erhoben hat, mithin nach der von der Beklagten im Berufungsverfahren vorgelegten Hilfsberechnung vom 5. Juli 2000 auf 248.999,69 DM. Zur Zulässigkeit eines Artzuschlages wegen gewerblicher Nutzung hat das BVerwG in seinem Urteil vom 23.1.1998 (8 C 12.96 - DVBl. 1998, 715 = KStZ 1999, 18 = NVwZ 1998, 1188 = BVerwGE 106, 147) wie folgt Stellung genommen: "Die Erhebung eines grundstücksbezogenen Artzuschlages wegen gewerblicher Nutzung eines im qualifiziert beplanten Wohngebiet gelegenen, doppelt erschlossenen Grundstücks ist ausnahmsweise dann unzulässig, wenn der durch die gewerbliche Nutzung verursachte Ziel- und Quellverkehr nicht über die abzurechnende, sondern ausschließlich über die andere Anbaustraße abgewickelt wird und ohne Veränderung der für die Gemeinde eindeutig erkennbaren tatsächlichen Verhältnisse auf dem Grundstück auch nur abgewickelt werden kann". Für das Bundesverwaltungsgericht war dabei maßgeblich, dass ein Artzuschlag dann nicht erhoben werden kann, wenn der mit der gewerblichen oder gewerbeähnlichen Tätigkeit typischerweise verbundene Verkehr - aus der Sicht der abzurechnenden Anliegerstraße - gänzlich unterbleibt. Denn in diesen Fällen sei der Anknüpfungspunkt für den Artzuschlag, der durch die gewerbliche Nutzung vermehrte Vorteil des Grundstückseigentümers, gerade nicht gegeben. Nach diesen Grundsätzen, die auch nicht von der Beklagten in Frage gestellt werden, ist der vom Kläger zu zahlende Erschließungsbeitrag auf den oben angeführten Betrag herabzusetzen.
Dem Kläger kommt ferner die in § 9 Abs. 2 der Erschließungsbeitragssatzung der Beklagten geregelte Eckgrundstücksvergünstigung zugute. Entsprechend der zweiten Hilfsberechnung der Beklagten reduziert sich die Beitragsforderung weiterhin auf 229.370,57 DM. § 9 Abs. 2 regelt insoweit Folgendes:
"Werden sie (die Grundstücke) im Zeitpunkt der Entstehung der Beitragspflicht ausschließlich für Wohnzwecke genutzt oder sind sie - wenn sie noch unbebaut sind - zu diesem Zeitpunkt ausschließlich für Wohnzwecke bestimmt, so werden höchstens 900 qm ihrer Grundstücksfläche im Sinne von § 8 Abs. 2 für jede der beitragsfähigen Erschließungsanlagen nur zu 2/3 des auf diese Teilfläche bezogenen Verteilerwertes (Summe aus Grundstücks- und Geschoßfläche oder Grundstücksfläche) in Ansatz gebracht. Für die über 900 qm hinausgehende Fläche bleibt es bei der Regelung in Abs. 1."
Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung kommt dem Kläger die Eckgrundstücksvergünstigung nicht zugute. Sein Grundstück wird gerade nicht "ausschließlich für Wohnzwecke genutzt" (vgl. zur Zulässigkeit einer derartigen Beschränkung der Eckgrundstücksvergünstigung BVerwG, Urt. v. 13.8.1976 - IV C 23.74 -, BRS 37 Nr. 142 = Buchholz 406.11 § 132 BBauG Nr. 21). Gleichwohl muss auch insoweit die im Bebauungsplan Nr. 152 A aufgenommene Festsetzung "allgemeines Wohngebiet" maßgeblich sein. Richtet sich die Beantwortung der Frage, welche Anforderungen an die Erreichbarkeit eines Grundstücks zu stellen sind, im Wesentlichen nach dem Bebauungsrecht, wäre es widersprüchlich, die Frage der Anwendbarkeit der in der Erschließungsbeitragssatzung aufgenommenen Eckgrundstücksvergünstigung wiederum von anderen Kriterien abhängig zu machen.