Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 21.05.1992, Az.: 13 L 1067/92

Ermittlungsverfahren; Aufbewahrung ; Personenbezogene Daten; Erkennungsdienstliche Unterlagen; Herausgabeanspruch; Polizeiliche Maßnahme

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
21.05.1992
Aktenzeichen
13 L 1067/92
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1992, 13374
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1992:0521.13L1067.92.0A

Verfahrensgang

vorgehend
10 A 1928/91

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 10. Kammer Hannover - vom 16. Dezember 1991 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1

Die im Mai 1962 geborene Klägerin wurde im Juni 1990 im Rahmen eines gegen sie geführten Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz (Staatsanwaltschaft Hannover 311 Js 10422/90) vom Landeskriminalamt Niedersachsen erkennungsdienstlich behandelt. Durch Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 26. Juli 1990 wurde das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO mit der Begründung eingestellt, die Ermittlungen böten keinen genügenden Anlaß für eine Anklageerhebung. Die Klägerin beantragte daraufhin die Vernichtung der erkennungsdienstlichen Unterlagen. Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11. Oktober 1990 ab: Die Aufbewahrung der Unterlagen erfolge auf der Grundlage des § 81 b StPO in Verbindung mit den sog. KpS-Richtlinien. Das Ermittlungsverfahren habe nicht die Unschuld der Klägerin ergeben. Sie sei außerdem in den letzten Jahren regelmäßig in Zusammenhang mit Betäubungsmitteldelikten aufgefallen. Daher sei die Annahme gerechtfertigt, daß sie auch künftig strafrechtlich in Erscheinung treten könne. Aus diesem Grunde erscheine eine weitere Aufbewahrung der Unterlagen zum Zwecke der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erforderlich. Die Klägerin könne aber nach Ablauf von zwei Jahren einen neuen Antrag auf Aussonderung stellen, sofern sie bis dahin nicht wieder in Erscheinung getreten sei. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Bezirksregierung Hannover mit Bescheid vom 28. Februar 1991 als unbegründet zurück.

2

Am 20. März 1991 hat die Klägerin beim Verwaltungsgericht Klage mit dem Antrag erhoben, die Beklagte unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide zu verpflichten, die von ihr gefertigten erkennungsdienstlichen Unterlagen zu vernichten. Mit Urteil vom 16. Dezember 1991 hat das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben, im wesentlichen mit der Begründung, in Niedersachsen fehle derzeit eine ausreichende gesetzliche Ermächtigung für die Anfertigung und Aufbewahrung von erkennungsdienstlichen Unterlagen zum Zwecke der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung; wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den Inhalt des Urteils verwiesen.

3

Gegen die ihr am 31. Januar 1992 zugestellte Entscheidung hat die Beklagte am 18. Februar 1992 Berufung eingelegt. Sie ist der Auffassung, daß die tragende Begründung des angefochtenen Urteils der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des erkennenden Senats widerspreche, und meint im übrigen, im Fall der Klägerin erscheine eine weitere Aufbewahrung der Unterlagen noch als erforderlich.

4

Die Beklagte beantragt,

5

das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.

6

Die Klägerin beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

8

Sie verteidigt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts.

9

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

10

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Beiakten A und B) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Berufung der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, führt in entsprechender Anwendung des § 130 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht.

12

Der Senat teilt die in Rechtsprechung und Schrifttum überwiegend vertretene Ansicht, daß eine Zurückverweisung wegen fehlender Entscheidung zur Sache (§ 130 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) nicht nur in Betracht kommt, wenn das Verwaltungsgericht zu Unrecht ein Prozeßurteil erlassen oder der Klage allein aus prozessualen Gründen stattgegeben hat, sondern auch dann, wenn es deshalb nicht über den eigentlichen Gegenstand des Streits entschieden hat, weil es in einer rechtlichen Vorfrage die Weichen falsch gestellt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. 5. 1971 - BVerwG VI C 39.68 - BVerwGE 38, 139, 146 [BVerwG 26.05.1971 - VI C 39/68]; dass., Beschluß vom 27. 11. 1981 - BVerwG 8 B 189.81 - DVBl. 1982, 546; Kopp, VwGO, 9. Aufl., RdNr. 5 zu § 130 m.w.N.; vgl. zum Meinungsstand auch Redeker/von Oertzen, VwGO, 10. Aufl., RdNr. 6 zu § 130). So liegt es hier.

13

In Fortführung seiner ständigen Rechtsprechung hat das Verwaltungsgericht auch in der vorliegenden Sache seine stattgebende Entscheidung tragend auf die Erwägung gestützt, in Niedersachsen gebe es derzeit keine genügende Rechtsgrundlage für die Anfertigung und Aufbewahrung personenbezogener Daten in Form erkennungsdienstlicher Unterlagen zum Zwecke der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung. Auf dieser Grundlage hat es folgerichtig zu dem eigentlichen Streit der Beteiligten nicht Stellung bezogen, ob die Beklagte nach den konkreten Umständen des Falles mit Blick auf die Einstellung des gegen die Klägerin geführten Ermittlungsverfahrens zur Aussonderung der streitigen Unterlagen verpflichtet ist. Der Senat hat - im Anschluß an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - bereits mehrfach entschieden, daß die zitierte Auffassung des Verwaltungsgerichts auf einer Überinterpretation der Aussagen des Bundsverfassungsgerichts im Volkszählungsurteil vom 15. Dezember 1983 - 1 BvR 209/83 - u.a. - (BVerfGE 65, 1 ff.) zum Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung beruht (vgl. Senatsurteile vom 17. 7. 1991 - 13 L 7658/91 -, vom 21. 8. 1991 - 13 L 7660/91 - und vom selben Tage - 13 L 7724/91 -). Hierzu hat das Bundesverwaltungsgericht - bezogen auf das Landesrecht von Berlin und Nordrhein-Westfalen - klargestellt, daß auch die vorsorgende Strafverfolgung der polizeilichen Aufgabe der Gefahrenabwehr zuzuordnen ist und die Führung von Kriminalakten zu diesem Zwecke eine - auch den Anforderungen zur Beschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung genügende - wirksame gesetzliche Grundlage bereits in der allgemeinen polizeilichen Aufgabennorm findet (BVerwG, Urteile vom 20. 2. 1990 - BVerwG 1 C 29.86 - und - BVerwG 1 C 30.86 - Buchholz 402.41 Nrn. 46 und 47; in gleichem Sinne für das Landesrecht Baden-Württemberg VGH Bad.-Württ., Beschluß vom 18. 5. 1987 - 1 S 487/87 - NJW 1987, 3022 f. [VGH Baden-Württemberg 18.05.1987 - 1 S 487/87]); als bundesrechtliche Ermächtigung ist außerdem bei erkennungsdienstlichen Unterlagen im engeren Sinne - die hier in Rede stehen - zusätzlich § 81 b 2. Alt. StPO einschlägig. Die genannten Grundsätze sind - wie der Senat in den erwähnten Urteilen ausgesprochen hat - auf das niedersächsische Landesrecht übertragbar. Auch dieses bietet daher entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts bereits jetzt eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Erhebung und Aufbewahrung von Kriminalakten zu präventiven Zwecken, und zwar in § 13 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. §§ 1 Abs. 1 und 11 Nds. SOG sowie in § 9 Abs. 1 NDSG. In zeitlicher Hinsicht wird dabei die Zulässigkeit der Aufbewahrung durch den Maßstab der Erforderlichkeit begrenzt (vgl. § 13 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nds. SOG, § 9 Abs. 1 NDSG), wobei für die Ermessensausübung zusätzlich die sog. KpS-Richtlinien (vgl. RdErl. des Nds. MI vom 22. 6. 1981, Nds. MBl. S. 666) von Bedeutung sind.

14

Im Hinblick darauf, daß das Verwaltungsgericht nach dem Gesagten, ausgehend von seinem abweichenden, aber nicht zutreffenden Rechtsstandpunkt, die eigentlichen Probleme des vorliegenden Falles unerörtert gelassen hat, macht der Senat - auch im Interesse der Beteiligten, daß bereits in erster Instanz eine Sachentscheidung ergeht - von der Möglichkeit Gebrauch, die Streitsache in entsprechender Anwendung des § 130 Abs. 1 Nr. 1 VwGO an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.

15

Bei der erneuten Befassung mit der Streitsache wird das Verwaltungsgericht (ggf. im Rahmen einer Entscheidung nach § 161 Abs. 2 VwGO, falls die Unterlagen - wie von der Beklagten für möglich gehalten - im Oktober dieses Jahres im Rahmen der Aussonderungsprüfung vernichtet werden sollten) zu prüfen haben, ob der Klägerin der geltend gemachte Anspruch schon deswegen zusteht, weil das gegen sie geführte Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des nicht gewerbsmäßigen Erwerbs von Haschisch, im Rahmen dessen die Unterlagen angefertigt worden sind, letztlich wegen eines sog. Verwertungsverbots eingestellt worden ist; denn der gegen sie als dritte Person als Zufallserkenntnis im Rahmen der Telefonüberwachung des Pizza-Bring-Dienstes in Hannover aufgekommene Verdacht einer Straftat, die nicht unter den Katalog des § 100 a Satz 1 StPO (insbesondere nicht unter Nr. 4) fällt, hat sich in anderer Weise nicht erhärten lassen (vgl. dazu Kleinknecht/Meyer, StPO mit GVG und Nebengesetzen, 40. Aufl., RdNrn. 18 ff. zu § 100 a StPO m.w.N.). Sollte dies zu verneinen sein, wird zu prüfen sein, welche Relevanz die früher gegen die Klägerin geführten Ermittlungsverfahren haben (vgl. dazu insbesondere die Stellungnahme des Landeskriminalamts Niedersachsen vom 26. 9. 1990, Bl. 20 f. Beiakten B) und ob die Beklagte vor diesem Hintergrund eine weitere Aufbewahrung der Unterlagen zu präventiv-polizeilichen Zwecken für erforderlich halten durfte.

16

Die Kostenentscheidung ist der Schlußentscheidung des Verwaltungsgerichts vorzubehalten.

17

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO gegeben ist.

18

Vorsitzender Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Dembowski ist wegen Urlaubs gehindert zu unterschreiben.

19

Schwermer

20

Schwermer

21

Dr. Uffhausen