Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 15.06.2004, Az.: 6 B 250/04
Chorea Huntington; Fahreignung; Fahrerlaubnisentziehung; Fahrtauglichkeit; fehlendes Krankheitsbewusstsein; Krankheit; Nervenleiden; schweres Nervenleiden; sofortige Vollziehung
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 15.06.2004
- Aktenzeichen
- 6 B 250/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 50818
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3 Abs 1 StVG
- § 80 Abs 5 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Das Nervenleiden Chorea Huntington führt in aller Regel zum Ausschluss der Fahreignung.
Gründe
I. Der im Jahre 1938 geborene Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen 1 und 2 (alt).
Am 29. November 2000 fiel der Antragsteller mit seiner Fahrweise auf der Bundesstraße B 188 in Richtung Wolfsburg dadurch auf, dass er mit Kopf und Oberkörper starke Körperbewegungen machte und sein Fahrzeug sporadisch in Schlangenlinien auf der Fahrbahn bewegte. Nach den Beobachtungen eines Polizeibeamten geriet er streckenweise auf die Gegenfahrbahn und häufig auch direkt an den rechten Fahrbahnrand. Mithilfe weiterer Polizeibeamten wurde das Fahrzeug gestoppt und der Vorgang dem Antragsgegner zur Überprüfung der Fahreignung mitgeteilt.
Mit Verfügung vom 9. Januar 2001 gab der Antragsgegner dem Antragsteller auf, sich einer amtsärztlichen Untersuchung zur Überprüfung der Fahreignung zu unterziehen. Nach einer Untersuchung vom 10. Mai 2001 teilte der Amtsarzt des Gesundheitsamtes beim Landkreis Helmstedt dem Antragsgegner mit, dass aus amtsärztlicher Sicht derzeit keine Zweifel an der Fahrtauglichkeit des Antragstellers bestünden. Der Untersuchte habe angegeben, nie krank gewesen zu sein, vor langer Zeit aber einen Knochenbruch am rechten Oberschenkel erlitten zu haben, als dessen Folge er manchmal eine Stand- und Gangunsicherheit habe. Sonstige Erkrankungen, Drogen- und Medikamenteneinnahmen seien verneint worden. Eine psychiatrische Untersuchung habe keinen Anhalt für Denkstörungen, Wahrnehmungsbeeinträchtigungen oder einen körperlichen Befund ergeben. Der Antragsgegner sah infolgedessen von weiteren Maßnahmen ab.
Unter dem 9. Dezember 2003 teilte die Polizeiinspektion Wolfsburg dem Antragsgegner mit, dass der Antragsteller erneut mit einer unsicheren Fahrweise aufgefallen sei. Er sei in Schlangenlinien gefahren und deshalb einer Polizeikontrolle unterzogen worden. Schon vor dem Aussteigen aus dem Fahrzeug und auch danach habe er hektisch seinen Oberkörper bewegt und dabei ständig den Kopf und die Augen verdreht. Unter Alkoholeinfluss habe er nicht gestanden. Es bestünden Zweifel, ob der Antragsteller körperlich in der Lage sei, ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr sicher zu führen.
Auf eine Aufforderung durch den Antragsgegner unterzog sich der Antragsteller einer Untersuchung beim Gesundheitsamt des Landkreises Helmstedt, das ihn zu einer weiteren Untersuchung außerdem noch an den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. in Wolfsburg verwies. Übereinstimmend kamen die Ärzte zu dem Ergebnis, dass beim Antragsteller eine hypoton-hyperkinetische extrapyramidale Bewegungsstörung vorliege (Chorea Huntington), durch die die Fahrtauglichkeit erheblich beeinträchtigt sei. Da der Antragsteller, soweit dies nach einem ersten Gespräch beurteilt werden könne, kein fassbares Krankheitsbewusstsein habe, sich andererseits aus der Diagnose weitreichende Konsequenzen ergäben, sollten weitere Maßnahmen erst nach einer eingehenden stationären Begutachtung unter Einbeziehung einer humangenetischen Diagnostik getroffen werden. Eine erste Familienanamnese habe aber bereits ergeben, dass die Mutter in gleicher Weise erkrankt sei.
Mit Verfügung vom 21. April 2004 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller daraufhin unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Fahrerlaubnis aller Klassen. Hiergegen erhob der Antragsteller am 12. Mai 2004 Widerspruch mit der Begründung, dass der Amtsarzt in der Vergangenheit seine Fahreignung bestätigt habe. Eine Überprüfung seiner Fahrleistung sei nicht erfolgt. Er habe auch noch keinen Unfall verursacht oder andere Verkehrsteilnehmer gefährdet.
Am 12. Mai 2004 hat der Antragsteller außerdem beim Verwaltungsgericht um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Zur Begründung trägt er vor:
Seit der amtsärztlichen Untersuchung aus dem Jahr 2000 habe sich sein Gesundheitszustand nicht verschlechtert. Gleichwohl sei eine weitere amtsärztliche Untersuchung zu dem Ergebnis gelangt, dass seine Fahreignung nicht gegeben sei. Ohne eine weitere Klärung der Eignungsfrage habe der Antragsgegner sogleich die Fahrerlaubnis entzogen. Die Behörde habe insbesondere unberücksichtigt gelassen, dass sich die festgestellte Chorea Huntington bei affektiver Erregung ganz erheblich steigere, wie dies bei einer Polizeikontrolle oder bei dem Behördenbesuch der Fall gewesen sei. Beim Führen eines Kraftfahrzeugs in gewohnter Umgebung seien die Krankheitsmerkmale deutlich geringer. Er falle zwar gelegentlich wegen hektischer Bewegungen auf; zu Gefährdungen des Straßenverkehrs sei es dabei aber nicht gekommen. Für Fahrten zum Arzt, zur Apotheke, zur Post, zur Bank und zum Einkaufen sei er auf sein Fahrzeug angewiesen.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Fahrerlaubnisentziehungsverfügung des Antragsgegners vom 21. April 2004 wiederherzustellen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er entgegnet:
Während nach dem Polizeibericht vom November 2000 eine amtsärztliche Untersuchung keine Anhaltspunkte für eine fehlende Fahreignung ergeben habe, sei der Antragsteller nach den erneuten Auffälligkeiten vom Gesundheitsamt außerdem an einen Neurologen verwiesen worden. Dieser habe übereinstimmend mit dem Gesundheitsamt eine Krankheit festgestellt, durch die die Fahreignung erheblich beeinträchtig sei. Aus Gründen der Verkehrssicherheit und wegen der Eilbedürftigkeit sei verzichtet worden, außerdem noch die Beibringung eines fachärztlichen Gutachtens, das nur negativ hätte ausfallen können, anzuordnen. Bei diesem Krankheitsbild würden die Nervenbahnen, mit denen Signale an die Muskulatur weitergeleitet würden, im Laufe von Jahren und Jahrzehnten zunehmend funktionsunfähig. Auch ein erhebliches Nachlassen der Hirnleistungsfähigkeit und vorübergehende schwere seelische Störungen könnten eintreten. Der Antragsteller habe sich bei den persönlichen Gesprächen mit der Behörde in Bezug auf seine Erkrankung uneinsichtig gezeigt und eine ärztliche Untersuchung abgelehnt. Im Interesse der Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer habe die Fahrerlaubnis mit sofortige Wirkung entzogen werden müssen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.
II. Der zulässige Antrag ist nicht begründet.
Nach § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen eine Verfügung, mit der die Fahrerlaubnis entzogen worden ist, grundsätzlich aufschiebende Wirkung, sofern nicht die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde besonders angeordnet wird. Eine solche Vollziehungsanordnung setzt zu ihrer Rechtswirksamkeit voraus, dass ohne sie das öffentliche Interesse in schwerwiegender Weise beeinträchtigt würde, sodass demgegenüber die privaten Interessen des von der Vollziehungsanordnung Betroffenen zurücktreten.
Ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung, mit der die Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 StVG entzogen worden ist, ist regelmäßig anzunehmen, wenn sich die an der Fahreignung des Betroffenen bestehenden Zweifel so weit verdichtet haben, dass die ernste Besorgnis gerechtfertigt erscheint, er werde andere Verkehrsteilnehmer in ihrer körperlichen Unversehrtheit oder in ihrem Vermögen ernstlich gefährden, wenn er bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung weiterhin am motorisierten Straßenverkehr teilnimmt (Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 3. Aufl., Rn 1108 m.w.N.). Eine solche Gefahr für die Allgemeinheit ist insbesondere dann anzunehmen, wenn besondere Umstände eine Gefährlichkeit gegenwärtig begründen, die im Wege der Abwägung zu Lasten der Allgemeinheit und damit im öffentlichen Interesse nicht hingenommen werden kann.
Diese Voraussetzungen sind hier in Anbetracht der bisher vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen zu dem diagnostizierten Krankheitsbild einer Chorea Huntington gegeben. Bei einer solchen Krankheit handelt es sich um ein schweres Nervenleiden (vgl. hierzu: OLG Frankfurt, Urt. vom 07.06.1995, 23 U 126/94, ZFSch 1997, 225), durch das die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Sowohl das Gesundheitsamt des Landkreises Helmstedt als auch der Facharzt Dr. B. haben festgestellt, dass der Antragsteller unter einer derartigen extrapyramidalen Erkrankung leidet. Die außerdem vorgenommene Beurteilung, dass die Fahrtauglichkeit des Antragstellers hierdurch erheblich eingeschränkt sei, entspricht den diesbezüglichen Erkenntnissen in den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (vgl. hierzu: Schubert/Schneider/Eisenmenger/Stephan, Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung, Kommentar, Januar 2002, Nr. 3.9.3). Danach führt eine solche Erkrankung zum Ausschluss der Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 2 (u.a. solche der Klasse 2/alt). Die Fähigkeit, Fahrzeuge der Gruppe 1 sicher zu führen, ist nur bei einer erfolgreichen Therapie oder in leichteren Fällen der Erkrankung gegeben.
Im Rahmen dieses Verfahrens zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes kann ohne eine eingehende zusätzliche Begutachtung durch einen Facharzt für Neurologie und Psychiatrie mit verkehrsmedizinischer Qualifikation nicht angenommen werden, dass hier lediglich ein leichter Fall dieser Erkrankung vorliegt und zumindest in Bezug auf Fahrzeuge der Gruppe 1 die Fahrerlaubnis des Antragstellers nicht ausgeschlossen ist. Dies bedarf erforderlichenfalls im Rahmen des Widerspruchsverfahrens einer weiteren Klärung. Im Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes folgt das Gericht der Annahme der hierzu beteiligten Ärzte, dass wegen der durch die Krankheit bedingten plötzlich auftretenden und unwillkürlichen Bewegungen von Extremitäten oder Rumpf nach der gegenwärtigen Einschätzung ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr vom Antragsteller nicht mehr verkehrssicher gefahren werden kann. Das von den Ärzten außerdem festgestellte fehlende Krankheitsbewusstsein des Antragstellers macht in Anbetracht der mit dem Krankheitsbild verbundenen Gefährdungslage für andere Verkehrsteilnehmer einen sofortigen Ausschluss des Antragstellers vom Straßenverkehr umso dringlicher.
Dem vom Antragsteller erhobenen Einwand, dass eine frühere medizinische Untersuchung einen Fahreignungsausschluss nicht ergeben habe, misst das Gericht eine maßgebliche Bedeutung nicht zu. Diese erste Untersuchung durch das Gesundheitsamt des Landkreises Helmstedt war ausweislich der vom Amtsarzt beschriebenen Untersuchung offenkundig nur oberflächlich durchgeführt worden. Hierbei hatte sich der Amtsarzt weitgehend auf die Angaben des Antragstellers verlassen, ohne diese in Bezug auf die von der Polizei und dem Antragsgegner mitgeteilten Beobachtungen über die Verhaltensauffälligkeiten des Antragstellers zu hinterfragen. Die aus Anlass der erneuten Verkehrsauffälligkeit durchgeführten weiteren Untersuchungen des Antragstellers haben zu einer präziseren Diagnose der Erkrankung geführt.
Schließlich rechtfertigen weder der Umstand, dass es bisher infolge der Erkrankung des Antragstellers zu einem Unfall noch nicht gekommen ist, noch die mit einer Entziehung der Fahrerlaubnis verbundenen Erschwernisse bei den Einkaufsfahrten des Antragstellers ein Belassen der Fahrerlaubnis bis zur endgültigen gerichtlichen Klärung. Zum Schutz anderer Verkehrsteilnehmer hat der Antragsteller derartige Erschwernisse vielmehr hinzunehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf den §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG. Entsprechend der ständigen Rechtsprechung der Kammer bemisst sich der Streitwert auf die Hälfte des in einem Hauptsacheverfahren anzunehmenden Wertes, wenn eine Fahrerlaubnis der Klassen 2 und 1 im Streit ist (6.000,00 € + 2.000,00 € = 8.000,00 €).