Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 18.03.2008, Az.: L 11 AY 82/07 ER
Rechtmäßigkeit der Rückstufung auf das Leistungsniveau nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG); Geltendmachung von Leistungen nach dem AsylbLG im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes; Zulässigkeit der Anrechnung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) und nach § 2 Abs. 1 AsylbLG auf die 48-monatige "Wartefrist" i.S.v. § 2 Abs. 1 AsylbLG
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 18.03.2008
- Aktenzeichen
- L 11 AY 82/07 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 14515
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2008:0318.L11AY82.07ER.0A
Verfahrensgang
Rechtsgrundlagen
- § 2 Abs. 1 AsylbLG
- § 3 AsylbLG
- § 86b Abs. 2 S. 2 SGG
Hinweis
Hinweis: Verbundenes Verfahren
Verbundverfahren:
LSG Niedersachsen - 18.03.2008 - AZ: L 11 B 52/07
Tenor:
Der Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 30.Oktober 2007 wird geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zum Abschluss des Klagverfahrens Leistungen gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG ab 13. Februar 2008 unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen zu gewähren. Im Übrigen werden die Beschwerden zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt H. aus I. für das Beschwerdeverfahren bewilligt. Ratenzahlung wird nicht angeordnet.
Gründe
I.
Im Beschwerdeverfahren ist die Herabstufung von Leistungen gem. § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) nur noch für den Antragsteller aufgrund der zum 28. August 2007 erfolgten Gesetzesänderung im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes streitig.
Der Antragsteller (im erstinstanzlichen Verfahren zu 4.) wurde am K. in L. am Harz geboren. Die unverheiratete Mutter (vormals Antragstellerin zu 1.) reiste mit dem Kindesvater und zwei weiteren minderjährigen Kindern (letztere vormals Antragsteller zu 2. und 3.) am 11. Februar 2002 in die Bundesrepublik ein. Die Familie hat die irakische Staatsangehörigkeit und die kurdische Volkszugehörigkeit. Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte und Folgeanträge blieben erfolglos (vgl. zuletzt Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. Juni 2007; derzeit anhängig beim Verwaltungsgericht I., Az: M.). Das Asylerstverfahren des Antragstellers ging ebenfalls erfolglos aus (vgl. Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 27. April 2004). Der Aufenthalt des Antragstellers in der Bundesrepublik wird fortlaufend geduldet. Der in familiärer Gemeinschaft lebende Vater des Antragstellers ist seit 1. Oktober 2007 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz und einer Arbeitserlaubnis. Bis dahin war er nach erfolglosem Asylverfahren ebenfalls geduldet. Seit 1. Oktober 2007 bezieht der Vater Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Seit 18. Februar 2002 bezogen die Eltern und Geschwister des Antragstellers Leistungen gemäß § 3 AsylbLG. Am 18. Februar 2005 wurden diese Leistungen für den Antragsteller und seine Familie fehlerhaft (vgl. Vermerk des Antragsgegners vom 12. Oktober 2007) auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) umgestellt. Bis 30. Juni 2005 stand die Familie im Leistungsbezug nach dem SGB II. Ab 1. Juli 2005 wurde der Leistungsbezug korrigiert und der Antragsteller und seine Familie bezogen Leistungen gemäß § 2 AsylbLG (vgl. Bewilligungsbescheid vom 22. Juni 2005). Dieser Leistungsbezug dauerte bis 30. September 2007 an (vgl. zuletzt Bewilligungsbescheid vom 22. Juni 2007).
Mit Bescheid vom 18. September 2007 hob der Antragsgegner den Bescheid vom 22. Juni 2007 für die Zeit ab 1. Oktober 2007 auf. Der Bescheid war nur an den Vater des Antragstellers adressiert. Als Grund der Umstellung wurde die durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union ab 28. August 2007 erfolgte Gesetzesänderung benannt, wonach Leistungen gemäß § 2 AsylbLG nunmehr nach einem 48-monatigen Bezug von Leistungen gemäß § 3 AsylbLG beansprucht werden könnten. Diese Voraussetzungen lägen nicht vor. Es handele sich um eine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), so dass der Bescheid vom 22. Juni 2007 mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben sei. Mit Bescheid vom 1. Oktober 2007 änderte der Antragsgegner den Bescheid vom 18. September 2007 dahingehend ab, dass der Vater des Antragstellers aus dem Leistungsbezug nach dem AsylbLG heraus fiel. Ab 1. Oktober 2007 wurde ihm aufgrund des veränderten Aufenthaltsstatus Leistungen nach dem SGB II bewilligt (Bescheid vom 2. Oktober 2007). Mit Bewilligungsbescheid vom 1. Oktober 2007 wurden dem Antragsteller, seiner Mutter und den minderjährigen Geschwistern ab diesem Tag Leistungen gemäß § 3 AsylbLG gewährt. Unter dem 17. Oktober 2007 ordnete der Antragsgegner den Sofortvollzug des Bewilligungsbescheides vom 1. Oktober 2007 an. Zur Begründung führte der Antragsgegner aus, dass das fiskalische Interesse am rechtmäßigen Vollzug der Gesetzesänderung höherrangig zu bewerten sei, als die vorläufige Weiterzahlung erhöhter Leistungen nach dem AsylbLG. Der gegen den Bescheid vom 1. Oktober 2007 eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 7. November 2007). Am 31. Oktober 2007 hat der Antragsteller beantragt, den Sofortvollzug aufzuheben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruches vom 3. Oktober 2007 gegen den Bescheid "vom 30. September 2007" (zutreffend: vom 1. Oktober 2007) wiederherzustellen.
Der Antragsteller, seine Mutter und minderjährigen Geschwister haben am 5. Oktober 2007 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht (SG) Hildesheim beantragt. Sie haben die Auffassung vertreten, dass die Rückstufung auf das Leistungsniveau nach § 3 AsylbLG zu Unrecht erfolgt sei. Sie haben sich auf erst- bzw. zweitinstanzliche Rechtsprechung dafür berufen, dass eine Anrechnung von anderen Sozialleistungen bei der Berechnung des 48-monatigen Bezugs von Leistungen nach § 3 AsylbLG im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG rechtens sei.
Mit Beschluss vom 30. Oktober 2007 hat das SG Hildesheim den Antragsgegner verpflichtet, der Mutter und den Geschwistern des Antragstellers vorläufig Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG weiter zu gewähren. Den Erlass einer einstweiligen Anordnung in Bezug auf den Antragsteller hat es abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass vorläufiger Rechtschutz über eine Regelungsanordnung im Sinne von § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zu erreichen sei, weil ein Widerspruch gegen den Aufhebungsbescheid vom 18. September 2007 nicht eingelegt worden sei, so dass ein Leistungsbezug gemäß § 2 AsylbLG nicht allein mit der Beachtung der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des gegen diese Entscheidung (nicht) eingelegten Widerspruchs zu erreichen sei. Die Mutter und Geschwister des Antragstellers hätten einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht. Der Ausgang des Rechtsstreites in der Hauptsache sei als offen anzusehen. Den Antragstellern stünden im Rahmen einer Folgenabwägung vorläufig weiterhin Leistungen auf Sozialhilfeniveau zu. In der Rechtsprechung sei es umstritten, ob andere Sozialleistungen, wie etwa nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) oder dem Zehnten Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) auf die gem. § 2 AsylbLG maßgebliche Frist von vormals 36 bzw. jetzt 48 Monate anzurechnen seien. Bislang habe sich das SG Hildesheim nicht dem weiten Verständnis, wie es dem Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. April 2006, Az: L 20 B 10/06 AY ER, oder dem Beschluss des Landessozialgerichts Hessen vom 21. März 2007, Az: L 7 AY 14/06 ER, zugrunde gelegen habe, anschließen können. Eine abschließende Beurteilung der Rechtslage sei in dem summarischen Verfahren weder möglich noch erforderlich. Der Gesetzgeber habe mit der Einführung von § 2 Abs. 1 AsylbLG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 28. August 2007 keine Übergangsregelung für den hier betroffenen Personenkreis vorgesehen, der bereits vor der Gesetzesänderung im jahrelangen Bezug von Leistungen auf Sozialhilfeniveau gestanden habe. Auch der Gesetzesbegründung sei nicht zu entnehmen, wie solche Übergangsfälle zu behandeln seien. Dort habe der Gesetzgeber lediglich auf eine tatsächliche Aufenthaltsdauer von 4 Jahren in der Bundesrepublik abgestellt und diese Aufenthaltsdauer in den Zusammenhang mit der gesetzlichen Altfallregelung in § 104 a Aufenthaltsgesetz und der Änderung von § 10 der Beschäftigungsverfahrensordnung gestellt. Angesichts der unzulänglichen Gesetzesbegründung käme entweder eine ergänzende Auslegung oder eine planwidrige Regelungslücke für jenen Personenkreis in Betracht, der bereits die 36-Monatsfrist im Sinne von § 2 AsylbLG a.F. erfüllt habe, um diesen Personenkreis nicht erneut auf die nunmehr verlängerte 48-Monatsfrist zu verweisen. Insofern teile das Gericht nicht die im Erlass des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 4. September 2007 (Az: 41.22-12235-8.4.2) vertretene Auffassung, dass eine Anrechnung anderer Sozialleistungen für die Frist im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG den Zweck der Vorschrift "konterkarieren" würde. Im Rahmen der zu treffenden Folgenabwägung seien die Interessen der Antragsteller vorrangig zu berücksichtigen. Die in Rede stehenden Leistungen sicherten die Existenz eines menschenwürdigen Lebens. Eine Zurückstufung bürge die Gefahr, dass bereits tatsächlich erzielte Integrationserfolge wieder beseitigt werden könnten, wenn anstelle von Geldleistungen nunmehr wieder Wertgutscheine verwendet würden. Dahinter müsse das fiskalische Interesse des Antragsgegners am sparsamen Einsatz öffentlicher Mittel zurückstehen.
Ungeachtet dieser Rechtslage könne der Antragsteller bereits angesichts seines jungen Lebensalters die 48-monatige Wartefrist nicht erfüllen, da er erst am 13. Februar 2008 das 4. Lebensjahr vollendet habe, so dass er frühestens ab diesem Zeitpunkt die streitigen Leistungen beanspruchen könne.
Am 12. November 2007 hat lediglich der Antragsteller Beschwerde gegen den Beschluss des SG Hildesheim eingelegt. Zur Begründung führt der Antragsteller aus, dass er sich nach Ablauf der 36-Monatsfrist im Sinne von § 2 AsylbLG a.F. auf Bestandsschutz berufen könne. Die Rückstufung der Leistungen stelle eine nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) unzulässige echte bzw. unechte Rückwirkung dar. Die leistungsrechtliche Besserstellung nach Ablauf von 36 Monaten sei Ausdruck eines erhöhten Integrationsbedarfes. Dieser Prozess sei bei dem Antragsteller abgeschlossen gewesen. Der Gesetzgeber habe eine Übergangsregelung für diesen Personenkreis treffen müssen. Der Antragsgegner beruft sich auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden und meint, dass eine Verfassungswidrigkeit nicht vorliege, weil es sich um bedarfsabhängige Fürsorgeleistungen handele, die nicht der Eigentumsgarantie im Sinne von Artikel 14 des Grundgesetzes (GG) unterlägen. Da die Gesetzesänderung nicht rückwirkend in Kraft getreten sei, fänden Gesichtspunkte des Vertrauens bzw. Bestandschutzes keine Anwendung.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die erst- und zweitinstanzliche Prozessakte und auf Auszüge der Ausländerakten des Antragstellers Bezug genommen. Sie sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
II.
Die gemäß §§ 172 ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde ist teilweise begründet. Dem Antragsteller stehen aller Voraussicht nach Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG mit Vollendung des 4. Lebensjahres zu. Insofern war der Beschluss des SG Hildesheim abzuändern und der Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, Leistungen auf Sozialhilfeniveau ab dem 13. Februar 2008 zu gewähren. Im Übrigen waren die Beschwerden zurückzuweisen, soweit der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung vor diesem Zeitraum und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren begehrt.
Das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers war über den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG zu erreichen. Die am 17. Oktober 2007 angeordnete sofortige Vollziehung bezog sich lediglich auf den Bescheid vom 1. Oktober 2007, nicht aber gegen den offenbar bestandskräftigen Aufhebungsbescheid vom 18. September 2007. Der Bescheid vom 1. Oktober 2007 ist ein leistungsbewiligender Bescheid, so dass sich das Begehren in der Hauptsache nicht lediglich auf eine Anfechtungsklage erstreckt.
Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruches, die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist, sowie des Anordnungsgrundes - die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung - sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG, § 920 Abs. 3 Zivilprozessordnung - ZPO -). Steht dem Antragsteller ein von ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist ihm nicht zuzumuten den Ausgang des Verfahrens abzuwarten, hat der Antragsteller vorläufig Anspruch auf die beantragte Leistung im Wege des einstweiligen Rechtschutzes.
Dies zugrunde gelegt, hat der Antragsteller die Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch auf Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG in Verbindung mit den Regelungen des SGB XII ab Vollendung des 4. Lebensjahres (13. Februar 2008) hinreichend glaubhaft gemacht.
Vorliegend ist § 2 Abs. 1 AsylbLG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (Artikel 6 Abs. 2 Nr. 2, BGBl. I 1970, 2007) anzuwenden. Mangels Übergangsvorschrift ist das Gesetz am Tag nach der Verkündung des Gesetzes am 28. August 2007 in Kraft getreten (Artikel 10 Abs. 1, BGBl. I 1970, 2114). Gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG ist das SGB XII abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Minderjährige Kinder, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Haushaltsgemeinschaft leben, erhalten Leistungen nach Abs. 1 nur, wenn mindestens ein Elternteil in der Haushaltsgemeinschaft Leistungen nach Abs. 1 erhält (§ 2 Abs. 3 AsylbLG).
Der Antragsteller unterfällt dem Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG, nicht dagegen von § 1 Abs. 1 Nr. 7 AsybLG, weil letztere Vorschrift nur bis zum Ergehen der Entscheidung des Bundesamtes über den Folgeantrag gilt (vgl. GK- AsylbLG § 1 RdNr. 101). Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller oder seine Eltern die Aufenthaltsdauer in der Bundesrepublik rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben könnten.
Im Streit steht, ob der Antragsteller die seit 28. August 2007 gültige zeitliche Voraussetzung des 48-monatigen Bezugs von Leistungen "nach § 3 AsylbLG" erfüllt. Unter Anrechnung des vorangegangenen Bezugs von Leistungen nach dem SGB II und nach § 2 Abs. 1 AsylbLG erfüllt der Antragsteller diese Voraussetzungen aller Voraussicht nach mit Vollendung des 4. Lebensjahres.
Zwar hat der Antragsteller weder am 28. August 2007 noch bei Eingang des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung am 5. Oktober 2007 über einen Zeitraum von 48 Monaten Leistungen gemäß § 3 AsylbLG bezogen. Denn vom Tag seiner Geburt an (13. Februar 2004) bis lediglich zum 17. Februar 2005 bezog der Antragsteller Leistungen nach § 3 AsylbLG; im Zeitraum vom 18. Februar 2005 bis 30. Juni 2005 (fehlerhaft) Leistungen nach dem SGB II und schließlich vom 1. Juli 2005 bis 30. September 2007 - während des Zeitraumes vom 1. Juli 2005 bis 13. Februar 2007 ebenfalls fehlerhaft - Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG.
Der Anrechnung von Leistungen nach dem SGB II und nach § 2 Abs. 1 AsylbLG auf die 48-monatige "Wartefrist" i.S.v. § 2 Abs. 1 AsylbLG steht weder der Wortlaut von § 2 Abs. 1 AsylbLG entgegen noch "konterkariert" die Anrechnung dieser Zeiten entgegen der Auffassung des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport den Zweck der Vorschrift. § 2 Abs. 1 AsylbLG - auch in der Vorläufervorschrift - ist einer erweiternden Auslegung zugänglich. Schon vor der hier maßgeblichen Gesetzesänderung stand im Streit, ob der Bezug von anderen Sozialleistungen wie etwa nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG), nach dem SGB II oder dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) auf die "Wartefrist" i.S.v. § 2 Abs. 1 AsylbLG a.F. anzurechnen war (vgl. Senatsbeschlüsse vom 12. Juni 2007, L 11 AY 84/06 ER; vom 19. Juni 2007, L 11 AY 43/06 ER beide zu den Aufenthaltsberechtigten gem. § 25 Abs. 5 AufenthG, die erstmals aufgrund der zum 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Änderung von § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG in den Kreis der Leistungsberechtigten aufgenommen worden sind und die bis dahin Leistungen nach BSHG, SGB XII bzw. SGB II bezogen hatten; vgl. Hachmann/Hohm, NVwZ 2008, 33, 35 m.w.N. für die obergerichtliche Rspr zu § 2 AsylbLG aF; vgl. Fasselt in Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, 3. Auflage § 2 AsylbLG a.F. Rdnr 2 m.w.N. für die Lit.). Es wäre dem Gesetzgeber unbenommen gewesen, durch einen klarstellenden Zusatz in § 2 Abs. 1 AsylbLG n.F. wie etwa "nur" oder "ausschließlich" vor "Leistungen nach § 3 erhalten haben" deutlich zu signalisieren, dass eben nur solche Leistungen "nach § 3" zu berücksichtigen sind. Da eine solche Eindeutigkeit dem Gesetzestext fehlt, ist der Wortlaut von § 2 Abs. 1 AsylbLG im Rahmen der anerkannten Auslegungsmethoden einer erweiternden Auslegung (sog. teleologische Extension) zugänglich. Denn die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz (Artikel 20 Abs. 3 und Artikel 97 Abs. 1 des Grundgesetzes -GG-) bedeutet nicht etwa die Bindung an den Buchstaben des Gesetzes mit dem Zwang zur wörtlichen Auslegung, sondern vielmehr das Gebundensein an den Sinn und Zweck der Vorschrift, der mit den herkömmlichen Auslegungsmethoden zu ermitteln ist (vgl. BVerfGE 35, 263, 279).
In der hier nur summarisch vorzunehmenden Prüfung erweist sich die Anrechnung des Bezugs von Leistungen nach dem SGB II und nach § 2 Abs. 1 AsylbLG als eine dem Zweck des Gesetzes entsprechende Auslegung, ohne der Norm einen entgegengesetzten Sinn zu verleihen, der mit dem gesetzgeberischen Ziel nicht mehr in Einklang zu bringen wäre. Denn dann wäre zweifelsohne die Grenze einer zulässigen Auslegung überschritten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. April 1997, Az.: 1 BvL 11/96, NJW 1997, 773). Eine solche Überschreitung liegt nach summarischer Überprüfung offensichtlich nicht vor.
Auch unter Heranziehung der Gesetzesmaterialien ergibt sich kein der erweiternden Auslegung entgegenstehender oder mit ihr unvereinbarer Zweck. Die Gesetzesmaterialien zu § 2 AsylbLG rechtfertigen die Anhebung auf 48 Monate mit einer Angleichung von Regelungen im AufenthG (§ 104a) und einer Änderung der Beschäftigungsverfahrensordnung (§ 10), die nach Ablauf von 4 Jahren einen gleichrangigen Arbeitsmarktzugang für Geduldete gewähren. Damit soll eine "einheitliche Stufung nach vier Jahren eingeführt" werden (vgl. BT- Drs. 16/5065, S. 232 zu § 2). Für den Zeitpunkt der Gewährung von Leistungen auf Sozialhilfeniveau wird auf den Grad der zeitlichen Verfestigung des Aufenthalts in der Bundesrepublik abgestellt. Nach einem Voraufenthalt von 4 Jahren sei davon auszugehen, dass eine Aufenthaltsperspektive entstanden sei, die es gebiete, Bedürfnisse anzuerkennen, die auf eine bessere soziale Integration gerichtet seien (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 232 zu § 2).
Die Gesetzesmaterialien legen es nahe, in erster Linie an die Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik von 48 Monaten anzuknüpfen, um den erhöhten Integrationsbedarf auf Sozialhilfeniveau für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG jetzt erstmals anzuerkennen. Nach Ablauf dieses Zeitraumes soll die Existenz auf dem Niveau reduzierter Leistungen gem. § 3 AsylbLG regelmäßig nicht mehr zumutbar sein. Die Anrechnung des Bezugs von Sozialleistungen während des Zeitraumes von 48 Monaten, die den Lebensbedarf auf Sozialhilfeniveau sicherstellen, steht dem in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden Regelungszweck gerade nicht entgegen.
Der Senat interpretiert die zeitlichen Voraussetzungen iSv § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht als reine "Wartefrist", sondern hat darauf abgestellt, dass die Leistungsberechtigten des AsylbLG während des Aufenthalts in der Bundesrepublik auch tatsächlich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes bezogen haben. Deshalb hat der Senat eine Anrechnung von Aufenthaltszeiten auf die "Wartefrist" von § 2 Abs. 1 AsylbLG a.F. bisher nur dann anerkannt, wenn gleichartige Sozialleistungen, wie etwa nach dem BSHG, dem SGB II oder SGB XII tatsächlich bezogen worden sind (vgl. die oben zitierten Senatsbeschlüsse zu § 2 Abs. 1 AsylblG a.F.). Hingegen ist allein die tatsächliche Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik für nicht ausreichend erachtet worden (vgl. Senatsbeschlüsse vom 9. Mai 2007, Az: L 11 AY 58/06 ER und vom 27. März 2007, Az: L 11 B 17/07 AY). Die Gleichartigkeit der vom Antragsteller bezogenen Leistungen nach dem SGB II und nach § 2 Abs. 1 AsylbLG beruht darauf, dass diese Sozialleistungen den für das Existenzminimum notwendigen Lebensbedarf im Rahmen eines beitragsunabhängigen, steuerfinanzierten Fürsorgesystems sicherstellen. Leistungen nach § 3 AsylblG dienen demselben Zweck, wenngleich das Existenzminimum noch auf einem unterhalb der Sozialhilfe liegenden Niveau sichergestellt wird (sog. Grundleistungen). Bei Außerachtlassen der zulässigen Anrechnung gleichartiger Sozialleistungen müsste der Antragsteller ab 1. Oktober 2007 noch über einen erheblichen Zeitraum Leistungen nach § 3 AsylbLG beziehen, da er bislang erst für ca. 12 Monate Leistungen nach § 3 AsylbLG bezogen hat. Die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II erfolgte zudem unzutreffend, weil der Antragsteller als Leistungsberechtigter nach dem AsylbLG vom Leistungssystem des SGB II ausgeschlossen ist (vgl. Eicher/Spellbrink, 2. Aufl., SGB II § 7 RdNr. 20). Dieses behördliche Versehen kann dem Antragsteller nicht zum Nachteil gereichen. Gleiches gilt für die fehlerhafte Bewilligung von Leistungen gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG während des Zeitraumes vor der Vollendung des 3. Lebensjahres, da der Antragsteller die "Wartefrist" von 36 Monaten nach alter Rechtslage nicht erfüllt hat. Ohne Anrechnung gleichartiger Sozialleistungen käme der Antragsteller erst weit nach Ablauf einer Aufenthaltsdauer von 48 Monaten in den Genuss höherwertiger Leistungen auf Sozialhilfeniveau. Eine solche Intention steht den erwähnten Gesetzesmaterialien entgegen.
Da für die in häuslicher Gemeinschaft lebende Mutter des Antragstellers - der Leistungen gem. § 2 AsylblG durch das SG vorläufig zugesprochen worden sind - die Ausführungen zur Anrechnung der Sozialleistungen für dieselben Zeiträume gleichermaßen gelten, sind aller Voraussicht nach auch die Voraussetzungen von § 2 Abs. 3 AsylbLG erfüllt.
Die vom Antragsteller vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken einer echten bzw. unechten Rückwirkung der ohne Übergangsregelung am 28. August 2007 in Kraft getretenen Vorschrift von § 2 Abs. 1 AsylbLG müssen in diesem summarischen Verfahren nicht näher geklärt werden. Ob dem Antragsteller voraussichtlich auch Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG im Zeitraum vom 1. Oktober 2007 bis zur Vollendung des 4. Lebensjahres zustehen, weil er einen etwaigen Besitzstand bzw. Vertrauensschutz durch Ablauf der 36-monatigen "Wartefrist" i.S.v. § 2 Abs. 1 AsylblG a.F. erlangt hat, bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Vor unzumutbaren Nachteilen ist der Antragsteller durch die Verpflichtung des Antragsgegners zu vorläufigen Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG ab 13. Februar 2008 hinreichend geschützt.
Dem Antragsteller war Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen (§ 73a SGG in Verbindung mit § 114 ff der Zivilprozessordnung - ZPO -).
Im Übrigen waren die Beschwerden zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).