Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 27.03.2008, Az.: L 14 P 6/07
Voraussetzungen einer Gewährung von Härtefallleistungen zusätzlich zu Leistungen entsprechend der Pflegestufe III; Anwendung des § 36 Abs. 4 S. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) auf einen Pflegegeld erhaltenden ausgebildeten Pfleger
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 27.03.2008
- Aktenzeichen
- L 14 P 6/07
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 33579
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2008:0327.L14P6.07.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hildesheim - 11.01.2007 - AZ: S 51 P 37/06
Rechtsgrundlagen
- § 36 Abs. 4 S. 1 SGB XI
- § 37 SGB XI
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 11. Januar 2007 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin beansprucht von der Beklagten die Gewährung von Härtefallleistungen zusätzlich zu Leistungen entsprechend der Pflegestufe III.
Die Klägerin wurde am 26. Juli 1987 mit einer schweren mentalen und motorischen Behinderung geboren. Sie leidet außerdem an einem cerebralen Anfallsleiden (Grand mal) bei Hydrocephalus. Sie bezieht bereits seit Inkrafttreten der gesetzlichen Pflegeversicherung zum 1. April 1995 Leistungen entsprechend der Pflegestufe III. Bereits im Jahr 2001 hatte sie - letztendlich ohne Erfolg - die Gewährung von Härtefallleistungen beantragt. Der Vater der Klägerin ist ausgebildeter Intensivpfleger und inzwischen alleinige Pflegeperson der Klägerin.
Am 8. März 2006 beantragte sie erneut die Gewährung von Härtefallleistungen wegen ihres außergewöhnlich hohen Pflegebedarfs. Mit Bescheid vom 22. März 2006 lehnte die Beklagte diesen Antrag unter Hinweis darauf ab, dass die begehrten Härtefallleistungen dann nicht gewährt werden könnten, wenn Pflegegeld bezogen werde. In ihrem Widerspruch vom 28. März 2006 führte die Klägerin an, die sei der Auffassung, dass das Gesetz insoweit eine Regelungslücke aufweise, die der Gesetzgeber nicht gewollt habe. 665,00 EUR Pflegegeld reichten für eine derart intensive Pflege, wie sie sie benötige - die etwa 20 Std. pro Tag einnehme - nicht aus. In ihrem Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2006 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und führte zur Begründung erneut an, dass Härtefallleistungen nur zusätzlich zu Sachleistungen bzw. zu Kombi-Leistungen oder bei vollstationärer Pflege gewährt werden könnten.
Mit ihrer Klage vom 21. Juni 2006 hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Sie hat zur Begründung u.a. angegeben, dass sie eine besondere Babykost benötige, die zusätzliche Kosten von etwa 400,00 EUR im Monat verursachten, und die eine Verminderung ihrer epileptischen Anfälle bewirke. Sie begehre aufgrund der Härtefallregelung eine Zahlung von weiteren 486,00 EUR monatlich, dieser Betrag ergäbe sich aus der Differenz des Höchstwertes, der für Härtefallleistungen gewährt werde (1.918,00 EUR) und dem für die Pflegestufe III gewährten Betrag für Pflegesachleistungen (1.432,00 EUR). Da ihr Vater ausgebildeter Intensivpfleger sei, erbringe er quasi Sachleistungen.
Mit Urteil vom 11. Januar 2007 hat das Sozialgericht (SG) Hildesheim die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung sog. Härtefallleistungen gemäß § 36 Abs. 1 und Abs. 4 Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Gesetzliche Pflegeversicherung - (SGB XI) habe. Denn danach sei Voraussetzung, dass der nicht stationär untergebrachte Pflegebedürftige Pflegesachleistungen (oder sog. Kombinationsleistungen) erhalte. Dies sei bei der Klägerin indessen nicht der Fall, denn sie erhalte Pflegegeld statt Sachleistungen für die von ihrem Vater durchgeführte Pflege. Bei der Gewährung von Pflegegeld seien Härtefallleistungen vom Gesetzgeber nicht vorgesehen. Entgegen der Auffassung der Klägerin handele es sich dabei auch nicht um eine planwidrige Regelungslücke des Gesetzes. Der Sinn der gesetzlichen Regelung zu den Härtefallleistungen sei darin zu sehen, dass derjenige Pflegebedürftige, der Pflegesachleistungen bzw. solche der vollstationären Pflege in Anspruch nehme, eine erheblich höhere finanzielle Belastung zu tragen habe, als derjenige Pflegebedürftige, der von seinen Angehörigen oder Bekannten gepflegt werde und dafür Pflegegeld beziehe. Auch die von der Klägerin angeführten zusätzlichen Kosten für ihre besondere Ernährung führten nicht zu einer anderen Bewertung. Schließlich sei in der Unterscheidung der Pflege durch Angehörige einerseits und derjenigen durch professionelle Pflegekräfte andererseits keine Ungleichbehandlung zu sehen, denn es handele sich dabei um unterschiedliche Sachverhalte, die der Gesetzgeber auch unterschiedlich regeln dürfe.
Gegen das ihr am 24. Januar 2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 15. Februar 2007 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie Folgendes vor. Ausschließlich von ihrem Vater nehme sie Essen an. Abgesehen davon, dass ein externer Pflegedienst bei ihr schon insoweit auf Probleme bei der Akzeptanz stoße, sei eine solche externe Pflege extrem teuer. Das SG habe in seinen Urteilsgründen verkannt, dass der Vater hier nicht wie jegliche andere Pflegeperson behandelt werden dürfe, vielmehr erbringe er Pflege-Sachleistungen, da er ausgebildeter Intensivpfleger sei. Insoweit bestehe sehr wohl eine Regelungslücke im Gesetz.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 11. Januar 2007 und den Bescheid der Beklagten vom 22. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab März 2006 monatlich weitere 486,00 EUR als Pflegeleistungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes sowie der von den Beteiligten gewechselten Schriftsätze wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die dem Gericht vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zwar zulässig, aber unbegründet. Der Senat hat im Einverständnis mit den Beteiligten über den Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Zu Recht hat das SG Hildesheim mit Urteil vom 11. Januar 2007 die Klage abgewiesen, denn der Bescheid der Beklagten vom 22. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2006 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung zusätzlicher Härtefallleistungen nach § 36 Abs. 4 SGB XI.
Nach dieser Vorschrift können die Pflegekassen in besonders gelagerten Einzelfällen zur Vermeidung von Härten Pflegebedürftigen der Pflegestufe III weitere Pflegeeinsätze bis zu einem Gesamtwert von 1.918,00 EUR monatlich gewähren, wenn ein außergewöhnlich hoher Pflegebedarf vorliegt, der das übliche Maß der Pflegestufe III weit übersteigt. Die Klägerin erhält zwar als Pflegebedürftige Leistungen der Pflegestufe III. Jedoch scheitert die Gewährung der Härtefallleistungen- worauf bereits das SG zutreffend hingewiesen hat - daran, dass die Klägerin Pflegegeld, d.h. eine Geldleistung statt einer Sachleistung erhält. Bereits der Wortlaut des Gesetzestextes bestimmt, dass Härtefallleistungen nur an solche Pflegebedürftige erbracht werden, die - zumindest auch - Sachleistungen (ggf. sog. Kombinationsleistungen) erhalten, denn § 36 SGB XI beschäftigt sich ausschließlich mit den sog. Pflegesachleistungen. Dementsprechend ist in Abs. 4 der genannten Vorschrift von weiteren Pflegeeinsätzen - also Sachleistungen - die Rede. Die Klägerin erhält jedoch keine Sachleistungen von der Beklagten, sondern Pflegegeld für eine selbst beschaffte Pflegekraft im Sinne von § 37 SGB XI.
#Entgegen der Auffassung der Klägerin ist sie auch nicht deshalb ausnahmsweise wie eine Sachleistungsempfängerin zu behandeln, weil die Pflegeperson - ihr Vater - ausgebildeter Intensivpfleger ist. Zwar ist der Klägerin zuzugeben, dass in aller Regel die sog. selbst beschafften Pflegehilfen, für die der Gesetzgeber in § 37 SGB XI das Pflegegeld gewährt, keine professionellen Pfleger, sondern sog. Laien-Pfleger sind. Eine analoge Anwendung von § 36 Abs. 4 Satz 1 SGB XI auf ausgebildete Pfleger, für die Pflegegeld gezahlt wird, ist jedoch aus folgenden Gründen nicht möglich: Zwar mag im vorliegenden Fall eine Regelungslücke vorliegen, was der Senat letztendlich offen lassen konnte. Jedenfalls lassen die gesetzlichen Regelungen des 4. und 7. Kapitels des SGB XI die von der Klägerin begehrte Analogie nicht zu. Das Bundessozialgericht (BSG), dem sich der Senat anschließt, hat dazu ausgeführt (SozR 3-3300 § 38 Nr. 1), dass kein Widerspruch darin liege, dass zwar § 36 Abs. 4 SGB XI zusätzliche Pflegeeinsätze in besonders gelagerten Einzelfällen zur Vermeidung von Härten vorsieht, § 37 SGB XI es bei vergleichbarem Pflegebedarf aber bei dem Pflegegeld der Stufe III belässt. Der Gesetzgeber wollte durch die Härtefallleistungen im Sinne von § 36 Abs. 4 SGB XI diejenigen finanziellen Härten ausgleichen, die dadurch entstehen, dass bei außergewöhnlich hohem Pflegebedarf die familiäre oder ehrenamtliche Pflege nicht ausreicht und die von der Pflegekasse gemäß § 36 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI gewährten Leistungen in Höhe von 1.432,00 EUR die hohen Kosten professioneller Pflegekräfte bald erschöpfen. Pflegebedürftige, deren täglicher Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege nicht nur vier Stunden, sondern fünf oder mehr Stunden umfasst, müssen eigene finanzielle Mittel aufwenden, um diese Pflege durch den Pflegedienst sicherstellen zu lassen (BSG, ebenda). Zwar ist der Klägerin zuzugeben, dass die ihr als Pflegegeld gewährten Leistungen für die Pflegestufe III in Höhe von 665,00 EUR ebenfalls die ihr erbrachten Pflegeleistungen nicht abdecken, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ihr Vater ausgebildeter Intensivpfleger ist. Der Gesetzgeber hat jedoch bei der Gewährung von Pflegegeld keinen Anlass gesehen, dieses Manko durch zusätzliche Geldleistungen auszugleichen, weil er davon ausgegangen ist, dass die Motivation des ehrenamtlichen Pflegers typischerweise nicht auf die Erzielung von Geldzahlungen gerichtet ist. Bei der Pflege durch Verwandte oder Bekannte stellt wesentlich auch die persönliche Beziehung zum Pflegebedürftigen die Grundlage für die Erbringung der Pflegeleistungen dar. Diese Differenzierung stellt auch keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung dar (BSG, ebenda). Sie ist auch der Grund dafür, dass die Beklagte im vorliegenden Fall nicht berechtigt wäre, den Vater der Klägerin durch Abschluss eines Einzelvertrages zu einem Leistungserbringer zu machen. § 77 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz SGB XI schreibt vor, dass Einzelverträge zur Sicherstellung der häuslichen Pflege und hauswirtschaftlichen Versorgung mit Verwandten oder Verschwägerten des Pflegebedürftigen bis zum 3. Grad unzulässig sind. Wenn aber der Gesetzgeber es ausdrücklich ausschließt, dass ein Verwandter des Pflegebedürftigen Leistungserbringer im Rahmen eines Einzelvertrages werden kann, so spricht dies dagegen, ihn einem Leistungserbringer gleichzustellen.
Bei dieser Rechtslage kann es dahinstehen, ob bei der Klägerin die tatsächlichen Voraussetzungen für einen Härtefall vorliegen, d.h., ob bei ihr ein außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand vorliegt, der das übliche Maß der Pflegestufe III weit übersteigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 1 und Abs. 2 SGG liegen nicht vor.