Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 22.12.2003, Az.: 13 B 2913/03
Anordnungsanspruch; Anordnungsgrund; außerschulische Maßnahme; Bedarfsdeckung; Dringlichkeit; Eingliederungshilfe; einstweilige Anordnung; Förderanteil; Kosten; Kostenübernahme; Leistungsverweigerung; Lese-und Rechtschreib-Störung; Mehrkosten; schulische Maßnahme; seelische Gesundheit; seelische Störung; Therapie; Verhältnismäßigkeit; Versagensangst; wirtschaftliches Interesse
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 22.12.2003
- Aktenzeichen
- 13 B 2913/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48309
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 5 Abs 2 SGB 8
- § 35a Abs 1 S 2 SGB 8
- § 35a Abs 1 S 5 SGB 8
- § 123 VwGO
- § 39 BSHG
- § 40 Abs 1 S 1 Nr 4 BSHG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Einzelfall einer seelischen Behinderung gemäß § 35 a Abs. 1 SGB VIII bei einer kombinierten Störung schulischer Fertigkeiten (ICD-10: F 81.3).
Zur Auslegung von § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII
Gründe
Das Verfahren war einzustellen, soweit der Antragsgegner seinen Antrag zurückgenommen hat. Das Gericht legt den Antrag aus dem Schriftsatz des Antragstellers vom 14. November 2003 dahingehend aus, dass durch ihn die Übernahme der Kosten von 23 Fördereinheiten begehrt wird. Dabei legt die Kammer zugrunde, dass Kinder und Jugendliche wegen Krankheit, Ferienreisen u. a. an sechs Wochen des Jahres an einer Therapie nicht teilnehmen, was bei einer Therapie von sechs Monaten Dauer 23 Fördereinheiten ergibt. Damit hat der Antragsteller seinen Antrag teilweise zurückgenommen, da er ursprünglich begehrt hat, „eine Kostenübernahmeerklärung für eine ambulante Therapie im Umfang von 40 Behandlungssitzungen/Fördereinheiten ... zu bewilligen“ (Antragsschrift vom 7. August 2003).
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist im übrigen begründet. Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch - den materiell-rechtlichen Anspruch auf die streitgegenständliche Leistung - als auch einen Anordnungsgrund - die Dringlichkeit der begehrten gerichtlichen Regelung - glaubhaft gemacht.
Die Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 SGB VIII sind im Falle des Antragstellers erfüllt. Danach haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Seelische Störungen allein genügen also nicht; hinzu kommen muss noch die Beeinträchtigung bzw. die Gefahr der Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft. Aus diesem Grunde ist entscheidend, ob die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine Beeinträchtigung zu erwarten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. November 1998, Az.: 5 C 38/97, FEVS 49, 487; OVG Lüneburg, Beschluss vom 19. Juni 2003, Az. 12 ME 176/03; VGH Mannheim, Urteil vom 24. April 1996, Az.: 6 S 827/95, FEVS 47, 309).
Der Antragsteller leidet an einer kombinierten Störung schulischer Fertigkeiten (ICD 10 F 81.3; s. Gutachten des Dr. H. vom 10. Oktober 2003). Die darin enthaltene Lese- und Rechtschreibschwäche (Legasthenie) ist als partielles geistiges Defizit bei im Übrigen normaler Intelligenz und unauffälligem neurologischem Befund dem Bereich der geistigen Leistungsstörung zuzuordnen (s. BVerwGE, Urteil vom 28. September 1995, - 5 C 21.93 -, FEVS 46, 360). Eine solche kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten muss als solche keine seelische Störung sein, kann aber eine wesentliche Ursache für solche Störungen darstellen und damit unter bestimmten Umständen auch einen Bedarf an außerschulischen Maßnahmen gemäß § 35 a SGB VIII auslösen (s. VGH Kassel, Beschluss vom 13. März 2001 - Az.: 1 TZ 2872/00 -, NVwZ-RR 2002, 926). Das ist beim Antragsteller der Fall, da durch seine Störung schulischer Fertigkeiten überwiegend wahrscheinlich eine Beeinträchtigung seiner Teilnahme am Leben in der Gesellschaft zu erwarten ist (§ 35 a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII). Es ist zu erwarten, dass ihm ohne eine Therapie dieser Störung, insbesondere seiner Lese-Rechtschreib-Störung, eine auf Versagensängsten beruhende Schulphobie, eine totale Schul- und Lernverweigerung, der Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und die Vereinzelung in der Schule drohen.
Erste Anhaltspunkte für diese Annahme ergeben sich bereits aus der gutachterlichen Stellungnahme des Kinderzentrums Oldenburg vom 16. Juni 2003. Dort heißt es u. a. zur Diagnose für den Antragsteller:
"Sekundäre Verhaltensauffälligkeiten gegenüber den schulischen Anforderungen mit Verweigerungstendenzen."
Weiter heißt es in dem Gutachten:
"98 bzw. 99 % aller Kinder in seiner Jahrgangstufe haben inzwischen eine bessere Lesefertigkeit erreicht. Selbst häufige und einfache Worte konnte Eike bislang noch nicht im Langzeitgedächtnis speichern. Sowohl beim Lesen der häufigen Wörter als auch beim Lesen des kurzen Textes muss er auf noch auf das mühsame lautierende Lesen zurückgreifen, das sehr viel fehleranfälliger ist.
Die gezielten Anforderungen im Bereich des Schriftspracherwerbs, deren Erfüllung Eike sehr schwer fiel, erzeugten in ihm eine große innere Abwehr und einen deutlichen Motivationsabfall. ...
Eikes Lese- und Rechtschreibleistung (liegt) zurzeit erheblich unter seinen allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten. ...
Die besonderen Misserfolgserfahrungen (haben) bei Eike inzwischen zu deutlichen Verhaltensauffälligkeiten angesichts spezifischer schulischer Anforderungen geführt. Vor sechs Monaten ging er noch gerne zur Schule, war hochmotiviert, das Lesen und Schreiben zu lernen. Inzwischen hat er ausgeprägte Verweigerungsstrategien entwickelt und fällt in der Schule und im häuslichen Umfeld durch zunehmendes oppositionelles und reizbares Verhalten angesichts schulischer Anforderungen auf. ...
Die sich verschlechternde Lese- und Rechtschreibleistungen bis zum jetzigen Zeitpunkt weisen darauf hin, dass eine Förderung innerhalb der Schule wegen Ausmaß und Besonderheit der zugrunde liegenden auditiv-sprachlichen Funktionsschwächen der bereits eingetretenen sekundären Beeinträchtigungen nicht ausreicht. Es ist aber notwendig, dass Eike in der Schule vor weiteren Misserfolgserfahrungen bewahrt wird. ...
Es waren ... auch deutliche Zeiten einer Aufmerksamkeitsstörung festzustellen. Eike war phasenweise in seiner Motorik unruhig, in seinen Handlungsabläufen impulsiv, so dass Flüchtigkeitsfehler resultierten, die er dann korrigierte, insgesamt dann aber dadurch zu einem langsamen Arbeitstempo führten. Vorhanden war eine niedrige Frustrationstoleranz, wobei Eike in der Untersuchungssituation in der Lage war, diese teilweise allein auch aufzufangen. ...
Die Diagnose der Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung ist bei Eike weiterhin zu stellen."
Gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller zum Personenkreis von § 35 a Abs. 1 SGB VIII gehört, ergeben auch die Erklärungen seiner Mutter bei ihrer Anhörung durch den Berichterstatter am 3. September 2003. Bei der Bezugnahme auf diese Erklärungen verkennt das Gericht nicht, dass die Mutter des Antragstellers ein wirtschaftliches Interesse daran hat, dass dem Antragsteller die begehrte Eingliederungshilfe zuteil wird und dass sie auch durchaus eine laienhafte Vorstellung von den Voraussetzungen eines hierfür erforderlichen Anspruchs nach § 35 a SGB VIII hat. Gleichwohl machte die Mutter des Antragstellers bei ihrer Anhörung durch den Berichterstatter nicht den Eindruck, dass sie die Probleme des Antragstellers "schlimm" redet. Sie schildert die häusliche Situation mit dem Antragsteller in sich stimmig, ohne sie zu dramatisieren und ohne Widerspruch zu den Bekundungen der anschließend vernommenen Zeugin R. und zu den Untersuchungsergebnissen des o. g. Gutachtens des Sozialpädiatrischen Zentrums. Die Mutter des Antragstellers machte durch ihr ruhiges und sicheres Auftreten auch einen glaubwürdigen Eindruck. Das Gericht kann den Erklärungen der Mutter zudem eine besondere Bedeutung beimessen, weil sie sich im besonderen Maße der Lese-Rechtschreib-Schwäche ihres Sohnes annimmt, ihn in einem durchaus nicht üblichen Maße mit häuslichem Nachhilfeunterricht unterstützt und sich dabei umfassend mit der Schule sowie dem Sozialpädiatrischen Zentrum abstimmt. Durch ihre Erläuterungen hinterließ sie den Eindruck, dass sie ihre Wahrnehmung des Antragstellers präzise wiedergibt; sie weiß auch aufgrund ihrer Erfahrungen mit ihrem älteren Sohn, worüber sie bei ihren Angaben über die Probleme des Antragstellers spricht. So hält es das Gericht für glaubhaft, dass der Antragsteller mittlerweile nur noch widerwillig zur Schule geht und nach der Schule häufig zu Hause sitzt und weint, weil er Texte im Unterricht nicht richtig habe lesen können. Seine Mutter hat auch glaubhaft dargestellt, dass es mittlerweile ausgesprochen schwierig ist, den Antragsteller mit seinen spezifischen Lese- und Rechtschreibschwäche im häuslichen Umfeld weiter zu fördern.
Ihre Darstellung indiziert auch, dass beim Antragsteller aufgrund seiner schulischen Probleme eine Beeinträchtigung seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erwarten ist. Die Darstellung der Mutter des Antragstellers, dass er sich mittlerweile abkapselt, weil er in seinen sozialen Kontakten allzu häufig mit seiner Lese- und Rechschreibschwäche und mithin einem Versagen in einem essentiellen Lebensbereich konfrontiert wird, ist ohne weiteres nachvollziehbar. Den Angaben der Mutter des Antragstellers machen auch glaubhaft, dass das Selbstwertgefühl des Antragstellers mit zunehmender Tendenz erheblich gestört ist.
Die Schilderungen der Mutter des Antragstellers werden allerdings durch die Aussagen der Zeugin R. bei ihrer Vernehmung durch den Berichterstatter am 3. September 2003 relativiert. Sie stufte den Antragsteller von seinem Sozialverhalten her im oberen Drittel der Klasse ein, was gegen das Vorliegen einer Schulphobie bei ihm spricht. Allerdings nimmt auch sie an, dass es für den Antragsteller immer schwieriger werden wird, in der Schule mitzukommen, weil die Texte von Aufgaben in allen Fächern immer länger und schwieriger werden. Anhaltspunkte für eine Schul- und Leistungsverweigerung bietet auch die Darstellung der Zeugin R.. Auch ihre Erklärungen waren bei der Entscheidungsfindung uneingeschränkt zu berücksichtigen. Die Zeugin hinterließ bei ihrer Vernehmung durch den Berichterstatter einen glaubwürdigen Eindruck. Sie antwortete auf die Fragen des Gerichts bestimmt, mit einer angemessenen Nachdenklichkeit und mit erkennbarem Sachverstand von den Problemen, mit denen der Antragsteller zu kämpfen hat. Ihre Beschreibungen von den Schwächen des Antragstellers im Unterricht waren anschaulich und sich schlüssig. Insbesondere standen sie nicht im Widerspruch zu den kinderärztlichen und psychologischen Erhebungen beim Antragsteller durch das Sozialpädiatrische Zentrum.
Die Überzeugung des Gerichts, dass der Antragsteller zum Personenkreis von § 35 a Abs. 1 SGB VIII gehört, beruht entscheidend auf dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H. vom 10. Oktober 2003. Dort heißt es zusammenfassend:
„Diagnostisch handelt es sich demnach um eine "kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten" (ICD-10: F81.3), die einer umfassenden, nicht nur auf die Lese- und Rechtschreibleistungen zielenden Behandlung bedarf. Bei Eike ist es nach den Ergebnissen des Angstfragebogens für Schüler (AFS) bereits zu einer ausgeprägten Schulunlust und Prüfungsangst gekommen. Die im pathologischen Bereich liegenden Angstwerte sind situativ an die Schule und an schulische Leistungsanforderungen gebunden ... Die wiederum gesteigerte Tendenz zur sozialen Erwünschtheit drückt ein starkes Bemühen um eine sozial angepasste Leistungsbereitschaft aus, die Eike aufgrund der umschriebenen Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten nicht realisieren kann. Hieraus resultieren die schulgebundene Schulunlust und Prüfungsangst. ... Bei einem zunehmenden Auseinanderklaffen von Eikes Leistungsfähigkeit und schulischen Leistungsanforderungen ist daher auch mit einer Zunahme der bereits manifesten Verhaltensstörungen zu rechnen.
Beantwortung der Beweisfrage: Nach gründlicher Analyse der vorliegenden Vorbefunde und aufgrund der durch die eigene Untersuchung ermittelten diagnostischen Befunde ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass bei Eike Sch. infolge der Störungen seiner schulischen Leistungsfähigkeit eine seelische Behinderung droht, die sich in Form einer auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie, einer vollständigen Schul- und Lernverweigerung, eines Rückzugs aus jedem Sozialkontakt und einer sozialen Isolation in der Schule manifestieren wird, sofern spezifische therapeutische Maßnahmen dem nicht entgegenwirken.“
Damit ist nach Überzeugung des Gerichts dargetan, dass dem Antragsteller seelische Störungen drohen, die nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie seine Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen werden. Diese Schlussfolgerung des Gutachtens beruht auf einer schlüssigen, in sich stimmigen Zusammenfassung der Vorbefunde für den Antragsteller und einer eingehenden eigenen psychologischen Untersuchung des Antragstellers durch den Gutachter. Bei dieser setzte sich der Gutachter gründlich und zeitintensiv mit den besonderen Fähigkeiten und Defiziten des Antragstellers auseinander und untersuchte insbesondere in überzeugender Weise seine drohende Schulangst in ihren Ursachen und möglichen Folgen. Das Gutachten ist insgesamt in sich stimmig und logisch aufgebaut und vermittelt dem Gericht die Überzeugung, dass das Gutachten auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Lese-Rechtschreib-Störung und vergleichbare Störungen beruht.
Das Gericht teilt nicht die Annahme der Antragsgegnerin, dass der Antragsteller auch unter Berücksichtigung des Sachverständigengutachtens nicht Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII hat. Für diese Annahme der Antragsgegnerin scheint zunächst maßgeblich zu sein, dass sie die hier nicht mehr anwendbare alte Fassung von § 35 a Abs. 1 SGB VIII zugrundelegt. Voraussetzung für die Eingliederungshilfe ist seit dem 1. Juli 2001 (Inkrafttreten von SGB IX) nicht mehr, dass Kinder und Jugendliche seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind (so der erste Satz von Abs. 3 des Schriftsatzes der Antragsgegnerin vom 10. November 2003), sondern dass ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht. Die hohe Wahrscheinlichkeit dieser Abweichung beim Antragsteller ist durch das Gutachten Dr. H.s belegt. Zudem steht auch fest, dass die Lese-Rechtschreib-Störung ausschlaggebend dafür ist, dass eine Beeinträchtigung des Antragstellers in seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erwarten ist (§ 35 a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII). Die Lese-Rechtschreib-Störung des Antragstellers ist die maßgebliche Ursache für die sachverständige Prognose des Gutachtens. Anhaltspunkte dafür, dass spezielle schulische und familiäre Faktoren eine permanente Überforderungssituation des Antragstellers herbeiführen (so die Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 10. November 2003), konnte das Gericht weder aus dem Gutachten, der Anhörung der Mutter des Antragstellers und seiner Klassenlehrerin sowie den Vorbefunden gewinnen. Das Gericht ist vielmehr der Überzeugung, dass der Antragsteller u.a. aufgrund seiner Lese-Rechtschreib-Störung in vielfältiger Weise in der Schule überfordert ist und dies auch naturgemäß zu Reaktionen in seinem schulischen und familiären Umfeld führt. Dass diese Überforderungen aber alleine zu der hohen Wahrscheinlichkeit führen, dass die seelische Gesundheit des Antragstellers länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweichen wird und daher dem Kläger nicht Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten einer speziellen Therapie seiner kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten zu gewähren ist, vermag das Gericht nicht zu erkennen.
Für die gegenwärtige Notwendigkeit der Eingliederungshilfe für den Kläger durch die im Tenor bezeichneten Maßnahmen spricht auch, dass die Eltern des Antragstellers trotz der evidenten Probleme, die von Anfang an beim Lesen und Schreiben des Antragstellers in der Schule aufgetreten sind, zunächst versucht haben, diese ohne außerschulische Hilfe zu bewältigen. Der Antragsteller hat die streitgegenständliche Eingliederungshilfe mit m.a.W. erst dann beantragt, als deutlich wurde, dass ihm mit dem bisherigen Instrumentarium schulischer und außerschulischer Förderung nicht ausreichend zu helfen ist, und die sekundären Folgen seiner Schwäche immer handgreiflicher geworden sind.
Im Falle des Antragstellers ist weiter zu bedenken, dass er die streitgegenständliche Eingliederungshilfe als Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung gemäß § 35 a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. §§ 39, 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BSHG, § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfeverordnung und nicht lediglich als Hilfe zur Teilhabe in der Gesellschaft benötigt. Die vom Antragsteller begehrte Therapie ist als Maßnahme erforderlich und geeignet, dem Antragsteller eine angemessene Schulbildung zu sichern. Dem Antragsteller droht ohne diese Hilfe, seine Schulpflicht nicht mehr in den allgemeinbildenden Schulen, sondern - bereits in absehbarer Zeit - in einer Sonderschule erfüllen zu müssen. Es besteht daher die Gefahr, dass er sein Bildungspotential wegen seiner Behinderung nicht ausschöpft. Die Kammer hat nicht Anlass zu zweifeln an der Überzeugung der Zeugin R., dass der Antragsteller der Grund- und Hauptschule (möglicherweise sogar der Realschule) erfüllen kann, wenn insbesondere seine Lese- und Rechtschreibschwäche nachhaltig behandelt wird. Anderenfalls - so überzeugend die Zeugen R. - droht dem Antragsteller eine abschließende Beschulung in der Sonderschule. Dies genügt für die Verpflichtung der Antragsgegnerin, die streitgegenständliche Leistung der Eingliederungshilfe als Maßnahme i.S.v. § 35 a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BSHG zu gewähren (s. hierzu allgemein: Nds. OVG, Beschluss vom 17. Dezember 2002, Az.: 12 ME 657/02 -, V.n.b.). Aus alledem folgt, dass die Behinderung des Antragstellers ihrer Breite, Tiefe und Dauer nach so intensiv ist, dass sie in mehrfacher Hinsicht seine Eingliederung in die Gesellschaft zu beeinträchtigen droht. Dies wird dann der Fall sein, wenn - und beides ist ohne die streitgegenständliche Therapie ganz überwiegend wahrscheinlich - sich einerseits seine negativen Verhaltensweisen und Probleme (Schulangst, Lernverweigerung, Lernhemmung) zuspitzen werden, und er andererseits nicht die angemessene Schulbildung erfährt.
Der Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass die streitgegenständliche Therapie für den Antragsteller nach Überzeugung des Gerichts jetzt unabweisbar geboten ist. Nach den glaubhaften Bekundungen der Zeugin R. droht dem Antragsteller nun, dass ihn sein Klassenverband "abhängt". Mit dem Übergang in die 3. Klasse wird vom Antragsteller nun ein deutlich erhöhtes Textverständnis gefordert; es steht zu befürchten, dass er mit seiner Lese- und Rechtschreibschwäche die nun komplexer werdenden Texte, mit denen Aufgaben nicht mehr in Deutsch, sondern auch in allen anderen Fächern (außer den künstlerischen und sportlichen) gestellt werden, kaum noch verstehen kann.
Die Kammer spricht die streitgegenständliche Hilfe nicht - wie vom Antragsteller zunächst beantragt - für etwa 10 bis 11 Monate zu, sondern zunächst für sechs Monate. Die Beteiligten sind gehalten, nach diesem Zeitraum zu überprüfen, ob die Hilfe für den Antragsteller fortgeführt werden muss. Es muss insoweit insbesondere der Antragsgegnerin Gelegenheit gegeben werden, den Hilfebedarf des Antragstellers dann erneut zu überprüfen.
Antragsgemäß war die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Kosten der Therapie des Antragstellers durch „Millernium“ sowie die Kosten eines monatlichen Eltern- bzw. Lehrergespräches zu übernehmen. Das Gericht hat keinen Zweifel, dass diese Einrichtung dem Kläger entsprechend den Zielen der Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII helfen kann. Insoweit wird auf die von der Antragsgegnerin zu dem Verfahren 13 B 4268/02 u.a. vorgelegten Unterlagen Bezug genommen, die auch dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers bekannt sind. Auch die Antragsgegnerin hält die Einrichtung „Millernium“ für die hier in Rede stehende Therapie für geeignet.
Die Dringlichkeit der Hilfe für den Antragsteller gebietet es, diesem einen sofortigen Beginn seiner Behandlung zu ermöglichen. Das Gericht nimmt aufgrund des Vorbringens des Antragstellers (zuletzt Schriftsatz vom 10. Dezember 2003) an, dass „Millernium“ zu einem Stundensatz von 46,02 € zur Behandlung des Antragstellers tatsächlich bereit ist. Durch die Tenorierung ist sichergestellt, dass nunmehr mit der Therapie zu den Bedingungen von „Millernium“ begonnen werden kann.
§ 5 Abs. 2 SGB VIII steht dem Wunsch des Antragstellers, sich durch „Millernium“ behandeln zu lassen, nicht entgegen. Nach Abs. 2 Satz 1 dieser Vorschrift soll der Wahl und Wünschen des Leistungsberechtigten hinsichtlich der Gestaltung entsprochen werden, sofern dies nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Die Feststellung, ob und ggf. welche Mehrkosten im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII entstehen, ist aufgrund eines Vergleichs zu treffen. Verglichen werden müssen die Kosten, die die erforderliche Maßnahme unter Berücksichtigung des Wunsches der Leistungsberechtigten erfordert, und die Kosten, die bei Durchführung der Maßnahme entstehen würden, ohne dass ein solcher Wunsch in Frage stünde. Bestehen keine Alternativen der Bedarfsdeckung, so wird der Anspruch auf Bedarfsdeckung nicht dadurch ausgeschlossen, dass die einzig geeignete und notwendige Hilfe in Anbetracht der einzuhaltenden Zweck-Mittel-Relation unangemessen erscheinen mag (s. hierzu Wiesner u.a., Kommentar zum SGB VIII, 2. Auflage 2000, § 5 Rz. 12 f. m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1987, FEVS 36, 353). Dabei gibt es keine feste Grenze, deren Überschreitung dazu führt, dass die Erfüllung des Wunsches des Hilfesuchenden mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre (OVG Lüneburg, Beschluss vom 25. Mai 1990, FEVS 41, 68). Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mehrkosten beantwortet sich nämlich nicht in einem rein rechnerischen Kostenvergleich. Sie verlangt vielmehr eine wertende Betrachtungsweise, bei der vor allem das Gewicht, dass der vom Hilfeempfänger gewünschten Gestaltung der Hilfe beizumessen ist, besondere Berücksichtigung findet. Dabei sind alle Besonderheiten des Einzelfalls in den Blick zu nehmen (BVerwG, Urteil vom 17. November 1994, FEVS 45, 408 zu der entsprechenden Vorschrift des § 3 Abs. 2 BSHG).
Die Besonderheit des Einzelfalls gebietet es hier, dem Antragsteller im Wege der Eingliederungshilfe nach § 35 a Abs. 1 SGB VIII eine Therapie durch „Millernium“ zu ermöglichen. Aufgrund des Gutachtens des Herrn Dr. H. vom 10. Oktober 2003 steht fest,
„dass beim Antragsteller eine "kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten" (ICD-F81.3), die einer umfassenderen, nicht auf die Lese- und Rechtschreibleistungen zielenden Behandlung bedarf“,
vorliegt. Für das Gericht hat sich nicht mit der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erforderlichen Gewissheit feststellen lassen, dass die Einrichtungen, welche die Antragsgegnerin (beispielsweise mit ihrem Schriftsatz vom 8. Dezember 2003) als zur Behandlung des Antragstellers geeignet ansieht und die gegenwärtig den Antragsteller behandeln könnten (der Förderverein LRS scheidet aus, da er derzeit keine Behandlungskapazitäten für den Antragsteller hat), den Bedarf des Antragstellers decken können. Dabei ist zunächst maßgeblich, dass nach Überzeugung des Gerichts dem Antragsteller es nicht zumutbar ist, sich einer Therapie außerhalb des Stadtgebiets von Oldenburg zu unterziehen, sofern geeignete Einrichtungen für seine Behandlung hier vorhanden sind. Deshalb scheidet die Einrichtung „Notenbremse“ im Landkreis Wesermarsch hier aus. Das Gericht konnte sich auch nicht davon überzeugen, dass die Grundschullehrerin Frau B. J. die für den Antragsteller erforderliche Behandlung anbieten kann. Insoweit geht zu Lasten der Antragsgegnerin, dass sie ihre Behauptung, Frau J. könne durch ihre Behandlung den Hilfebedarf des Antragstellers decken, nicht substantiiert hat. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass Frau J. auf jeden Fall Lese-Rechtschreib-Schwäche behandelt. Dass sie darüber hinaus auch weitergehend eine „kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten“, wie sie im Falle des Antragstellers vorliegt, behandeln kann, wird seitens des Antragstellers substantiiert bestritten und ist seitens der Antragsgegnerin nicht näher dargelegt worden. Insofern geht zu Lasten der Antragsgegnerin, dass sie die Bitte des Gerichts (Fax vom 12. Dezember 2003), umgehend ihre Unterlagen zu der LRS-Therapie durch Frau J. vorzulegen, nicht erfüllt hat. Auf diesem Wege wäre es dem Gericht alleine möglich gewesen, die Angabe der Antragsgegnerin, Frau J. könne mit ihrer Behandlung den Hilfebedarf des Antragstellers decken, zu überprüfen. Es geht weiter zu Lasten der Antragsgegnerin, dass sie nicht substantiiert vorgetragen hat, andere Anbieter als die HARFE und „Millernium“ könnten ebenfalls und zu niedrigeren Kosten den Bedarf des Antragstellers an Eingliederungshilfe decken. Der Einwand der Antragsgegnerin, das Gericht würde sich durch die hier ausgesprochene einstweilige Anordnung in unzulässiger Weise in die Vertragsverhandlungen zwischen ihr und „Millernium“ einmischen, ist unzutreffend. „Millernium“ kann den Bedarf des Antragstellers ausweislich seiner Erklärungen im Prozess jedenfalls zu einem Vergütungssatz von 46,02 € pro Fördereinheit decken; eine kostengünstige Möglichkeit der Hilfe hat die Antragsgegnerin nicht vorgetragen. Die Rechtsbeziehungen zwischen der Antragsgegnerin und der Einrichtung „Millernium“ sind hier nicht streitgegenständlich.
Der Antragsgegnerin bleibt es unbenommen, eine Abänderung der Entscheidung der Kammer zu beantragen, wenn sie mit der Einrichtung „Millernium“ eine Leistungs- und Entgeltvereinbarung abschließen sollte und diese andere Vergütungssätze vorsieht, als sie im Tenor ausgeworfen worden sind.