Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 07.06.2004, Az.: 5 A 398/02

Asyl; Bescheidungsurteil; Ermessen; Folgeantrag; Posttraumatische Belastungsstörung

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
07.06.2004
Aktenzeichen
5 A 398/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50432
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bescheidungsurteil bei fehlerhafter Ermessensentscheidung über das Wiederaufgreifen des Verfahrens bei krankheitsbedingter Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG.

Tenor:

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 28. November 2002 verpflichtet, erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts im Ermessenswege gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG zu entscheiden, ob es die bestandskräftige Entscheidung im Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 20. September 2001 bezüglich der Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zurücknimmt oder widerruft.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin zu ¾ und die Beklagte zu ¼; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann eine vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festzusetzenden Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

1

Die Klägerin begehrt ihre Anerkennung als Asylberechtigte und Abschiebungsschutz.

2

Die nach ihren Angaben am 8. März 1979 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige mit kurdischer Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit. Sie reiste noch unter dem Geburtsnamen D. zusammen mit ihrem Ehemann, dem Kläger im Verfahren 5 A 292/02, in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 27. August 2001 ihre Anerkennung als Asylberechtigte.

3

Bei der am 29. August 2001 durchgeführten Anhörung trug die Klägerin im Wesentlichen vor, dass sie ein Jahr vor ihrer Ausreise nach Istanbul gegangen sei, um dort ihren Mann zu heiraten. Am 21. März 2001 sei sie und auch ihr Ehemann beim Newrozfest mitgenommen und insgesamt drei Tage und drei Nächte auf der Wache festgehalten worden. Dort sei sie beschimpft, beleidigt und misshandelt worden. Ihr Ehemann sei fast jeden Monat mitgenommen, kurze Zeit festgehalten und dann wieder freigelassen worden. Sie selbst sei nicht mehr festgenommen worden. Sicherheitskräfte seien nur einmal zu ihr gekommen und hätten sie nach dem Aufenthalt ihres Mannes befragt.

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Durch Bescheid vom 20. September 2001 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag der Klägerin ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG nicht vorlägen und forderte die Klägerin unter Abschiebungsandrohung auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen.

5

Die hiergegen am 8. Oktober 2001 eingereichte Klage wurde durch das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 1. Februar 2002 - 5 A 318/01 - abgewiesen, weil das Gericht nicht die Überzeugung von der Wahrheit der Angaben der Klägerin zu ihrem Verfolgungsschicksal habe gewinnen können. Der hiergegen eingereichte Antrag auf Zulassung der Berufung wurde durch den Beschluss des Nds. Oberverwaltungsgerichts vom 12. März 2002 - 11 L 104/02 - zurückgewiesen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Klägerin über keine gesundheitlichen Probleme berichtet.

6

Am 11. Juni 2002 begab sich die Klägerin in ärztliche Behandlung bei der Nervenärztin E. in F. l. Diese bescheinigte mit ärztlichem Attest vom 12. Juni 2002, dass bei der Klägerin eine ausgeprägte posttraumatische Belastungsstörung vorliege. Die Ausländerbehörde des Landkreises Wolfenbüttel schaltete daraufhin ihren Amtsarzt ein, der in seiner amtsärztlichen Stellungnahme vom 15. Oktober 2002 ausführte, dass die Klägerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung infolge der entwürdigenden polizeilichen Behandlung im Heimatland leide. Am 16. Oktober 2002 beantragte sie deshalb beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge erneut ihre Anerkennung als Asylberechtigte, hilfsweise die Feststellung, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen. Zur Begründung reichte sie eine ärztliche Stellungnahme des Nervenarztes und Psychotherapeuten G. vom 8. Oktober 2002 ein, der ausführte, dass er bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung annehme. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Angaben in dieser Stellungnahme (Blatt 5 und 6 der Beiakte A) verwiesen. Des weiteren liegt eine fachärztliche Stellungnahme des leitenden Oberarztes für Neurologie und Psychiatrie des NLK Königslutter vom Oktober 2002 auf der Grundlage der Begutachtung bei einem eineinhalbstündigen Hausbesuch vor. Auf den Inhalt dieser Stellungnahme (Blatt 24 bis 26 der Beiakte A) wird verwiesen.

7

Durch Bescheid vom 28. November 2002 lehnte das Bundesamt die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und außerdem die Abänderung des Bescheides vom 20. September 2001 bezüglich der Feststellung zu § 53 AuslG ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen bezüglich einer posttraumatischen Belastungsstörung wenig aussagekräftig seien. Sollte bei der Klägerin eine Suizidgefahr bestehen, habe dem die zuständige Ausländerbehörde im Rahmen des Vollzugs der Abschiebung ggf. durch Erteilung einer Duldung Rechnung zu tragen.

8

Hiergegen hat die Klägerin am 7. Dezember 2002 den Verwaltungsrechtsweg beschritten und neben der Klage um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Letzterer Antrag wurde durch den Beschluss des erkennenden Gerichts vom 17. Februar 2003 - 5 B 399/02 - abgelehnt.

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Die Klägerin beantragt,

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den Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 28. November 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen sowie festzustellen, dass die Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen.

11

Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

13

Das Gericht hat die in der Sitzungsniederschrift bezeichneten Erkenntnisquellen in der mündlichen Verhandlung zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.

14

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Behördenakte sowie der Gerichtsakte dieses Verfahrens und des Verfahrens 5 B 399/02 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die das Gericht trotz Ausbleibens der Beklagten verhandeln und entscheiden konnte, da es in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen hat (§ 102 Abs. 2 VwGO), hat nur in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg.

16

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte, noch wird sie im Sinne von § 51 Abs. 1 AuslG politisch verfolgt (1.). Auch hat die Klägerin keinen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 53 AuslG vorliegen (2.). Dagegen besteht ein Anspruch darauf, dass die Beklagte erneut im Ermessenswege über das Wiederaufgreifen des Verfahren bezüglich der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG entscheidet (3.).

17

1.) Soweit die Klägerin die Anerkennung als Asylberechtigte bzw. die Feststellung nach § 51 Abs. 1 AuslG begehrt, liegen die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 71 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vor. Insoweit verweist das erkennende Gericht auf die Ausführungen unter II. 1. und 2. im Beschluss vom 17. Februar 2003 - 5 B 399/02 -, an denen es auch nach nochmaliger Prüfung festhält.

18

Soweit die Klägerin ihren auf die Feststellung nach § 51 Abs. 1 AuslG bezogenen Antrag auch in der mündlichen Verhandlung aufrechterhält, weil im noch anhängigen Asylfolgeverfahren ihres Ehemannes (5 A 292/02) eine Bescheinigung eines Ortsvorsteher eingereicht worden ist, wonach der Ehemann vom Staatssicherheitsgericht gesucht werde, rechtfertigt dieses keine andere Entscheidung. Dabei bedarf es keiner abschließenden Entscheidung, ob die Bescheinigung innerhalb der maßgeblichen Dreimonatsfrist auch ausdrücklich im vorliegenden Verfahren zum Gegenstand des Asylfolgeverfahrens hätte gemacht werden müssen. Denn dieses Bescheinigung rechtfertigt auch unter Berücksichtigung einer „sippenhaftähnlichen Gefährdungslage“ bezogen auf die Klägerin nicht die Wiederaufnahme des Verfahrens.

19

Nach ständiger Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts (vgl. etwa: Urt. vom 20.08.2002 - 11 LB 44/02 - unter Hinweis auf die entsprechende Rechtsprechung anderer Obergerichte), der die Kammer nach Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel folgt, kann eine sippenhaftähnliche Gefährdungslage grundsätzlich nur für nahe Verwandte von Personen angenommen werden, die dem führenden Kreis staatsfeindlicher Organisationen angehören bzw. angehört haben oder auf Grund eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens per Haftbefehl gesucht werden, weil sie im Verdacht stehen, die politischen Ziele von militanten staatsfeindlichen Organisationen, insbesondere der PKK, aktiv zu unterstützen. Zu diesem Personenkreis gehört der Ehemann der Klägerin jedoch nicht, selbst wenn man dessen Vortrag im Asylerstverfahren in vollem Umfang als wahr unterstellen würde.

20

2.) Ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens bezüglich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG in unmittelbarer Anwendung des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG besteht ebenfalls nicht. Soweit es Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1 bis 4 AuslG betrifft ist nichts Neues vorgetragen worden. Auch die von der Klägerin vorgetragene und durch ärztliche Stellungnahmen unterstützte Krankheit der Klägerin begründet nicht einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, weil diesbezüglich nicht die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG beachtet wurde (so bereits unter II. 3a im Beschluss vom 17. Februar 2003 - 5 B 399/02). Das erste ärztliche Attest mit dem Befund „posttraumatische Belastungsstörung“ datiert nämlich bereits vom 12. Juni 2002, der Asylfolgeantrag wurde dagegen erst am 16. Oktober 2002 gestellt. Zwar mag es bei Krankheiten im Einzelfall schwierig sein festzustellen, wann die Dreimonatsfrist beginnt, doch bei einer ausdrücklichen Krankheitsdiagnose eines zugelassenen Arztes ist ein Antragsteller gehalten, diese innerhalb von drei Monaten seit ihrer Bekanntgabe in das Verfahren einzuführen.

21

3.) Allerdings hat die Klägerin einen Anspruch nach § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG, nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, ob die bestandskräftige Entscheidung im Bescheid des Bundesamt vom 20. September 2001 bezüglich des Vorliegens von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zurückgenommen oder widerrufen wird. Die Ausführungen unter Nr. 2 des angefochtenen Bescheides vom 28. November 2002 genügen diesen Anforderungen nicht. Die Ermessenserwägungen des Bundesamtes beschränken sich auf folgende Ausführungen:

22

„Gründe, die unabhängig von den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG eine Abänderung der bisherigen Entscheidung zu § 53 AuslG gem. § 49 VwVfG rechtfertigen würden, liegen jedoch ebenfalls nicht vor.“

23

Diese Ermessenserwägungen werden der Situation im vorliegenden Fall nicht gerecht. Zwar ist einzuräumen, dass alle eingereichten ärztlichen Stellungnahmen nicht den anerkannten Maßstäben für die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung genügen, so dass gegenwärtig nicht positiv eine posttraumatische Belastungsstörung angenommen werden kann. Dieses beruht im Wesentlichen darauf, dass die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin zu ihrem Verfolgungsschicksal, die zur Grundlage der Diagnosen gemacht werden, nicht hinterfragt wird, obwohl der vorliegende Fall hierzu hinreichend Anlass gibt. Denn das Bundesamt hat im Bescheid vom 20. September 2001 den asylbegründenden Vortrag der Klägerin als nicht glaubhaft bewertet. Gleiches ist im Urteil des erkennenden Gerichts vom 1. Februar 2002 - 5 A 318/01 - geschehen. Vor diesem Hintergrund kann der jetzige Vortrag nicht unreflektiert zur Grundlage einer ärztlichen Diagnose gemacht werden. Allerdings darf nicht verkannt werden, dass inzwischen neben den wiederholenden Stellungnahmen der behandelnden Ärzte auch Stellungnahmen des Amtsarztes des Landkreises Wolfenbüttel und des leitenden Oberarztes am NLK Königslutter, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, vorliegen, die ebenso eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizieren. Deshalb kann es nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass tatsächlich eine im Heimatland nicht behandelbare erhebliche Krankheit vorliegt, zu der auch eine posttraumatische Belastungsstörung zählen kann (vgl. bereits Ausführungen unter II. 3a des Beschlusses vom 17. Februar 2003 - 5 B 399/02). Diesbezüglich hat das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 19. Mai 2004 (Stand: April 2004) in der Anlage zur medizinischen Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei unter III. 1. ausdrücklich ausgeführt, dass in dem Krankenversorgungssystem in der Türkei, das durch eine Dominanz krankenhausorientierter Betreuung bei gleichzeitigem Fehlen differenzierter ambulanter und komplementärer Versorgungsangebote geprägt ist, die Verweildauer der Patienten aufgrund der verfügbaren Kapazitäten in der Regel auf 3 Monate beschränkt ist und weiterführende Therapien aus fachlichen und finanziellen Gründen nicht immer angeboten werden können. In welchem Umfang für die Betroffenen in der Türkei auch tatsächlich eine therapeutische Weiterbehandlung und eine adäquate Betreuung einer PTBS möglich sind, könne oft nur im Einzelfall, z.B. durch eine ärztliche Stellungnahme, geklärt werden.

24

Da bei dieser Sachlage eine Ermessensreduzierung auf Null nicht angenommen werden kann, führt die fehlerhafte Ermessensausübung im vorliegenden Fall dazu, die Beklagte nach dem allgemeinen Regelwerk des § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO zu verpflichten, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden (vgl. bereits Beschluss vom 17. Februar 2003 - 5 B 399/02 - unter Bezugnahme auf das Urteil vom 6. August 2002 - 5 A 276/00 - sowie Urteil vom 7. Mai 2002 - 5 A 184/01). Im Rahmen der erneut zu treffenden Entscheidung hat die Beklagte der Frage, ob bei der Klägerin tatsächlich eine posttraumatische Belastungsstörung vorliegt, unter Beachtung der Mitwirkungspflichten der Klägerin (§ 15 AsylVfG) einerseits und der allgemeinen Amtsermittlungspflicht andererseits nachzugehen. Hierzu käme die Einholung eines Gutachtens in Betracht, dass den Maßstäben für die Anerkennung der Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung genügt.

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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG.

26

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.