Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 12.05.2003, Az.: 4 A 58/03

Abschiebungshindernis; Aids; extreme allgemeine Gefahrenlage; HIV; Sierra Leone

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
12.05.2003
Aktenzeichen
4 A 58/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 48108
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Eine extreme allgemeine Gefahrenlage, bei der die Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG ausnahmsweise nicht gilt, liegt nicht vor, wenn die mögliche Rechtsgutsverletzung nicht "bald" zu erwarten ist, sondern sich allenfalls an einem in unbestimmter zeitlicher Ferne liegenden Termin verwirklichen kann.

Auch Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung nur in den Fällen einer bereits weit fortgeschrittenen Aidserkrankung entgegen.

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens;

insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

1

Der Kläger ist sierraleonischer Staatsangehöriger. Nach negativem Ausgang eines ersten Asylverfahrens (VG Braunschweig, Urteil vom 24. September 1999 – 8 A 406/99 –) beantragte er im April 2000 bei der Beklagten unter Vorlage ärztlicher Bescheinigungen (Bl. 4 und 26 der Beiakte A) die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 AuslG, weil er aidskrank sei und diese Krankheit in seinem Heimatland nicht behandelt werden könne.

2

Die Beklagte lehnte es mit Bescheid vom 21. Januar 2003 ab, ein weiteres Asylverfahren durchzuführen und den in dem ersten Asylverfahren ergangenen Bescheid hinsichtlich der Feststellung zu § 53 AuslG abzuändern, weil keine Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens vorlägen.

3

Daraufhin hat der Kläger am 10. Februar 2003 Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt: Schon die katastrophale Lage in Sierra Leone verbiete eine Abschiebung. In seinem speziellen Fall komme hinzu, dass seine Erkrankung in Sierra Leone nicht behandelt werden könne. Derzeit würden seine Werte regelmäßig überwacht, um ein behandlungswichtiges Stadium seiner Erkrankung rechtzeitig zu erkennen. Bereits dies sei in seinem Heimatland nicht möglich. Inzwischen sei er aus der Haft entlassen und werde noch im Mai wieder seinen behandelnden Arzt aufsuchen. Die Untersuchungen im Gefängnis seien nur mangelhaft durchgeführt worden. Der letzte Test sei schon vor fünf bis sechs Monaten durchgeführt worden. In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger an, dass es ihm momentan gesundheitlich recht gut gehe.

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Er beantragt,

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den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 27. Januar 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass in seinem Fall Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen.

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Die Beklagte beantragt,

7

die Klage abzuweisen.

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Sie tritt der Klage aus den Gründen des angefochtenen Bescheides entgegen.

9

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakte in dem Verfahren 8 A 406/99 und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der Stadt Wolfsburg, der in seinen wesentlichen Teilen Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist unbegründet.

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Die Beklagte hat es gemäß § 51 VwVfG und § 53 AuslG zu Recht abgelehnt, ihren in dem ersten Asylverfahren des Klägers ergangenen Bescheid insoweit abzuändern und im Falle des Klägers ein Abschiebungshindernis festzustellen.

12

Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Sierra Leone schon wegen der allgemeinen Lage dort einer konkreten und von ihm nicht hinzunehmenden Gefährdung ausgesetzt wäre. Die Beklagte hat unter Auswertung der relevanten Erkenntnisquellen zutreffend festgestellt, dass angesichts der sich verbessernden Lage in Sierra Leone für Rückkehrer kein Risiko besteht, gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert zu werden. Diese Einschätzung entspricht auch der gegenwärtigen einschlägigen Rechtsprechung (vgl. nur OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 1. Februar 2002 – 10 A 11812/01 –, AuAS 2002, S. 50 f.; VG Stade, Urteil vom 22. Februar 2002 – 3 A 1121/01 –; VG Lüneburg, Urteil vom 26. Februar 2002 – 6 A 120/01 –; VG Gera, Urteil vom 3. Juni 2002 – 4 K 20123/00 –; OVG Hamburg, Urteil vom 2. Juli 2002 – 3 Bf 191/99.A –; OVG NRW, Beschluss vom 5 September 2002 – 11 A 3470/02.A –; VG Oldenburg, Beschluss vom 15. Oktober 2002 – 2 A 2635/01 – und VG Magdeburg, Urteil vom 5. November 2002 – 5 A 514/02 MD –; OVG Münster, Beschluss vom 22. Januar 2003 – 11 A 1956/01.A –; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 30. Januar 2003 – 10a K 3997/98.A –; VG Berlin, Beschluss vom 18. März 2003 – 1 X 72.03 –), der das Gericht folgt. Die Lage in Sierra Leone ist zwar in vielen Bereichen nach wie vor prekär, die Friedensmission der Vereinten Nationen ist jedoch in der Lage, den Friedensprozess weiter zu konsolidieren und zahlreiche internationale Hilfsorganisationen stellen sowohl die medizinische Notversorgung als auch die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln sicher (Auswärtiges Amt, Gutachten zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Sierra Leone vom 14. Oktober 2002). Auch wenn das Engagement der Vereinten Nationen in Sierra Leone zurückgeführt werden soll, geschieht dies nur in Abhängigkeit von der fortschreitenden Normalisierung der Situation im Lande. Im März 2003 unterhielt die Friedensmission ein Kontingent von 14.721 Personen – davon 14.178 Soldaten – in Sierra Leone (Seventeenth report of the Secretary-General on the United Nations Mission in Sierra Leone vom 17. März 2003). Dem genannten Bericht ist zudem zu entnehmen, dass die Lage in Sierra Leone – von einzelnen Zwischenfällen abgesehen – im Großen und Ganzen stabil ist und sich aufgrund der andauernden internationalen Hilfen weiter verbessert. Die Europäische Union hat Anfang des Jahres 16 Millionen € zur Deckung humanitärer Bedürfnisse in Sierra Leone, Guinea und Liberia bereitgestellt (Pressemitteilung vom 28. Januar 2003 – IP/03/123 –).

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Auch die dem Kläger attestierte Infektion mit dem HIV – Erreger begründet – derzeit – kein Abschiebungshindernis, selbst wenn Aids in Sierra Leone nicht behandelt werden kann. Angesichts der Regelung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG, wonach Gefahren, denen die Bevölkerung – wie im Fall der HIV - Infektion – allgemein ausgesetzt ist, durch Aussetzungsentscheidungen der obersten Landesbehörden nach § 54 AuslG berücksichtigt werden, wird eine Ausnahme davon in verfassungskonformer Auslegung des § 53 Abs. 6 AuslG nur dann zugelassen, wenn anderweitiger Abschiebungsschutz nicht besteht, weil ein genereller Abschiebungsstopp nach § 54 AuslG nicht erlassen wurde, und der Ausländer in seinem Heimatland einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Falle seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden würde. Die demnach vorausgesetzte Gefahrenlage wird einerseits geprägt durch das Erfordernis einer erheblichen Gefährdung gewichtigster Rechtsgüter, d. h. durch die Art und die Intensität der drohenden Rechtsgutsverletzung („Umstandsmoment“), andererseits aber auch durch die Unmittelbarkeit der Gefahr und deren hohen Wahrscheinlichkeitsgrad, d. h. durch eine gewisse zeitliche Nähe des möglichen Eintritts der Verletzung der gefährdeten Rechtsgüter zum Abschiebungsakt („Zeitmoment“). Vorrausetzung der extremen allgemeinen Gefahrenlage ist zwar nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, d. h. gewissermaßen noch am Tage der Ankunft im Abschiebungszielstaat eintreten. Eine extreme allgemeine Gefahrenlage, bei der die Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG ausnahmsweise nicht gilt, liegt aber dann nicht vor, wenn die mögliche Rechtsgutsverletzung nicht „bald“ zu erwarten ist, sondern sich allenfalls an einem in unbestimmter zeitlicher Ferne liegenden Termin verwirklichen kann (BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1998 – 9 C 4/98 –, BVerwGE 108, 77 ff. und Urteil vom 25. November 1997 – 9 C 58/96 –, BVerwGE 105, 383 ff.). So aber liegt der Fall des Klägers, der sich ausweislich der ärztlichen Stellungnahmen im Anfangsstadium seiner Erkrankung befindet. Der ärztlichen Stellungnahme vom 13. Dezember 2002 (Bl. 26 der Beiakte A) ist zudem zu entnehmen, dass die eigentliche Aidserkrankung nicht ausgebrochen ist, sich der Zustand des Klägers nicht verschlimmert hat und keine Medikation erforderlich ist. Nach der vom Gericht eingeholten ärztlichen Stellungnahme vom 6. März 2003 (Bl. 24 der Gerichtsakte) gilt dies unverändert. Danach hat der letzte Test am 20. Februar 2003 und nicht, wie der Kläger mitgeteilt hat, vor fünf bis sechs Monaten stattgefunden. Dass sich sein Zustand seither gravierend verschlechtert hätte, hat auch der Kläger nicht geltend gemacht. In der mündlichen Verhandlung hat er angegeben, dass es ihm gesundheitlich recht gut gehe.

14

Selbst wenn man entgegen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. nur: Urteil vom 25. November 1997 – 9 C 58/96 –, a.a.O.) die von dem Kläger geltend gemachte Gefahrenlage an § 53 Abs. 4 AuslG messen würde, ergäbe sich nichts anderes. Auch Art. 3 EMRK steht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (Urteil vom 2. Mai 1997 – 146/1996/767/964 –, D./.Vereinigtes Königreich, InfAuslR 1997, S. 381 ff. und Urteil vom 15. Februar 2000 – 46553/99 –) einer Abschiebung nur in den Fällen einer bereits weit fortgeschrittenen Aidserkrankung entgegen.

15

Im Übrigen sieht das Gericht gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und stellt fest, dass es den Begründungen des angefochtenen Bescheides der Beklagten folgt.

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Als Unterlegener hat der Kläger gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen.

17

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11 ZPO.