Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 03.03.2003, Az.: 1 A 1982/01

Abschiebungsverbot; Russische Föderation; Tschetschenien

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
03.03.2003
Aktenzeichen
1 A 1982/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 47927
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Weiterhin keine Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger in der Russischen Föderation.
Fluchtalternative in Inguschetien.

Tatbestand:

1

Der Kläger ist tschetschenischer Volkszugehöriger aus der Russischen Föderation. Er gelangte im Mai 2001 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland und beantragte die Anerkennung als Asylberechtigter.

2

Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 21. Mai 2001 machte der Kläger geltend: Er befürchte in der Russischen Föderation Maßnahmen politischer Verfolgung, weil er auf der Liste tschetschenischer Rebellen stehe. Von 1988 bis 1995 habe er in G. gewohnt, danach sei er zum Bruder seiner Mutter nach I. gezogen. Dort habe er bis zur Ausreise am 6. Mai 2001 gewohnt. Seit Beginn des zweiten Krieges im September 1999 habe er nicht mehr gearbeitet. Er habe im September 2000 bereits einmal versucht, nach Deutschland zu kommen. Er sei aber an der polnisch-deutschen Grenze aufgegriffen und zurückgeschoben worden. Anschließend sei er nach I. zurückgekehrt. Er sei seit 1992 Mitglied der Partei Demokratisches Tschetschenien gewesen. Diese Partei sei gegen die Wahabiten aufgetreten, habe aber keinen großen Einfluss gehabt. Nach dem ersten Krieg habe sich die Partei aufgelöst, sie existiere seit 1998 nicht mehr. Die Wahabiten hätten sie gehasst und sie bei jeder Gelegenheit umbringen wollen. Im November 1999 sei er von russischen Militärangehörigen verhaftet und in einem Keller zusammengeschlagen worden. Am nächsten Morgen habe man ihn freigelassen, nachdem sein Vater ihn freigekauft habe. Danach sei er nicht mehr inhaftiert worden. Er habe in Tschetschenien den Rebellen geholfen, indem er u.a. Medikamente und Kleidung nach Georgien gebracht habe. Er habe auch an Kämpfen teilgenommen. Sein Kommandeur sei bei diesen Kämpfen umgekommen. Als er nach dem ersten Versuch, nach Deutschland zu kommen, nach I. zurückgekehrt sei, sei er wieder bei den Rebellen gewesen. Letztmalig habe er im Februar 2001 an Kämpfen teilgenommen. Allerdings hätten sie Probleme gehabt, nachdem ihr Kommandant Anfang 2000 umgekommen sei. Bereits seit September 1999 werde er gesucht. Er habe ständig Nachricht erhalten, dass man ihn in S. und I. suche. Im Falle der Rückkehr befürchte er, erschossen zu werden. Auch drei Cousins von ihm seien im Februar 2000 bei einer Säuberung erschossen worden.

3

Der Kläger hat im Termin zur mündlichen Verhandlung den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16 a Abs. 1 GG zurückgenommen und beantragt jetzt noch,

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die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für ihn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen,

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hilfsweise,

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die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für ihn die Voraussetzungen des § 53 AuslG vorliegen

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und

8

den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 7. Juni 2001 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht und dem Kläger die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht worden ist.

9

Der Kläger wurde im Termin zur mündlichen Verhandlung informatorisch angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

10

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sowie die in der Erkenntnismittelliste aufgeführten Unterlagen Bezug genommen; sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Das Verfahren war mit der Kostenfolge aus § 155 Abs. 2 VwGO einzustellen, soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat. Im übrigen ist die Klage, über die nach Übertragungsbeschluss der Kammer durch den Einzelrichter entschieden werden konnte, zulässig und begründet.

12

Der Kläger kann sich auf ein Abschiebungsverbot nach § 51 Abs.1 AuslG berufen.

13

Nach § 51 Abs.1 AuslG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Diese Voraussetzungen sind deckungsgleich mit denen des Asylgrundrechts, soweit es die Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut, den politischen Charakter der Verfolgung und die Frage, ob eine derartige Verfolgung droht, betrifft

14

(vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Januar 1994 - 9 C 48.92 -, BVerwGE 95, 42).

15

Das Grundrecht des Art. 16 a Abs. 1 GG ist ein Individualgrundrecht. Nur derjenige kann es in Anspruch nehmen, der selbst - in seiner Person - politische Verfolgung erlitten hat, weil ihm in Anknüpfung in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt intensive und ihn aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzende Rechtsverletzungen zugefügt worden sind, und weil er aus diesem Grunde gezwungen war, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Land zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen; dabei steht der eingetretenen Verfolgung die unmittelbar drohende Gefahr der Verfolgung gleich. Politische Verfolgung ist grundsätzlich staatliche Verfolgung

16

(BVerfG, Beschlüsse vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 -, BVerfGE 80, 315 und vom 10. August 2000 - 2 BvR 260/98 – NVwZ 2000, S. 1165 = DVBl. 2000, S. 1518).

17

Übergriffe von Privatpersonen fallen nur dann in den Schutzbereich des Art. 16 a Abs. 1 GG, wenn der Staat für das Tun der Dritten wie für eigenes Handeln verantwortlich ist. Das setzt voraus, dass Verfolgungsmaßnahmen Dritter dem jeweiligen Staat zuzurechnen sind. Hierfür kommt es darauf an, ob der Staat den Betroffenen mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Mitteln Schutz gewährt. Es begründet die Zurechnung, wenn der Staat zur Schutzgewährung entweder nicht bereit ist oder wenn er sich nicht in der Lage sieht, die ihm an sich verfügbaren Mittel im konkreten Fall gegenüber Verfolgungsmaßnahmen bestimmter Dritter einzusetzen. Allerdings ist es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich, einen lückenlosen Schutz vor politisch motivierten Unrecht und Gewalt durch nicht staatliche Stellen oder Einzelpersonen zu garantieren. Entscheidend ist, ob der Staat unter Einsatz der ihm zur Verfügung stehenden Mittel im großen und ganzen Schutz gewährt. Übersteigt hingegen die Schutzgewährung die Kräfte des konkreten Staates, liegt die Schutzgewährung mit anderen Worten jenseits der dem Staat an sich zur Verfügung stehenden Mittel, so endet seine asylrechtliche Verantwortlichkeit

18

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989, aaO; BVerwG, Urteil vom 23. Juli 1991 – 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367, 372).

19

Die Gefahr eigener politischer Verfolgung kann sich aus gegen den Betreffenden selbst gerichtete Maßnahmen des Verfolgers ergeben. Sie kann aber auch auf gegen Dritte gerichtete Maßnahmen beruhen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das der betreffende Flüchtling mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet, mithin seine eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen als eher zufällig zu bezeichnen ist (Gruppenverfolgung). Die unmittelbare Betroffenheit des Einzelnen durch gerade auf ihn zielende Verfolgungsmaßnahmen und die Gruppengerichtetheit der Verfolgung stellen nur Eckpunkte eines durch fließende Übergänge gekennzeichneten Erscheinungsbildes politischer Verfolgung dar. Die Anknüpfung an die Gruppenzugehörigkeit bei Verfolgungshandlungen ist nicht immer eindeutig erkennbar. Oft tritt sie nur als ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit mitprägender Umstand hervor, der - je nach Lage der Dinge - für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Gruppenmitglieds, wohl aber bestimmter Gruppenmitglieder rechtfertigt, die sich in vergleichbarer Lage befinden. Auch solchen Fällen im Übergangsbereich zwischen anlassgeprägter Einzelverfolgung und gruppengerichteter Kollektivverfolgung muss Rechnung getragen werden. So ist die gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung für einen Gruppenangehörigen aus dem Schicksal anderer Gruppenmitglieder möglicherweise auch dann herzuleiten, wenn diese Referenzfälle es noch nicht rechtfertigen, vom Typus einer gruppengerichteten Verfolgung auszugehen (Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit). Hier wie da ist es von Belang, ob vergleichbares Verfolgungsgeschehen sich in der Vergangenheit schon häufiger ereignet hat, ob die Gruppenangehörigen als Minderheit in einem Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung leben müssen, das Verfolgungshandlungen wenn nicht gar in den Augen der Verfolger rechtfertigt, so doch tatsächlich begünstigt, und ob sie ganz allgemein Unterdrückungen und Nachstellungen ausgesetzt sind, mögen diese als solche auch noch nicht von einer Schwere sein, die die Annahme politischer Verfolgung begründet.

20

(BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85,515/89,1827/89 -, BVerfGE 80, 315, 333f.).

21

Die sowohl bei einer individuellen als auch einer landesweiten bzw. regional begrenzten Gruppenverfolgung entscheidende Frage, ob eine Verfolgungsgefahr für die absehbare Zukunft besteht, muss aufgrund einer Prognose beurteilt werden, die - ausgehend von den Verhältnissen im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung - die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Betroffenen in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat

22

(BVerwG, Urteile vom 3. Dezember 1985 - 9 C 22.85 -, NVwZ 1986 S. 760 und vom 5. November 1991 -9 C 118/90-, BVerwGE 89, 162).

23

Für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender asylberechtigt ist, gelten unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik gekommen ist. Hat der Betroffene seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen, ist festzustellen, dass er im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist. Derartig vorverfolgt Ausgereisten ist eine Rückkehr aufgrund veränderter Umstände nur zuzumuten, wenn die Gefahr, erneut mit Verfolgungsmaßnahmen überzogen zu werden, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann

24

(BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 -, BVerfGE 54, 341, 357; BVerwG, Urteil vom 25. September 1984 - 9 C 17.84 -, BVerwGE 70, 169).

25

Demgegenüber kommt dem Schutzbegehren eines unverfolgt Ausgereisten grundsätzlich nur dann Erfolg zu, wenn ihm im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nunmehr aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung droht

26

(vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -, BVerwGE 96, 200).

27

Bei der Prognose, ob dem Ausländer bei seiner Rückkehr in den Heimatstaat politische Verfolgung droht, ist das Staatsgebiet in seiner Gesamtheit in den Blick zu nehmen

28

(BVerwG, Urteil vom 5. Oktober 1999 - 9 C 15.99 - BVerwGE 109, 353).

29

Droht diese Gefahr nur in einem Teil des Heimatstaates, so kann der Betroffene auf Gebiete verwiesen werden, in denen er vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist. Bei gruppengerichteten Bedrohungslagen ist bei der Bestimmung einer derartigen inländischen Fluchtalternative zunächst zu unterscheiden, ob es sich um eine regionale oder eine örtlich begrenzte Gruppenverfolgung handelt.

30

Kennzeichen einer "regionalen" Gruppenverfolgung ist es, dass der unmittelbar oder mittelbar verfolgende Staat die gesamte, durch ein oder mehrere Merkmale oder Umstände verbundene Gruppe im Blick hat, sie aber - als "mehrgesichtiger Staat" - beispielsweise aus Gründen politischer Opportunität nicht oder jedenfalls derzeit nicht landesweit verfolgt

31

(BVerwG, Urteil vom 30. April 1996 - BVerwGE 101, 134).

32

"Regional" ist diese Verfolgung, weil sie nicht landesweit, sondern nur regional praktiziert wird. Die außerhalb der Verfolgungsregion lebenden Angehörigen der verfolgungsbetroffenen Gruppe bleiben dabei aber nur aus politischem Kalkül oder ähnlichen Gründen unbehelligt, die dem unmittelbar oder mittelbar verfolgenden Staat eine "Regionalisierung" seines Vorgehens angezeigt erscheinen lassen. Bei einer derartigen "Regionalisierung" des äußerlichen Verfolgungsgeschehens, das unter ungewissen Bedingungen stets in eine landesweite Verfolgung umschlagen kann, bleiben die außerhalb der Region, in der die Verfolgung praktiziert wird, lebenden Gruppenmitglieder mitbetroffen. Anders ist es hingegen, wenn sich die Verfolgungsmaßnahmen nicht gegen alle durch übergreifende Merkmale wie Ethnie oder Religion verbundene Personen richten, sondern nur gegen solche, die (beispielsweise) zusätzlich aus einem bestimmten Ort oder Gebiet stammen oder dort ihren Wohnsitz oder Aufenthalt oder Grundbesitz haben. Dann besteht schon die Gruppe, die der Verfolger im Blick hat, lediglich aus solchen Personen, die alle Kriterien - etwa Religion einerseits, Gebietsbezogenheit andererseits - erfüllen. Bei dieser "örtlich begrenzten" Verfolgung sind die Angehörigen der religiösen oder ethnischen Gemeinschaft, die nicht gleichzeitig auch die weiteren die Gruppe konstituierenden Merkmale - etwa die Gebietsansässigkeit - in eigener Person aufweisen, von der Verfolgung von vornherein nicht betroffen Im Falle einer derartigen örtlich begrenzten Gruppenverfolgung stellt sich anders als bei einer regionalen Gruppenverfolgung nicht die Frage nach einer zumutbaren inländischen Fluchtalternative. Denn die Annahme einer inländischen Fluchtalternative beruht darauf, dass ein von regionaler politischer Verfolgung betroffener Bürger eines Staates erst dann politisch Verfolgter ist, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage gerät, weil er in anderen Teilen seines Heimatlandes eine zumutbare Zuflucht nicht finden kann. Bei einer örtlich begrenzten Verfolgung ist die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung außerhalb des örtlich begrenzten Verfolgungsgebiets aber schon begrifflich nahezu ausgeschlossen. Ist die Verfolgung strikt auf bestimmte Gebiete begrenzt, sind Verfolgungen in einem anderen Gebiet nicht wahrscheinlich

33

(BVerwG, Urteil vom 9. September 1997 - 9 C 43/96 - BVerwGE 105, 204; Beschluss vom 8. März 2000 - 9 B 620.99 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr 231).

34

Sowohl bei einer regionalen wie auch bei einer örtlich begrenzten Verfolgung kann eine Ausweichmöglichkeit im Herkunftsland zudem aber nur angenommen werden, wenn die in Betracht zu ziehenden Orte oder Regionen noch zum Territorium des Verfolgers zählen und dort - nach dem allgemeinen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit - auch nicht andere unzumutbaren Nachteile drohen, die am Herkunftsort so nicht bestünden

35

(vgl. BVerwG, Urteile vom 8. Dezember 1998 - 9 C 17/98 -, BVerwGE 108, 84, und vom 5. Oktober 1999 - 9 C 15.99 - BVerwGE 109, 353).

36

Dem erforderlichen Vergleich mit der Situation am Herkunftsort liegt die Überlegung zugrunde, dass dem regional Verfolgten zwar nicht zugemutet werden darf, sich, um der Verfolgung zu entgehen, in eine existenzielle Notlage zu begeben, dass er aber dann, wenn er dieser Notlage bereits an seinem Herkunftsort ausgesetzt war, durch die Wohnsitznahme am verfolgungssicheren Ort keine verfolgungsbedingte und darum unzumutbare Verschlechterung seiner Lebensumstände erleidet

37

(BVerwG, Urteil vom 9. September 1997 - 9 C 43/96 - BVerwGE 105, 204).

38

In der Russischen Föderation gibt es eine staatliche landesweite Gruppenverfolgung in Anknüpfung an den moslemischen Glauben, die Herkunft aus dem Kaukasus oder einem "südländischen" Aussehen weiterhin nicht. Diese Merkmale betreffen eine sehr große Bevölkerungsgruppe, bestehend zum einen aus Menschen, die in Folge mehrerer Flüchtlingsströme z. B. aus Armenien und Aserbaidschan (wegen des Konfliktes um Nagorny-Karabach ) oder aus Georgien (wegen des Konfliktes in Südossetien) in die Russische Föderation gekommen sind, zum anderen in großen Gebieten wie Tschetschenien, Dagestan, Karbadino-Balkarien, Inguschetien, Nordossetien und den Siedlungsgebieten von Tscherkessen und Kalmücken etc. innerhalb der Russischen Föderation die Bevölkerungsmehrheit stellen oder sich von dort aus in andere Regionen der Russischen Föderation, insbesondere die wirtschaftlich reizvolleren Großstädte, begeben haben. Für den gesamten Bereich der Russischen Föderation werden zwar immer wieder einzelne Übergriffe von Angehörigen der Sicherheitsbehörden und aus der Bevölkerung sowie speziell für die Regionen mit russischen Bevölkerungsmehrheiten administrative Behinderungen gegenüber Kaukasiern, etwa bei der Beschaffung von Wohnraum, den Möglichkeiten der Arbeitsaufnahme und verschiedenen Zuzugs- und Registrierungsformalitäten bekannt.

39

(vgl. AA, Lageberichte vom 15. November 2000, 28. August 2001 und 7. Mai 2002; UNHCR vom November 2000 und Januar 2002; ai an VG Bremen vom 12. November 1998 und Bericht über Tschetschenien vom 01. Dezember 1999),

40

auch für Tschetschenen und andere Kaukasier besteht aber grundsätzlich das allgemeinen, von der russischen Verfassung gewährte Recht auf Wohnsitznahme in der gesamten Russischen Föderation

41

(vgl. AA an VG Braunschweig vom 12. Dezember 2001 und an VG Karlsruhe vom 26. April 2002).

42

Berichtet wird allerdings von einer in der russischen Bevölkerung (ethnische Russen) latent vorhandenen nationalistischen und antisemitischen Strömung. Diese äußere sich u.a. in spürbaren Antipathien und einem tiefverwurzelten Misstrauen im Sinne traditioneller Vorurteile gegenüber den „politisch verdächtigen“ Kaukasusvölkern, welche möglicherweise durch die maffiaähnlichen Aktivitäten einzelner Gruppen gefördert würden, deren Zusammenhalt wesentlich durch die kaukasische Herkunft ihrer Mitglieder bestimmt sei. Dies gehe z.T. sogar so weit, dass in Sankt Petersburg über stadteigene Sender zu ethnischen Säuberungen aufgerufen worden sei

43

(AA, Lagebericht vom 22. Mai 2000, AA an BAFL vom 30. Mai 2000, an VG Trier vom 07. Oktober 1998 und an VG Schwerin vom 14. Juni 1999; UNHCR vom November 2000 und Januar 2002; taz vom 1. November 2001, Die Welt vom 11. Februar 2002).

44

Nach den Sprengstoffanschlägen im September 1999 in Moskau kam es im Rahmen der Antiterroraktion „Wirbelwind“ auch in größerer Zahl zu Menschenrechtsverletzungen. Nach den Angaben von amnesty international haben in Moskau daran 22.000 Beamte der Strafverfolgungsbehörden teilgenommen, zusätzlich 9.000 Polizeibeamte sind aus anderen Städten hierfür nach Moskau entsandt worden. Amnesty international bewertet diese Maßnahme als massive Einschüchterungskampagne gegen Tschetschenen und andere aus dem Kaukasus stammende Personen Die Überprüfung des Besitzes von Wohnerlaubnissen und der Registrierung habe als Vorwand gedient, um jede Person, die aus dem Kaukasus zu stammen scheine, für eine Identitätsprüfung auf der Straße anzuhalten und anschließend festzunehmen. Bis zu 20.000 Nichtmoskowiter seien dabei vorläufig festgenommen, mehr als die Hälfte sei die offizielle Registrierung und eine Wohnerlaubnis verweigert worden. Moskauer Beamte hätten angegeben, dass ungefähr 10.000 Nichtmoskowiter , die keine Wohnerlaubnis besessen hätten und denen die Registrierung verweigert worden sei, aus der Stadt ausgewiesen worden seien

45

(ai, Bericht über Tschetschenien vom 01. Dezember 1999; ai an VG Ansbach vom 12. Januar 2001).

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Ebenfalls im Anschluss an die Sprengstoffanschläge erließ der Moskauer Bürgermeister Luzhkov am 13. September 1999 die Verfügung Nr. 1007 „über dringende Maßnahmen, die Registrierung von vorübergehend in Moskau wohnenden Staatsangehörigen sicherzustellen“. Darin wurde geregelt, dass sich alle nur vorübergehend in Moskau wohnhaften Bürger innerhalb von drei Tagen erneut registrieren lassen müssten; die Nichtregistrierung habe die Ausweisung aus der Stadt zur Folge. Nach verschiedenen Berichten sei diese kurze Frist vor allem von Flüchtlingen, die oft Hals über Kopf und ohne Papiere ihre Heimatregionen verlassen hätten, nicht einzuhalten gewesen, so dass ihre Abschiebung aus Moskau und von dort u.a. auch nach Tschetschenien die Folge gewesen sei

47

(IGFM an VG Ansbach vom 25. Oktober 1999; ai, Bericht über Tschetschenien vom 01. Dezember 1999; AA, Lagebericht vom 22. Mai 2000; ai an VG Ansbach vom 12. Januar 2001).

48

Sowohl bei den Übergriffen im Einzelfall als auch bei den genannten Großaktionen handelt es sich aber nicht um Maßnahmen, die darauf abzielen, die gesamte Bevölkerungsgruppe der Personen kaukasischer Herkunft vollständig aus dem Staatsgebiet der Russischen Föderation zu vertreiben oder diese gar zu vernichten. Dies ist weder das erklärte noch das anderweitig erkennbare Ziel der russischen Regierung. Zwar kann - wegen der bereits angesprochenen Ressentiments von Russen gegenüber Kaukasiern - angenommen werden, dass es den jeweils Verantwortlichen nicht nur darum geht oder ging, in tschetschenischen Kreisen vermutete Terroristen zu finden, sondern wohl auch darum, den Zustrom von Flüchtlingen in die russischen Großstädte zu stoppen bzw. ihre Zahl zu verringern. Sie haben dabei auch zu ungesetzlichen Mitteln gegriffen. Im Vordergrund stand dabei aber offenbar, die entsprechende Bevölkerungsgruppe in ihre angestammten Herkunftsgebiete innerhalb der Russischen Föderation zurückzudrängen (allerdings ohne Rücksicht auf die dortigen Zustände) oder eine weitere Zuwanderung aus diesen Gebieten zu verhindern, nicht aber, sie zu vernichten oder außer Landes zu treiben.

49

Insgesamt sind zudem im Vergleich zur Größe der Bevölkerungsgruppe der Kaukasier zu wenige asylrelevante Vorfälle und Übergriffe dokumentiert, um eine Situation der unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung annehmen zu können

50

(vgl. auch VG Oldenburg, Urteile vom 5. Februar 2002 - 1 A 4782/99 - und vom 12. Februar 2002 - 1 A 3689/99 - , jeweils mwN).

51

Diese Beurteilung hat auch angesichts der aktuellen Ereignisse nach der Geiselnahme in einem Moskauer Theater Ende Oktober 2002 Bestand. Im Anschluss daran ist es zwar zu einer Zunahme der antitschetschenischen Stimmungen in Russland gekommen

52

(vgl. FAZ vom 29. Oktober 2002, FR vom 19. November 2002, Welt am Sonntag vom 24. November 2002).

53

Gleichzeitig wird über eine Verstärkung der sog. „antiterroristischen Polizei-Aktion“ in Tschetschenien berichtet

54

(Welt am Sonntag vom 24. November 2002, IGFM, Pressemitteilung vom 28. November 2002).

55

Andererseits sah das Internationale Komitee vom Roten Kreuz nach einer Verlautbarung vom 6. November 2002 zu diesem Zeitpunkt noch keine negativen Auswirken des Geiseldramas auf ihre Arbeit in Tschetschenien

56

(vgl. NZZ vom 7. November 2002).

57

Im Hinblick auf die Situation in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens wurde in der Berichterstattung zu der Geiselbefreiung außerdem herausgestellt, dass der russische Präsident Putin sich in den Tagen des Geiseldramas nur zweimal kurz an die Bevölkerung gewandt habe, wobei er in einer Rede insbesondere vor nationalistischen Übergriffen gewarnt habe

58

(vgl. FAZ vom 29. Oktober 2002).

59

Insgesamt lassen sich den Presse-Berichten über die gewaltsame Beendigung der Geiselnahme und deren Folgen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass in der Russischen Föderation nunmehr für alle Personen südländischen Aussehens oder moslemischen Glaubens eine Situation der Gruppenverfolgung bestehen könnte, nicht entnehmen. Gegen die Annahme eines entsprechenden Verfolgungsprogramms sprechen bereits die zitierten Verlautbarungen des russischen Präsidenten. Auch Berichte über pogromartige Ausschreitungen oder entsprechend drastische Übergriffe gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe liegen nicht vor. Das Auswärtige Amt erwähnt in dem aktuellen Lagebericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 27. November 2002 allerdings, dass derzeit kaukasisch aussehende Personen unter einer Art Generalverdacht stünden, so dass die auch in der deutschen Presse beschriebenen verstärkten Kontrollmaßnahmen aller Art (Ausweiskontrollen, Wohnungsdurchsuchungen, Abnahme von Fingerabdrücken) nicht von der Hand zu weisen seien. Russische Menschenrechtsorganisationen berichteten von einer verschärften Kampagne der Miliz gegen Tschetschenen, bei denen einziges Kriterium die ethnische Zugehörigkeit sei. Außerdem sei davon auszugehen, dass abgeschobenen Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden gewidmet werde, insbesondere solchen Personen, die sich in der Tschetschenienfrage engagiert hätten bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellten. Sowohl der Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages als auch der Sonderberichterstatter der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen zum Thema Folter befassten sich deshalb derzeit unter dem Aspekt der besonderen Gefährdung mit geplanten Abschiebungen von Tschetschenen aus Deutschland in die Russische Föderation. Diese Ausführungen machen deutlich, dass sich die Situation für Tschetschenen in der Russischen Föderation durch die Vorfälle Ende Oktober 2002 nochmals erheblich verschärft hat. In Einzelfällen und im Vorfeld staatlicher Maßnahmen dürften davon auch nichttschetschenische Volkszugehörige mit südländischem Aussehen beeinträchtigt sein, so etwa bei Personenkontrollen und Durchsuchungen. Im Mittelpunkt dieser Aktivitäten steht aber offenkundig weiterhin eine spezifische Eingrenzung der Zielrichtung dieser Maßnahmen auf tschetschenische Volkszugehörige und innerhalb dieser Gruppe wohl auch weiterhin auf solche Personen, die im Verdacht stehen, mit den Zielen der tschetschenischer Rebellen zu sympathisieren. Da allein wegen der Sprachkenntnisse auch für russische Volkszugehörige bzw. Angehörige der russischen Sicherheitsbehörden tschetschenische Volkszugehörige von anderen südländisch aussehenden Personen unterschieden werden können, liegt es auch fern, dass unabhängig von der subjektiven Zielrichtung der Maßnahmen objektiv alle südländisch aussehenden Personen in der Russischen Föderation nicht nur mehr Kontrollen über sich ergehen lassen müssen, sondern auch daran anknüpfende Übergriffe und Misshandlungen von einer Häufigkeit und Intensität, die eine Gruppenverfolgung für diesen großen und kaum eingrenzbaren Personenkreis begründen könnte.

60

In der Russischen Föderation gibt es auch eine staatliche landesweite Gruppenverfolgung aller Tschetschenen wegen ihrer Volkszugehörigkeit nicht. Dem Kläger kann Abschiebungsschutz wegen gruppengerichteter Maßnahmen nicht gewährt werden. Insofern kann offen bleiben, ob für den Bereich Tschetscheniens eine Situation der Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger vorliegt, da es sich hierbei allenfalls um eine örtlich begrenzte, nicht aber um eine regionale Verfolgung im Sinne der dargelegten Kriterien der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts handeln würde.

61

Nach dem Rückzug der russischen Armee aus Tschetschenien und dem Vertrag von Chasawjurt im Jahr 1996 übte Russland dort mehrere Jahre lang die Staatsgewalt nicht mehr aus. Die Macht lag in der Hauptstadt Grosny bei dem tschetschenischen Präsidenten Maschadow, im Übrigen bei sog. "Feldkommandeuren". Staatliche Strukturen fehlten, die soziale Infrastruktur war weitgehend zusammengebrochen. Wegen der grassierenden Kriminalität stellten die meisten ausländischen Hilfsorganisationen ihr Engagement in Tschetschenien weitgehend ein

62

(vgl. AA, Lageberichte vom 22. Mai 2000, 24. April 2001 und 28. August 2001; AA an VG Bremen vom 13. Mai 1997; UNHCR an VG Bremen vom 5. Mai 1997; ai an VG Bremen vom 24. Oktober 1997; SZ vom 7. Juli 1999; NZZ vom 5. August 2000).

63

Im Sommer 1999 kam es erneut zu militärischen Auseinandersetzungen, ausgehend von Angriffen tschetschenischer Kämpfer auf verschiedene Grenzorte in Dagestan. Die russische Armee bombardierte darauf Stützpunkte der Rebellen in Tschetschenien. In Reaktion auf mehrere Bombenanschläge in Moskau und weiteren Großstädten Russlands wurde auch Grosny bombardiert, im September 1999 überschritten russische Bodentruppen die tschetschenische Grenze

64

(AA, Lageberichte vom 15. November 2000, 24. April 2001 und 28. August 2001; Schweizerische Flüchtlingshilfe - SFH - vom Januar 2001; FAZ vom 19. Juni 1999; Die Welt vom 8. Juli 1999, FAZ vom 2. August 2000; NZZ vom 9. August 2000; FAZ vom 12. August 2000; Die Welt vom 19. August 2000; FAZ vom 14. September 2000; FR vom 17. September 2000; NZZ vom 24. September 2000; SZ vom 27. September 2000; FR vom 1. Oktober 2000).

65

Nach heftigen Kämpfen räumten die tschetschenischen Rebellen Grosny Ende Januar 2000, zogen sich in die südlichen Bergregionen Tschetscheniens zurück und kündigten an, einen Partisanen-Krieg gegen die russische Armee zu führen. Hierzu gehören Anschläge auf Militäreinheiten ebenso wie die Entführung russischer Repräsentanten, aber auch von Mitarbeitern dort noch verbliebener oder vorübergehend wieder zurückgekehrter internationaler Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen,

66

(SZ vom 6. Oktober 1999; FR vom 9. Oktober 1999; FR vom 20. Oktober 1999; FAZ vom 13. November 1999; FR vom 1. Dezember 1999; FAZ vom 15. Dezember 1999; FR vom 24. Dezember 1999; SZ vom 2. Februar 2000; NZZ vom 11. Januar 2001, NZZ vom 12. Januar 2001; SZ vom 16. März 2001; Die Welt vom 30. August 2001).

67

Ende Februar 2000 wurde von offizieller russischer Seite zwar der Sieg in Tschetschenien gemeldet

68

(FAZ vom 1. März 2000).

69

In der Folgezeit kam es aber weiterhin zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der russischen Armee und tschetschenischen Rebellen

70

(SFH vom Januar 2001; NZZ vom 29. März 2000; Der Spiegel vom 10. April 2000; SZ vom 12. Mai 2000; FR vom 26. Mai 2000; NZZ vom 9. Juni 2000; Die Welt vom 28. Juni 2000; FAZ vom 3. Juli 2000; FR vom 12. Oktober 2000; FR vom 19. Dezember 2000),

71

die sich trotz der wiederholten Ankündigung von Teilabzügen russischer Einheiten

72

(SZ vom 23. Januar 2001; Die Welt vom 14. November 2001)

73

bis heute fortsetzen

74

(AA, Lageberichte vom 7. Mai und 27. November 2002; GfbV vom 15. Oktober 2002; IGFM vom 28. November 2002; Welt am Sonntag vom 30. Juni 2002 und 24. November 2002; SZ vom 20. August 2002; FAZ vom 28. Oktober 2002; Spiegel vom 25. November 2002; FR vom 27. November 2002; taz vom 24. Dezember 2002; FAZ vom 30. Dezember 2002; NZZ vom 30. Dezember 2002 und 3. Januar 2003).

75

Bereits im Zuge des russischen Vormarschs 1999 wurden Misshandlungen von Zivilisten und Flüchtlingen gemeldet sowie Vorwürfe laut, dass die russische Armee wahllos zivile Ziele bombardiere und verbotene Waffen, etwa Spielzeugbomben, einsetze.

76

(ai vom Dezember 1999; FR vom 7. Oktober 1999; FAZ vom 13. November 1999; Der Spiegel vom 29. November 1999; FR vom 4. Dezember 1999; FR vom 24. Dezember 1999).

77

Daneben wurde immer häufiger über schwere Menschenrechtsverletzungen wie Vergewaltigungen, Tötungen von Zivilisten, willkürliche Exekutionen und Plünderungen, begangen bei Übergriffen durch Mitglieder der Militäreinheiten, berichtet

78

(ai vom Dezember 1999; AA, Lageberichte vom 15. Februar 2000 und 22. Mai 2000; Die Zeit vom 3. Februar 2000; NZZ vom 9. Februar 2000; Die Welt vom 11. Februar 2000; SZ vom 26. Februar 2000; FR vom 27. April 2000).

79

Bereits im Verlauf des Jahres 2000 gaben nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Rundschau russische Soldaten bei Befragungen zu, dass Folter und Mord an gefangenen Rebellen und Zivilisten meist die Regel und selten die Ausnahme in den Einheiten seien. Ernsthafte Untersuchungen oder die strafrechtliche Verfolgung derartiger Übergriffe erfolgten nicht

80

(FR vom 3. Juni 2000; SZ vom 10. Oktober 2000; SZ vom 11. Oktober 2000; FR vom 12. Oktober 2000; FR vom 13. Oktober 2000).

81

Für die Folgezeit ist eine Änderung der Situation nicht zu verzeichnen. Kontinuierlich wird von willkürlichen Verhaftungen bei den häufigen Kontrollen und "Säuberungen", dem Festhalten von Zivilisten in Erdgruben und damit verbundenen Lösegelderpressungen, wahllosen Plünderungen und anderen massiven Übergriffen und Menschenrechtsverletzungen durch die russischen Sicherheitsorgane in Tschetschenien berichtet

82

(Politkovskaja, Tschetschenien - Die Wahrheit über den Krieg, S. 119ff; AA, Lageberichte vom 15. November 2000, 24. April 2001, 28. August 2001; 7. Mai 2002 und 27. November 2002; SFH vom Januar 2001; GfbV vom August 2001, September 2001 und vom 8. Februar 2002; ai vom 24. September 2001, 8. Oktober 2001, 20. Februar 2002 und 29. Oktober 2002; IGFM vom 28. November 2002; Die Welt vom 23. Februar 2001; FAZ vom 26. Februar 2001; Die Zeit vom 1. März 2001; FAZ vom 22. März 2001; NZZ vom 23. Juni 2001; FAZ vom 7. Juli 2001; NZZ vom 10. Juli 2001; taz vom 6. August 2001; FR vom 3. September 2001; NZZ vom 29. September 2001; NZZ vom 5. Dezember 2001; SZ vom 7. Januar 2002; FAZ vom 25. Januar 2002; FR vom 2. Februar 2002; FR vom 12. März 2002; NZZ vom 16. März 2002; NZZ vom 22. April 2002; FR vom 3. Juni 2002; Die Welt vom 3. Juli 2002; Welt am Sonntag vom 8. September 2002; NZZ vom 25. Oktober 2002; taz vom 11. Februar 2003).

83

Auch nach jüngsten Berichten werden immer wieder meist junge Männer abgeholt und verschwinden spurlos oder werden Tage später tot aufgefunden

84

(FAZ vom 8. Februar 2003; FR vom 17. Februar 2003).

85

Darüber hinaus konkretisierten sich bereits im Frühjahr 2000 vor allem auf der Grundlage entsprechender Berichte von Flüchtlingen in Inguschetien bereits vorher etwa von amnesty international geäußerte Befürchtungen, dass in Tschetschenien mehrere sog. "Filtrationslager" errichtet worden sind, in denen vornehmlich männliche Jugendliche und Männer, aber auch Frauen tschetschenischer Volkszugehörigkeit vergewaltigt, geschlagen und gefoltert wurden unter dem Vorwand, tschetschenische Rebellen ausfindig zu machen. Die Festnahmen erfolgen bei den sog. "Säuberungen" ganzer Dörfer oder Siedlungen sowie gezielten Kontrollen und Überprüfungen. Eine Freilassung gelingt oft nur durch die Zahlung von Lösegeld. Nach dem Fund eines Massengrabes bei der Militärbasis Chankala in der Nähe von Grosny erhärtete sich zudem der Verdacht, dass in diesen Lagern Exekutionen stattfinden

86

(Politkovskaja, Tschetschenien - Die Wahrheit über den Krieg, S. 48 ff; ai vom Dezember 1999; AA, Lageberichte vom 15. November 2000, 24. April 2001, 28. August 2001; 7. Mai 2002 und 27. November 2002; IGFM vom 6. April 2001; Human Rights Watch vom Mai 2001; GfbV vom September 2001; ai vom 8. Oktober 2001; FR vom 11. Februar 2000; Die Zeit vom 24. Februar 2000; FAZ vom 1. März 2000; taz vom 2. März 2000, FAZ vom 6. März 2001; Der Spiegel vom 6. März 2000; FR vom 27. April 2000; FAZ vom 26. Oktober 2000; NZZ vom 20. November 2000; FR vom 22. März 2001; taz vom 19. Juni 2002; NZZ vom 28. Juni 2002; FAZ vom 25. Juli 2002).

87

Selbst die Vertreter der von Moskau eingesetzte tschetschenische Verwaltung kritisierten wiederholt, aber erfolglos die Übergriffe von Angehörigen der russischen Sicherheitsorgane auf die tschetschenische Zivilbevölkerung sowie die anhaltende Praxis von "Massensäuberungen" und forderten einen besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor willkürlicher Verfolgung.

88

(AA, Lagebericht vom 24. April 2001; FAZ vom 19. September 2000; FR vom 23. September 2000; Die Welt vom 5. Juni 2001; FAZ vom 7. Juli 2001; NZZ vom 10. Juli 2001; NZZ vom 12. Juli 2001; SZ vom 13. Juli 2001; taz vom 17. Juli 2001; NZZ vom 18. Juli 2001; NZZ vom 20. Juli 2001; NZZ vom 20. November 2002).

89

Ebenso erfolglos blieben internationale Einwände. Im September 2000 kritisierte der Europarat zum wiederholten Male die fortdauernden Menschenrechtsverletzungen. Von den russischen Truppen würden Dörfer mit wenig Rücksicht auf das Leben der Zivilbevölkerung beschossen, Erpressung und Schikanierung der Bewohner an den vielen Kontrollstellen innerhalb Tschetscheniens seien eher die Regel als die Ausnahme und immer wieder fänden willkürliche Verhaftungen verbunden mit Folter und Misshandlungen statt

90

(NZZ vom 29. September 2000).

91

Bereits im April 2000 hatte die Parlamentarische Versammlung des Europarates der russischen Abgeordnetendelegation wegen der bis dahin bekannt gewordenen Gewaltexzesse das Stimmrecht entzogen. Im Vorfeld einer Delegation zur Überprüfung der Situation im Januar 2001 wies der Vorsitzende des politischen Ausschusses, Lord Judd, auf die deutliche Diskrepanz zwischen der Vielzahl von Berichten über Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien einerseits und der Passivität der Justiz andererseits hin. In einem Bericht im Anschluss an die Reise sah sich Lord Judd darin im Wesentlichen bestätigt. So würden etwa die von Menschenrechtsorganisationen dokumentierten Massaker an tschetschenischen Zivilisten in Alchan-Jurt , Staropromyslowski und Aldy nicht gerichtlich untersucht. Leichte Fortschritte seien jedoch insofern zu verzeichnen, als ein Teil der Truppen aus der Region abgezogen und die Zahl der Straßenkontrollposten reduziert worden seien. Diese Fortschritte waren Anlass für den Europarat, den russischen Abgeordneten das Stimmrecht zurückzugeben

92

(AA, Lageberichte vom 15. November 2000 und vom 24. April 2001; NZZ vom 16. Januar 2001; NZZ vom 19. Januar 2001; SZ vom 29. Januar 2001).

93

Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Alvaro Gil-Robles, zeigte sich jedoch nach einem weiteren Besuch in Tschetschenien erneut erschüttert über die Lage. Er wies dabei auf mehrere Aussagen ehemaliger Geiseln hin, die bis zu einer Lösegeldzahlung von russischen Soldaten in Erdlöchern festgehalten worden seien. Er habe in Tschetschenien ein Ödland mit Geisterstädten, Hunger, Verzweiflung und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung vorgefunden

94

(NZZ vom 5. März 2001; FR vom 5. März 2001).

95

Scharfe Kritik an dem Vorgehen Russlands in Tschetschenien übte der Europarat erneut im Sommer 2001. Die russischen Strafverfolgungsbehörden gingen immer noch nicht konsequent gegen Straftäter innerhalb der Streitkräfte vor, eine gründliche und unabhängige Untersuchung von Kriegsverbrechen werde verhindert

96

(dpa vom 27. Juni 2001; FR vom 11. Juli 2001).

97

Diese Kritik wurde nach weiteren Delegationsreisen des Europarates im Dezember 2001 und Januar 2003 aufrecht erhalten. Danach habe sich die Menschenrechtslage nicht gebessert, die russischen Behörden seien offenbar unfähig, die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen zu beenden.

98

(FR vom 7. Dezember 2001; Das Parlament vom 3. Februar 2003).

99

Die Auswertung der genannten Berichte und Auskünfte ergibt, dass die in Tschetschenien seit dem Sommer 1999 agierenden russischen Sicherheitsorgane massive Übergriffe gegenüber Zivilisten und sowohl in der Anzahl als auch im Ausmaß erhebliche Menschenrechtsverletzungen begehen, ohne dass sich eine Verbesserung der Lage abzeichnet. Die Vorgehensweise des Militärs lässt sich nicht auf Exzesstaten einzelner Soldaten reduzieren, da hierfür zu viele Übergriffe, verteilt über das gesamte Territorium Tschetscheniens bekannt geworden sind und darüber hinaus, trotz erheblichen internationalen Drucks, der ernsthafte Wille, die menschenrechtswidrigen Übergriffe gegenüber Gefangenen und Zivilisten aufzuklären und zu ahnden, nicht erkennbar ist

100

(so auch VG Ansbach, Urteil vom 8. Mai 2001 - AN 10 K 00.32076 - V.n.b. - ; VG Koblenz, Urteil vom 29. November 2002 - 7 K 2276/02.KO - V.n.b.).

101

Es spricht Vieles dafür, dass die Angriffe und Übergriffe der Sicherheitskräfte in Tschetschenien auch die Zivilbevölkerung in Anknüpfung an die tschetschenische Volkszugehörigkeit treffen, um diese von einer gerade aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit für möglich gehaltenen Unterstützung der tschetschenischen Rebellen abzuhalten, mithin dort für tschetschenische Volkszugehörige (weiterhin) eine Situation der Gruppenverfolgung besteht. Dies kann aber dahinstehen, da es sich hierbei allenfalls um eine auf die Region Tschetscheniens örtlich begrenzte Verfolgungslage handeln könnte. Denn die Situation tschetschenischer Volkszugehöriger außerhalb dieser Region, insbesondere in den angrenzenden Gebieten Inguschetiens und Dagestans, unterscheidet sich deutlich von den Verhältnissen, die in Tschetschenien anzutreffen sind. Diese Unterschiede lassen es nicht zu, hier eine auf das gesamte Gebiet der Russischen Föderation bezogene landesweite oder jedenfalls eine regionale Gruppenverfolgung im Sinne der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anzunehmen. Besonders deutlich wird dieser Unterschied der Situation in Tschetschenien und den angrenzenden Gebieten darin, dass viele Flüchtlinge aus Tschetschenien in den Nachbarregionen, insbesondere in Inguschetien, Zuflucht suchten und fanden.

102

Die Luftangriffe im Sommer 1999 und der anschließende Einsatz von Bodentruppen lösten umgehend eine Flüchtlingsstrom aus, wobei sich die meisten Flüchtlinge nach Inguschetien, andere nach Dagestan und in die Region Stawropol begaben. Ein Großteil der Flüchtlinge kam bei Verwandten und Bekannten unter, viele waren aber auf die Versorgung in Flüchtlingslagern angewiesen. Schnell entstanden verschiedene dieser Lager, zunächst in nur notdürftig errichteten Zeltstädten, leerstehenden Ställen oder in Eisenbahnwaggons, die den Flüchtlingen zur Verfügung gestellt worden sind.

103

(AA, Lageberichte vom 15. November 2000, 24. April 2001 und 28. August 2001; UNHCR vom Januar 2002; FR vom 29. September 1999; SZ vom 29. September 1999; SZ vom 15. November 1999; Die Welt vom 16. November 1999; NZ vom 23. November 1999).

104

Für einige Tage Ende Oktober 1999 wurde von russischer Seite aus versucht, den Flüchtlingsstrom nach Inguschetien zu unterbinden und die Grenze zu schließen. Nach internationalen Protesten konnten die Flüchtlinge bald aber wieder unkontrolliert die Grenze passieren

105

(NZZ vom 25. Oktober 1999; FR vom 5. November 1999).

106

Nach den ersten schnellen militärischen Erfolgen der russischen Armee kehrten zwar im Januar 2000 die ersten Flüchtlinge in Gebiete Tschetscheniens zurück, die nicht mehr umkämpft waren

107

(NZ vom 12. Januar 2000; SZ vom 15. Januar 2000; taz vom 19. Januar 2000).

108

Bereits im Anschluss an die Räumung Grosnys stiegen die Flüchtlingszahlen aber wieder an und auch in der Folgezeit kehrten die meisten Flüchtlinge nicht in ihre Heimatorte in Tschetschenien zurück

109

(GfbV vom August und September 2001; NZZ vom 4. Juli 2000; dpa vom 5. September 2000; NZZ vom 9. Februar 2000 und 15. November 2000; NZ vom 15. Februar 2001; FAZ vom 9. August 2001; FR vom 7. Dezember 2001).

110

Erste Versuche der russischen Behörden, etwa durch die Verlegung eines Waggon-Lagers über die Grenze von Inguschetien nach Tschetschenien und durch die zeitweise Einstellung der Verteilung von Brot und warmen Mahlzeiten in den Flüchtlingslagern Inguschetiens Druck auf die Flüchtlinge auszuüben, nach Tschetschenien zurückzukehren, blieben erfolglos

111

(AA, Lagebericht vom 15. November 2000; ai an VG Ansbach vom 12. Januar 2001; IGFM vom 19. Juni 2001 und vom 23. Oktober 2001; FAZ vom 6. Juni 2000; NZZ vom 4. Juli 2000).

112

Die Zahl der Flüchtlinge verringerte sich kaum. Im Gegenteil kam es wegen der immer wieder aufflammenden Auseinandersetzungen und der Vorgehensweise der russischen Militär- und Sicherheitsbehörden bei "Säuberungen" ganzer Dörfer zu neuen Fluchtbewegungen.

113

(AA, Lageberichte vom 15. November 2000; 24. April 2001 und 28. August 2001; NZZ vom 12. Juli 2000; NZZ vom 10. Juli 2001; FR vom 9. Januar 2001; taz vom 31. Juli 2001).

114

Im Sommer 2002 forcierten die russischen Behörden ihre Bemühungen um die Rückführung tschetschenischer Flüchtlinge aus den Nachbarregionen und den in Tschetschenien befindlichen Flüchtlingslagern

115

(Politkovskaja, Tschetschenien - Die Wahrheit über den Krieg, S. 169; AA an VG Bremen vom 21. August 2002; UNHCR vom 9. Juli 2002; Berliner Zeitung vom 26. Juni 2002).

116

Bereits die Schließung zweier Lager für Vertriebene innerhalb Tschetscheniens in Snamenskoje und die zwangsweise Rückführung der Flüchtlinge nach Grosny stieß allerdings auf vielfältigen internationalen Protest, unter anderem des UNHCR und der Internationalen Helsinki-Föderation

117

(NZZ vom 13. und 24. Juli 2002).

118

Der internationale Druck hatte im September 2002 jedenfalls insoweit Erfolg, als der neue Präsident Inguschetiens, Sjawikow, dem UNHCR zusagte, das Prinzip der freiwilligen Rückkehr der Flüchtlinge zu akzeptieren und Inguschetien weiterhin ein sicherer Fluchtpunkt für Vertriebene aus Tschetschenien bleiben werde

119

(UNHCR vom 17. September 2002).

120

Zweifel, dass diese Zusagen eingehalten werden, ergaben sich jedoch nach der Geiselnahme in einem Moskauer Musiktheater. So berichtete die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte am 29. Oktober 2002 über die Verschleppung des Leiters eines tschetschenischen Flüchtlingslagers in Inguschetien und am 31. Oktober 2002 über ultimative Aufforderungen an die Flüchtlinge zur Rückkehr nach Tschetschenien, denen zum einen durch die Einstellung der Gas- und Stromversorgung für die Lager, zum anderen durch "Säuberungs"-Razzias russischer Sondereinheiten in den Lagern Nachdruck verliehen werden sollte

121

(IGFM vom 29. und 31. Oktober 2002).

122

Ende November/Anfang Dezember 2002 häuften sich auch wieder die Berichte über einen stetigen Druck auf die Vertriebenen, die Lager zu verlassen und nach Tschetschenien zurückzukehren. Dabei sei zum Teil direkter Zwang ausgeübt worden, sonst erfolgten handfeste Drohungen, etwa die zuvor kostenlose Versorgung mit Gas und Strom einzustellen, außerdem würden zerschlissene Zelte nicht ersetzt und Neuankömmlingen die Registrierung verweigert

123

(NZZ vom 29. November 2002; taz vom 4. Dezember 2002; SZ vom 7. Dezember 2002; NZZ vom 7. Dezember 2002; FR vom 9. Dezember 2002).

124

Nach erneuten internationalen Protesten verzichtete die russische Regierung dann aber auf die (weitere) Schließung tschetschenischer Flüchtlingslager

125

(FR vom 21. Dezember 2002).

126

Nach den Angaben des UNHCR hatten sich im Januar 2002 noch ca. 150.000 tschetschenische Flüchtlinge in Inguschetien aufgehalten, davon ca. 100.000 bei Gastfamilien und ca. 50.000 in Notunterkünften bzw. Flüchtlingslagern

127

(AA, Lagebericht vom 7. Mai 2002).

128

Trotz der Kampagne zur freiwilligen Rückkehr reduzierte sich diese Zahl nach neueren Angaben des UNHCR bis November/Dezember 2002 nur auf insgesamt 110.000 Menschen, die weiterhin als Flüchtlinge in Inguschetien leben. Die Lebensbedingungen der Flüchtlinge sind zwar unter allen Aspekten schwierig. Sie erfahren aber weiterhin vielfältige Unterstützung durch internationale Hilfsorganisationen

129

(AA, Lagebericht vom 27. November 2002; NZZ vom 29. November 2002).

130

Anders als in Tschetschenien werden diese Hilfsmaßnahmen von russischer Seite kaum behindert. Im Wesentlichen unbehindert arbeiten können außerhalb Tschetscheniens auch verschiedene Menschenrechtsorganisationen, zudem erhalten internationale Delegationen die Möglichkeit, sich Einblick in die Verhältnisse zu verschaffen. In Tschetschenien ist es demgegenüber bereits wegen der anhaltend unruhigen Sicherheitslage nicht möglich, insofern ungehindert tätig zu werden oder Untersuchungen anzustellen. Außerdem wurden mehrmals Mitglieder von Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen entführt und Delegationen nur der begleitete Zugang zu ausgewählten Orten gestattet, zu anderen Regionen aus militärischen Gründen aber untersagt. Für die an Tschetschenien grenzenden Regionen und die Flüchtlingslagern sind derartige Behinderungen nicht bekannt geworden. Internationale und auch russische Menschenrechtsorganisationen (Memorial) sind dort präsent. Es werden kontinuierlich, etwa durch Mitarbeiter von Human Rights Watch oder Memorial, aber auch durch Journalisten, Interviews mit den Flüchtlingen geführt, um die jeweilige Situation in Tschetschenien zu recherchieren, etwa um die Vorkommnisse bei den "Säuberungsaktionen" durch russische Sicherheitsorgane aufzuklären, die oft Anlass für die Flucht gewesen waren.

131

(Human Rights Watch vom 9. Februar 2001; AA, Lagebericht vom 24. April 2001; UNHCR vom Januar 2002; Die Zeit vom 24. Februar 2000; FR vom 27. April 2000).

132

Insofern unterscheidet sich die Situation in den angrenzenden Regionen, in denen sich die meisten Flüchtlinge aufhalten, weiterhin signifikant von der Gefährdungssituation, die im Hinblick auf Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen durch Angehörige der russischen Sicherheitsorgane in Tschetschenien besteht. Zum Teil wird zwar auch über einzelne Übergriffe außerhalb Tschetscheniens berichtet. Auch dort geraten insbesondere männliche Flüchtlinge leicht in den Verdacht, tschetschenische Kämpfer zu sein oder derartige Kämpfer zu unterstützen. Außerdem hat sich auch in den Flüchtlingslagern nach der Geiselnahme in Moskau die Situation insofern verschärft, als nunmehr die Ein- und Ausgänge von russischen Soldaten kontrolliert und bewacht werden

133

(AA, Lagebericht vom 27. November 2002).

134

Weder das Ausmaß noch die Intensität derartiger Maßnahmen lässt es aber zu, sie mit den in Tschetschenien erfolgenden „Säuberungsaktionen“ zu vergleichen. Angesichts der Präsenz internationaler Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen in den Flüchtlingsgebieten ist es jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht vorstellbar, dass derartige Aktionen von Sicherheitsbehörden in größerem Umfang dennoch stattfinden, sie aber nicht entdeckt werden oder über sie nicht berichtet wird, während gleichzeitig immer wieder derartige Vorfälle in Tschetschenien bekannt werden, obwohl die Informationen darüber unter weit schwierigeren Umständen zu recherchieren sind, da in Tschetschenien, wie ai und das Auswärtige Amt berichten

135

(AA, Lageberichte vom 24. April 2001 und 27. November 2002; ai vom 8. Oktober 2001),

136

Nichtregierungsorganisationen und unabhängige Journalisten massiv an ihrer Arbeit gehindert werden und es kaum unabhängige Beobachter gibt.

137

Daneben sind - wie bereits erwähnt - zwar auch für Regionen außerhalb der an den Kaukasus grenzenden Gebiete immer wieder asylrelevante Übergriffe festzustellen. So gerieten speziell Tschetschenen in das Blickfeld der Sicherheitsorgane bei der in den Großstädten, vor allem in Moskau, im unmittelbaren Anschluss an die Sprengstoffanschläge im Sommer/Herbst 1999 durchgeführten "Aktion Wirbelsturm"

138

(ai vom Dezember 1999; AA, Lageberichte vom 15. November 2000 und 24. April 2001; Der Spiegel vom 4. Oktober 1999).

139

Diese Maßnahmen waren jedoch ebenfalls örtlich und zudem, jedenfalls in der damaligen Intensität, zeitlich beschränkt

140

(AA an BAFl. vom 28. Juni 2001).

141

Für die Folgezeit wird allerdings weiterhin von einzelnen Übergriffen berichtet

142

(FR vom 1. November 2001; taz vom 1. November 2001; Kölner Stadt-Anzeiger vom 25. November 2002; FR vom 27. November 2002).

143

Fortgesetzt festzustellen sind vielfältige administrative Erschwernisse für Menschen, die erkennbar aus Tschetschenien stammen oder - aus unterschiedlichen Gründen - Tschetschenen gleichgestellt werden. Vor allem in den größeren Städten Russlands sollen ihnen vermehrt Zuzugsgenehmigungen oder die Registrierung verweigert werden. Den vorliegenden Erkenntnismitteln lässt sich allerdings kein einheitliches Bild entnehmen, inwieweit derartige administrative Erlaubnisse des Aufenthalts regional unterschiedlich erforderlich sind. In den größeren Städten scheint es ohne eine derartige Bestätigung des Aufenthalts jedoch unmöglich zu sein, eine legale Arbeitsstelle zu finden. Zudem besteht zum Teil auch die Gefahr, ohne derartige Papiere bei einer Kontrolle aus der jeweiligen Stadt oder Region gewiesen, eventuell sogar deportiert zu werden

144

(AA an VG Stuttgart vom 30. Juni 2000 und an VG Braunschweig vom 12. Dezember 2001; IGFM an VG Schleswig vom 20. Dezember 2000; SFH vom Januar 2001; ai an VG Ansbach vom 12. Januar 2001; UNHCR vom Januar 2002; FAZ vom 1. Februar 2002).

145

Infolge der Geiselnahme in Moskau vom Oktober 2002 hat sich die Situation offensichtlich weiter verschärft, der Kontrolldruck hat sich signifikant erhöht.

146

(AA, Lagebericht vom 27. November 2002).

147

Das Verwaltungsgericht Ansbach hat in dem erwähnten Urteil vom 8. Mai 2001 - AN 10 K 00.32076 - angenommen, dass selbst für alle nicht im Freiheitskampf aktive Kaukasier ein Aufenthalt in den größeren, wirtschaftlich interessanten Städten Russlands nicht mehr möglich sei, sie aber auf ländliche Regionen mit geringerer wirtschaftlicher Anziehungskraft verwiesen werden könnten. Diese Frage wird hier offen gelassen, da hinreichende Informationen über die Situation von Flüchtlingen aus Tschetschenien für weite Teile des Landes nicht vorliegen.

148

Dies gilt insbesondere auch für die gelegentlich in Betracht gezogene Wolgaregion. Dort gibt es zwar die nach Inguschetien und Moskau mit 50.000 Menschen drittgrößte tschetschenische Diaspora

149

(AA, Lagebericht vom 27. November 2002).

150

Nach Angaben der Gesellschaft für bedrohte Völker fanden in dieser Region im Jahr 2002 jedoch Pogrome gegenüber Tschetschenen statt und es kam auch zu administrativen Eingriffen gegenüber den Flüchtlingen. Dem Auswärtigen Amt ist über spezifische Zuzugsbeschränkungen in die Wolgaregion nichts bekannt.

151

(GfbV an VGH Baden-Württemberg und Bayerischen VGH vom 2. Oktober 2002; AA an BAFl. vom 22. Januar 2003).

152

Der weitergehenden Ansicht der Verwaltungsgerichte Würzburg (Urteil vom 25. September 2001 - W 8 K 01.30595 - V.n.b.) und Koblenz (Urteil vom 29. November 2002 - 7 K 2276/02.KO - V.n.b.) sowie von amnesty international und der Gesellschaft für bedrohte Völker

153

(ai an das VG Ansbach vom 12. Januar 2001, Stellungnahme vom 8. Oktober 2001 und an das VG Ansbach vom 1. Februar 2002; GfbV an VGH Baden-Württemberg und Bayerischen VGH vom 2. Oktober 2002),

154

wonach eine Fluchtalternative wegen der Diskriminierungen tschetschenischer Volkszugehöriger in der gesamten Russischen Föderation nicht bestehe bzw. durch die Verbindung einer anti-tschetschenischen Feindseligkeit in der russischen Gesellschaft mit offiziellen Erklärungen russischer Politiker und handlungsweisender Sicherheitskräfte eine Situation entstanden sei, in der tschetschenische Volkszugehörige praktisch den Status einer ethnischen Gruppe erhalten hätten, die außerhalb des Schutzes durch das Gesetz stehe und Opfer von Verfolgung, Erpressung und staatlicher Willkür werde, schließt sich der Einzelrichter, wie im Ergebnis auch das Verwaltungsgericht Ansbach in dem Urteil vom 8. Mai 2001, nicht an. Denn nach hiesiger Ansicht trifft - wie bereits ausgeführt - die dort für die gesamte Russische Föderation angeführte Situation auf die Lage in den an Tschetschenien angrenzenden Gebieten mit überwiegend nicht-russischen Bevölkerungsmehrheiten weiterhin nicht zu mit der Folge, dass tschetschenische Volkszugehörige grundsätzlich auf diese Gebiete als Fluchtalternative verwiesen werden können. Allein die örtliche Nähe zu Tschetschenien und die damit verbundene abstrakte Gefährdung, in die dortigen Kämpfe verwickelt werden zu können, ist entgegen der vom UNHCR hieraus gefolgerten Ansicht nicht geeignet, diese für die meisten Flüchtlinge aus Tschetschenien nun bereits seit über drei Jahren bestehende Fluchtmöglichkeit in diesen Gebieten rechtlich als solche zu betrachten. Auch der UNHCR weist zudem darauf hin, dass ein Mindestmaß an humanitärer Hilfe gewährleistet ist

155

(vgl. UNHCR vom Januar 2002 sowie an das BAFl vom 16. Oktober 2002; so auch AA an VG Bremen vom 21. August 2002).

156

Genau im Blick zu behalten sind aber die Bemühungen der russischen Behörden zur Rückkehr der Flüchtlinge nach Tschetschenien. Eine Wiederaufnahme administrativer Zwangsmaßnahmen zur Umsetzung dieses Ziels trotz der fortbestehenden desolaten Lage in Tschetschenien würde der Annahme einer Fluchtalternative entgegen stehen. Zur Zeit ist eine derartige Situation aber nicht anzunehmen, nachdem die russische Behörden dem internationalen Druck Folge leisteten und die Schließung von Flüchtlingslagern beendet haben.

157

Der russische Staat stellt sich insofern auch nicht als mehrgesichtiger Staat dar, der sich insgesamt als Verfolgerstaat erweist und nur beispielsweise aus Gründen politischer Opportunität die Tschetschenen nicht oder jedenfalls derzeit nicht landesweit verfolgt. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass er lediglich aus politischem Kalkül oder aus ähnlichen Gründen Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens im Wesentlichen unbehelligt leben lässt, obwohl er sie allgemein als gefährliche Sympathisanten und mögliche Unterstützer der Rebellen und damit aus seiner Sicht als staatsgefährdende Terroristen einschätzt. Augenfällig wird dies wiederum bei den Berichten über sog. "Filtrationslager" innerhalb Tschetscheniens. Die Berichte hierüber sind glaubwürdig und werden international nicht in Abrede gestellt. Offensichtlich befinden sich diese Lager aber nur in Tschetschenien, wogegen es denjenigen, die aus eigener Erfahrung von den dortigen Menschenrechtsverletzungen berichteten, ungestört durch russische Sicherheitskräfte möglich war, diese Berichte in Inguschetien, etwa bei Interviews in den Flüchtlingslagern, gegenüber Vertretern von Menschenrechtsorganisationen und Journalisten abzugeben. Zusammenfassend ist folglich festzustellen, dass der russische Staat den seine Verfolgungshandlungen auslösenden pauschalen Separatismusverdacht allenfalls nur gegenüber denjenigen tschetschenischen Volkszugehörigen hegt, die in Tschetschenien leben, eine Situation der unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger in der Russischen Föderation mithin nicht besteht.

158

Hiervon deutlich zu unterscheiden ist ein individualisierter Separatismusverdacht vor allem gegenüber jungen männlichen Tschetschenen, der sich eventuell auch auf andere "südländisch" aussehende oder aus dem Kaukasus stammende Personen erstrecken kann. Allgemein in der Russischen Föderation, aber auch in Inguschetien und Dagestan sowie insbesondere an den Grenzen dieser Gebiete zu Tschetschenien finden verstärkt Kontrollen, Verhöre und Razzien, die sich auf diese Personengruppe konzentrieren, statt. Besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden wird insbesondere solchen Personen gewidmet, die sich in der Tschetschenienfrage engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen

159

(AA, Lagebericht vom 27. November 2002; SFH vom Januar 2001; ai vom 8. Oktober 2001; UNHCR vom Januar 2002).

160

Das Ausmaß und die Intensität der damit einhergehenden bekannt gewordenen Maßnahmen lässt sich aber ebenfalls nicht vergleichen mit denen der sog. "Säuberungen", die aus Tschetschenien bekannt sind. Dies betrifft besonders die Gefahr, dass damit Übergriffe einhergehen. Es wird vielmehr deutlich, dass bei den Kontrollen außerhalb Tschetscheniens die Suche der Sicherheitskräfte primär auf tschetschenische Kämpfer gerichtet ist, wenn der Grund hierfür auch nur in der ständigen Präsenz und der entsprechenden Kontrolle durch dort tätige Mitarbeiter von Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, durch die Medien oder durch internationale Delegationen sein mag. Dadurch, dass die auch in diesen Gebieten vorkommenden Kontrollen speziell auf jüngere Männer zielen, kann auch eine auf das Geschlecht oder das Alter bezogene eingeschränkte gruppenspezifische Gefährdung nicht festgestellt werden. Für diese Bewertung ist maßgebend, dass die meisten davon betroffenen Tschetschenen (oder andere "südländisch" aussehenden jungen Männer) nach kurzer vorübergehender Festnahme und einem eventuellen Verhör wieder entlassen werden und längerfristige Inhaftierungen und/oder Misshandlungen ohne einen konkreten individuellen Verdacht der aktiven Unterstützung tschetschenischer Rebellen für Regionen außerhalb Tschetscheniens, im deutlichen Unterschied zur Situation in Tschetschenien, nicht bekannt geworden sind. Liegt ein derartiger individueller konkreter Verdacht vor oder kann er sich, wegen tatsächlicher Unterstützungstätigkeit für die Rebellen, im Verlauf eines Verhörs ergeben, muss allerdings angenommen werden, das die Betroffenen landesweit im Blickfeld russischer Sicherheitsorgane stehen und bereits deshalb mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Maßnahmen politischer Verfolgung im Rahmen einer Inhaftierung und eines Strafverfahrens wegen des Vorwurfs terroristischer Aktivitäten befürchten müssen. Daneben können etwa auch hervorgehobene Tätigkeiten bei der Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien eine individuelle Gefährdung begründen.

161

Für die an Tschetschenien angrenzenden Regionen Inguschetiens und Dagestans können schließlich auch nicht andere unzumutbare Nachteile, d.h. existentielle Gefährdungen, die am Herkunftsort so nicht bestünden, festgestellt werden, welche grundsätzlich der Annahme einer Fluchtalternative für tschetschenische Volkszugehörige in diesen Regionen entgegenstehen. Auch insofern sind diese Gebiete zu unterscheiden von anderen Regionen der Russischen Föderation mit überwiegend russischen Bevölkerungsmehrheiten. So spricht zwar Vieles dafür, den Annahmen des Verwaltungsgerichts Schleswig (Urteil vom 6. Juni 2001 - 4 A 253/00 - V.n.b.) und des Verwaltungsgerichts Koblenz (Urteile vom 8. November 2001 - 7 K 1663/01.KO - V.n.b. und vom 29. November 2002, a.a.O.), wonach für tschetschenische Volkszugehörige bei einer Rückkehr in die Russische Föderation keine realistischen Möglichkeiten bestünden, außerhalb von Tschetschenien ihr Existenzminimum in zumutbarer Weise sicherzustellen

162

(so auch GfbV an VGH Baden-Württemberg und Bayerischen VGH vom 2. Oktober 2002; SFH vom Januar 2001),

163

für die Regionen der Russischen Föderation zu folgen, in denen (ethnisch) nichtkaukasische Bevölkerungsmehrheiten leben und die nicht mit dem Flüchtlingsstrom aus Tschetschenien konfrontiert sind. Dort scheint es für sie tatsächlich nur sehr erschwerte Existenzmöglichkeiten zu geben, da ihnen die geringen, im Umfang auch sonst unter dem Grundbedarf liegenden Möglichkeiten nationaler staatlicher Unterstützung durch administrative Beschränkungen oft versperrt bleiben, diese Beschränkungen die Aufnahme von Erwerbsmöglichkeiten stark behindern und die internationalen Hilfsorganisationen in der Russischen Föderation nicht flächendeckend tätig sind, sondern sich auf die benannten Regionen mit hohem Flüchtlingsanteilen konzentrieren. Wegen dieser konzentrierten Tätigkeit internationaler Hilfsorganisationen in den an Tschetschenien angrenzenden Gebieten ist aber dort das wirtschaftliche Existenzminimum, auch und insbesondere für Flüchtlinge aus Tschetschenien, weiterhin als grundsätzlich gesichert anzusehen. Die Annahme einer inländischen Fluchtalternative scheidet nicht bereits aus wegen der bloßen Möglichkeit einer existentiellen Gefährdung. Vielmehr muss festgestellt werden, dass dem Betroffenen dort ein Leben wirtschaftlichen Verelendung, d.h. unter dem Existenzminimum droht. Das ist nicht danach zu beurteilen, ob sich ein erwerbsfähiger Asylbewerber am Ort der inländischen Fluchtalternative auf Dauer durch eigene Erwerbstätigkeit eine Lebensgrundlage schaffen kann. Vielmehr genügt es, wenn die wirtschaftliche Existenz auf sonstige Weise, etwa durch private oder öffentliche Zuwendungen gewährleistet ist

164

(BVerwG, Urteil vom 15. Juli 1997 - 9 C 2.97 - BayVBl. 1998, S. 250).

165

Diese Voraussetzungen sind jedenfalls in den bereits benannten Regionen grundsätzlich erfüllt. Hierfür spricht bereits der Umstand, dass seit dem erneuten militärischen Eingreifen der russischen Armee in Tschetschenien im Herbst 1999 mehr als drei Jahre vergangen sind, alle Erkenntnismittel aber weiterhin übereinstimmend davon berichten, dass immer noch und trotz der Rückkehr-Kampagne Mitte/Ende 2002 viele Tschetschenen in den an Tschetschenien angrenzenden Gebieten leben, die Mehrzahl davon bei Verwandten und Bekannten, die Übrigen in Flüchtlingslagern.

166

In den ersten Monaten im Winter 1999/2000 sind allerdings noch äußerst schwierige Zustände in den im Entstehen begriffenen Flüchtlingslagern zu verzeichnen gewesen, unter den insbesondere Kinder zu leiden hatten. Es konnte nicht verhindert werden, dass sich verschiedene Krankheiten, insbesondere Tuberkulose, verbreitet haben und Kleinkinder an der Kälte sogar gestorben sind

167

(ai vom Dezember 1999; FR vom 20. Oktober 1999; NZZ vom 25. Oktober 1999; SZ vom 15. November 1999; Die Welt vom 16. November 1999; taz vom 19. Januar 2000; SZ vom 26. Januar 2000; Die Welt vom 28. Januar 2000).

168

Der Grund hierfür lag jedoch vornehmlich darin, dass die in den Zufluchtgebieten, vor allem in Inguschetien vorhandenen Ressourcen für eine hinreichende Versorgung des schnell angewachsenen Flüchtlingsstromes nicht ausgereicht hatten und internationale Hilfe die Flüchtlinge angesichts unzureichender Kooperation der russischen Stellen zunächst nur schleppend erreichte.

169

(AA, Lagebericht vom 22. Mai 2000).

170

Bereits für das Frühjahr 2000 konnte jedoch - trotz mancher weiteren Behinderung von russischer Seite aus - eine deutliche Verbesserung der Situation festgestellt werden. So berichtete der Kommissar für Menschenrechtsfragen des Europarates, Gil-Robles, nach einer Reise in das Gebiet im Februar 2000, dass die Lage in den Lagern zwar noch sehr schwierig sei und es an Lebensmitteln und Kleidung mangele, diese Probleme sich aber dank des Einsatzes internationaler Hilfsorganisationen lösen ließen. Die Hilfe konnte bald so organisiert werden, dass jedenfalls eine Grundversorgung selbst in entlegeneren Flüchtlingsunterkünften gewährleistet war, obwohl insbesondere die Wohnverhältnisse sich noch elendig gestalteten

171

(SFH vom Januar 2001; FAZ vom 1. März 2000; NZZ vom 6. März 2000; FR vom 13. April 2000).

172

Im Winter 2000/2001 verbesserte sich - nach vorherigen Warnungen der inguschetischen Führung, dass manche Flüchtlinge sonst erneut ohne feste Unterkünfte auskommen müssten - auch insofern die Lage, wobei allerdings noch viele Flüchtlinge den Winter in Eisenbahnwaggons und Zelten verbringen mussten

173

(ai an VG Ansbach vom 12. Januar 2001; dpa vom 5. September 2000; NZZ vom 15. November 2000; FAZ vom 2. Dezember 2000).

174

Insgesamt stabilisierte sich die Versorgungslage zunehmend. So sind etwa im Jahr 2000 in den Lagern in Inguschetien mehr als 15.000 Kinder geboren worden, für die mittels ausländischer Hilfe ausreichend gesorgt werden konnte. Die Hilfe beschränkte sich dabei nicht allein auf die Lager. Einbezogen wurden vielmehr auch die privaten Unterkunftsmöglichkeiten, insbesondere durch Einmalzahlungen an Familien, die sich bereit erklären, Flüchtlingen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Weiter unzureichend blieb demgegenüber aber die Versorgungslage in den Lagern auf tschetschenischem Gebiet

175

(GfbV vom August 2001 und September 2001; UNHCR vom Januar 2002; NZ vom 15. Februar 2001; NZZ vom 12. Mai 2001; FAZ vom 9. August 2001; FR vom 7. Dezember 2001).

176

Auch für den Zeitraum der Kampagne zur Rückkehr der Flüchtlinge nach Tschetschenien wird berichtet, dass durch die enormen Anstrengungen von Hilfsorganisationen aus aller Welt das leben der Vertriebenen erträglich gestaltet werden konnte

177

(NZZ vom 29. November 2002).

178

Aus den vorliegenden aktuellen Erkenntnismitteln ergeben sich keine Hinweise auf Epidemien, Hungersnöte oder Kälteopfer, die dieser allgemeinen Einschätzung der Situation entgegenstünden. Der Einzelrichter nimmt deshalb zusammenfassend an, dass zumindest in den benannten Gebieten, in denen die internationalen Hilfsorganisationen tätig sind, eine den dargelegten Anforderungen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts genügende Existenzsicherung für die Flüchtlinge gewährleistet ist.

179

Zudem stünde der Annahme einer Fluchtalternative die schwierige Versorgungslage in den Flüchtlingsgebieten auch deshalb nicht entgegen, weil derartige Nachteile auch in den Herkunftsgebieten der Flüchtlinge in Tschetschenien bestehen. Die mehrjährigen militärischen Auseinandersetzungen führten zu erheblichen Zerstörungen und einer zunehmenden Verschlechterung der Versorgungslage in Tschetschenien. Die Infrastruktur und das Gesundheitssystem sind nahezu vollständig zusammengebrochen. Hinsichtlich der für den Wiederaufbau zur Verfügung gestellten Mittel wird berichtet, dass nur unter 10% davon zweckentsprechend eingesetzt werden, während der Großteil des Geldes veruntreut wird und in einem Netz der Patronage verschwindet

180

(Politkovskaja, Tschetschenien - Die Wahrheit über den Krieg, S. 82ff, 91ff; AA, Lagebericht vom 27. November 2002; SFH vom Januar 2001; FR vom 13. April 2000; FAZ vom 20. April 2000; NZZ vom 2. Juni 2000; FR vom 13. Oktober 2000; FR vom 21. Oktober 2000; FAZ vom 2. Dezember 2000; taz vom 29. Juli 2001; NZZ vom 9. August 2002; NZZ vom 10. Februar 2003; Handelsblatt vom 11. Februar 2003).

181

Insofern stellt sich die allgemeine Versorgungslage in Tschetschenien jedenfalls nicht besser dar als die Situation in den benachbarten Regionen. Auch nach den Ausführungen des Auswärtigen Amtes in dem Lagebericht vom 27. November 2002 ist die humanitäre Lage in den Flüchtlingslagern in den benachbarten Regionen durch die internationale humanitäre Hilfe besser als in Tschetschenien selbst, da Tschetschenien auf Grund der Sicherheitslage, bürokratischer Hemmnisse und von Korruption der örtlichen Verwaltung und der Sicherheitskräfte für humanitäre Hilfslieferungen nur schwer zugänglich ist.

182

Eine für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 51 Abs. 1 Satz 1 AuslG hinreichende Bedrohungslage besteht für den Kläger allein wegen seiner tschetschenischen Volkszugehörigkeit folglich nicht. Es liegen aber individuelle Verfolgungsgründe im oben beschriebenen Sinne vor.

183

Der Kläger hat zur Überzeugung des Einzelrichters im Termin zur mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, dass er sich tschetschenischen Rebellen, die in der Umgebung seines Heimatdorfes tätig waren, angeschlossen und diese aktiv unterstützt hat. Wie oben ausgeführt sind besonders junge Männer tschetschenischer Volkszugehörigkeit nicht nur in Tschetschenien, sondern in der gesamten Russischen Föderation einem engmaschigen System dauernder Kontrollen und Untersuchungen durch russische Sicherheitskräfte ausgesetzt. Nach der Geiselnahme in einem Moskauer Musiktheater im Oktober 2002 nahm der Kontrolldruck noch weiter zu. Diese Kontrollen stützen sich regelmäßig auf den Verdacht, selbst den tschetschenischen Rebellen anzugehören oder diese zu unterstützen. Für den Kläger ergibt sich auf Grund seiner spezifischen Situation dabei aus drei Gründen eine Gefährdungssituation, die insgesamt ein Verbot seiner Abschiebung in die Russische Föderation nach § 51 Abs. 1 AuslG gebietet. Zum einen liegt es nahe anzunehmen, dass seine langdauernden Unterstützungstätigkeiten für die Rebellen den russischen Sicherheitskräften bereits bekannt sind, er folglich auf entsprechenden Listen steht und ihm bereits deshalb Folter oder andere Menschenrechtsverletzungen im Rahmen eines sicherheitspolizeilichen Gewahrsams drohen. Belegt wird dies nicht nur durch seine eigenen Ausführungen, sondern auch dadurch, dass die Mutter des Klägers in ihrem Asylverfahren nach den Angaben in dem Bescheid des Bundesamtes vom 24. Oktober 2001 glaubhaft gemacht hat, wegen der Suche der politischen Polizei FSB nach dem Kläger selbst bedroht zu sein. Für die Mutter des Klägers wurden mit dem genannten Bescheid aus diesem Grund die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG angenommen. Zum anderen hat der Kläger aber auch glaubhaft gemacht, dass er nicht nur in den Verdacht von Unterstützungstätigkeiten für tschetschenische Rebellen geraten könne, sondern auch tatsächlich unterstützend tätig geworden ist. Insofern ist zu befürchten, dass er dies jedenfalls bei einem Verhör unter den speziell gegenüber tschetschenischen Volkszugehörigen bekannt gewordenen Umständen, einschließlich der Anwendung von Foltermaßnahmen, den Angehörigen der Sicherheitsbehörden offenbaren muss und jedenfalls danach von weiteren Maßnahmen politischer Verfolgung bedroht ist, wenn nicht schon die Verhörmethoden selbst als solche qualifiziert werden müssen. Schließlich besteht für den Kläger eine weitere Gefährdungslage auf Grund des von ihm ebenso glaubhaft dargelegten Umstands, dass fast seine gesamte Familie aktiv am Kampf der tschetschenischen Regellen beteiligt ist. Auch insofern liegt es nahe, dass er im Blickfeld der russischen Sicherheitsbehörden steht und deshalb bei einer Kontrolle, im Falle der Rückreise etwa an der Grenze, unter dem Verdacht separatistischer Aktivitäten verhaftet und in diesem Zusammenhang seine Freiheit und körperliche Unversehrtheit beeinträchtigenden Maßnahmen politischer Verfolgung ausgesetzt zu werden. Aufgrund einer Gesamtschau der genannten Gefährdungspunkte steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger sein Heimatland vor unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat und ihm Maßnahmen politischer Verfolgung auch im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 51 Abs. 1 AuslG liegen mithin vor. Die Abschiebungsandrohung in die Russische Föderation war aufzuheben, da die Beklagte gem. § 50 Abs. 3 S. 2 AuslG in der Abschiebungsandrohung die Russische Föderation als den Staat zu bezeichnen hat, in den der Kläger nicht abgeschoben werden darf.

184

Die Kostenentscheidung für den noch streitigen Teil folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre rechtliche Grundlage in den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11 711 ZPO.