Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 22.02.2017, Az.: L 13 AS 74/17 B ER

Vorläufige Gewährung einer einmaligen Leistung zur Finanzierung einer Schulfahrt (hier: nach York/England); Mehrtägige Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen; Übernahme der tatsächlichen Kosten einer mehrtägigen Klassenfahrt ohne Beschränkung auf einen Höchstbetrag durch den Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende; Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Bedarfe für Bildung und Teilhabe bei Teilnahme an einer Schulfahrt ins Ausland

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
22.02.2017
Aktenzeichen
L 13 AS 74/17 B ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 15011
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 13.02.2017 - AZ: S 46 AS 345/16 ER

Fundstellen

  • FEVS 2018, 88-91
  • ZfSH/SGB 2017, 281-282
  • info also 2017, 190
  • info also 2018, 142

Redaktioneller Leitsatz

1. Das Bundessozialgericht hat wiederholt entschieden, dass der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende die tatsächlichen Kosten einer mehrtägigen Klassenfahrt ohne Beschränkung auf einen Höchstbetrag zu übernehmen hat, wenn die Veranstaltung im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen stattfindet und das Schulrecht selbst keine Kostenobergrenze vorsieht.

2. Das BSG hat insoweit auf den Gesetzeswortlaut und auf die Gesetzesbegründung verwiesen: In der Gesetzesbegründung habe der Gesetzgeber betont, dass die Regelung dazu diene, die reale und gleichberechtigte Teilnahme durch Übernahme der Kosten in tatsächlicher Höhe zu gewährleisten.

3. In Niedersachsen sehen die schulrechtlichen Bestimmungen eine Kostenobergrenze nicht vor; die Verantwortung und Entscheidungshoheit werden vielmehr auf die einzelne Schule delegiert, wenn es in Ziffer 7.2 des Runderlasses heißt, bei der Planung der Schulfahrten sei darauf zu achten, dass niemand aus finanziellen Gründen von der Teilnahme ausgeschlossen werden dürfe, und Ziffer 8 vorsieht, dass in die Planung der Schulfahrten die Erziehungsberechtigten frühzeitig einzubeziehen seien und mit ihnen insbesondere die Frage der Zumutbarkeit der entstehenden Kosten für alle Erziehungsberechtigten zu erörtern sei.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Oldenburg vom 13. Februar 2017 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Oldenburg vom 13. Februar 2017 ist nicht begründet.

Das SG hat den Antragsgegner zu Recht im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig eine einmalige Leistung in Höhe von 1.350 EUR nach § 28 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zur Finanzierung einer Schulfahrt nach York/England zu gewähren. Zutreffend hat das SG ausgeführt, dass es sich bei der fraglichen Schulfahrt um eine mehrtägige Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen handelt und der Antragsgegner nach derzeitigem Sach- und Streitstand unter Berücksichtigung der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung verpflichtet ist, die Kosten zu übernehmen. Sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund sind danach glaubhaft gemacht worden, so dass der Senat die Beschwerde des Antragsgegners aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses zurückweist und gemäß § 142 Abs. 2 S. 3 SGG von einer weiteren Begründung absieht.

Lediglich mit Blick auf das Beschwerdevorbringen ist darauf hinzuweisen, dass es für die Beurteilung der Frage, ob es sich bei der fraglichen Schulfahrt um eine Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen handelt, nicht darauf ankommen kann, wie diese im Internetauftritt der Schule beworben wird. Maßgeblich kann nur sein, ob die Bestimmungen des insoweit einschlägigen Runderlasses des Niedersächsischen Kultusministeriums zu Schulfahrten vom 1. November 2015 (26- 82 021 - VORIS 22410) bei der schulinternen Planung der Schulfahrt eingehalten worden sind. Insoweit lässt das Beschwerdevorbringen außer Acht, dass das SG diesbezüglich eine Auskunft der Leiterin der Fachgruppe Englisch der Berufsbildenden Schulen (BBS) Jever, Frau H., vom 17. Januar 2017 eingeholt hat. Soweit der Antragsgegner anzweifelt, dass mit der fraglichen Schulfahrt, die gemäß Ziffer 9 des Runderlasses vom Schulleiter genehmigt worden ist, überhaupt Bildungs- und Erziehungsziele verfolgt werden, wie dies nach Ziffer 1 Satz 1 des Runderlasses erforderlich ist, wird in der von der Leiterin der Fachgruppe Englisch übersandten "Kurzbeschreibung für die Schulfahrt/das Praktikum in York/England" ausgeführt, dass Schülerinnen und Schüler im Zuge der Europäisierung und Globalisierung vor neue Herausforderungen gestellt würden und neben der Benutzung der englischen Sprache als Lingua Franca zunehmend Softskills - z. B. interkulturelle Kompetenzen - an Bedeutung gewönnen. Vor dem Hintergrund zusammenwachsender Märkte und der vier Freiheiten im europäischen Binnenmarkt solle im Rahmen des Praktikums den Schülerinnen und Schülern der 11. Klassen die Möglichkeit gegeben werden, erste Arbeitserfahrungen im englischsprachigen Ausland zu sammeln. Das danach - u. a. auch mit einer intensiven Vorbereitungszeit in Form einer verbindlichen zusätzlichen Unterrichtsstunde im Schuljahr 2016/2017 - verfolgte Bildungs- und Erziehungsziel des Erwerbs interkultureller Kompetenzen lässt sich mit den Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife gemäß Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18. Oktober 2012 (Anlage zu der Auskunft der Frau H.) ohne weiteres vereinbaren. Es liegen danach keinerlei Anhaltspukte dafür vor, dass es sich um ein über den eigentlichen Bildungsauftrag hinausgehendes "Zusatzangebot" - etwa im Sinne einer Freizeit - handelt, wie der Antragsgegner meint. Eine weitergehende Prüfung dahingehend, ob die Fahrt sinnvoll und notwendig ist (vgl. die diesbezüglichen Ausführungen auf S. 4 des Widerspruchsbescheides vom 17. November 2016), ist dem Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende sowie den Sozialgerichten verwehrt (vgl. O. Loose in: GK-SGB II § 28 Rn. 42 m. w. N.).

Der Klassifizierung der Reise nach York als Schulfahrt steht auch nicht entgegen, dass in diesem Jahr nur 17 von 120/130 grundsätzlich teilnahmeberechtigten Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe 11 tatsächlich daran teilnehmen, da die Teilnahme an Schulfahrten mit Übernachtung gemäß Ziffer 6.2 des Runderlasses stets freiwillig ist. Die im Widerspruchsverfahren erteilte Auskunft der Frau H., dass die Teilnehmerzahl ohnehin auf 20 begrenzt sei, schließt entgegen der Auffassung des Antragsgegners die Annahme einer Schulfahrt i. S. des Runderlasses ebenfalls nicht aus. Dieser sieht nicht vor, dass bei klassenübergreifenden Schulfahrten allen Schülerinnen und Schülern einer Jahrgangsstufe die Teilnahme offenstehen muss, eine Begrenzung der Teilnehmerzahl mithin unzulässig ist. Es handelt sich schließlich auch nicht um eine Auslandsreise im Sinne eines Schüleraustausches, an der nur eine kleine Gruppe von Schülern bzw. einzelne Schüler der Klasse oder Jahrgangsstufe teilnehmen bzw. teilnehmen können und für die danach durchaus zweifelhaft sein kann, ob es sich um eine Klassenfahrt i. S. des § 28 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB II handelt (vgl. hierzu ausführlich: O. Loose a. a. O. Rn. 38). Die hier vorgesehene Teilnehmerzahl von 20 Schülerinnen und Schülern erreicht bereits Klassengröße (vgl. zur Bildung von Klassen: Ziffer 3.1 des Runderlasses des Niedersächsischen Kultusministeriums vom 7. Juli 2011 - 15- 84001/3 - VORIS 22410) und der vom 29. April bis 20. Mai 2017 geplante Aufenthalt in England mit einwöchigem Besuch einer Sprachschule und anschließendem zweiwöchigen Betriebspraktikum lässt sich durchaus unter den bundesrechtlichen Begriff der Klassenfahrt subsumieren, zumal die Schülergruppe durch einen gemeinsamen wöchentlichen Unterricht seit Beginn des Schuljahres 2016/2017 miteinander verbunden ist. Insoweit greift hier auch das Teilhabeziel der Regelung des § 28 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB II, welche eine Ausgrenzung aus finanziellen Gründen verhindern soll. Denn der Antragsteller würde aus der Gruppe der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler, welche sich bereits seit Beginn des Schuljahrs auf den Auslandsaufenthalt vorbereiten, ausgegrenzt, wenn er aus finanziellen Gründen doch nicht teilnehmen könnte.

Soweit der Antragsgegner eine "Überdehnung des § 28 SGB II" durch die Bewilligung ohne Obergrenze für Leistungsbezieher nach dem SGB II und eine hieraus resultierende Ungleichbehandlung und Diskriminierung anderer Schüler befürchtet, hat das Bundessozialgericht (BSG) wiederholt entschieden, dass der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende die tatsächlichen Kosten einer mehrtägigen Klassenfahrt ohne Beschränkung auf einen Höchstbetrag zu übernehmen hat, wenn die Veranstaltung im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen stattfindet und das Schulrecht selbst keine Kostenobergrenze vorsieht. Das BSG hat insoweit auf den Gesetzeswortlaut und auf die Gesetzesbegründung verwiesen. In der Gesetzesbegründung habe der Gesetzgeber betont, dass die Regelung dazu diene, die reale und gleichberechtigte Teilnahme durch Übernahme der Kosten in tatsächlicher Höhe zu gewährleisten (vgl. BSG, Urteil vom 22. November 2011 - B 4 AS 204/10 R - Rn. 20 m. w. N.; vgl. auch O. Loose a. a. O. Rn. 43). In Niedersachsen sehen die schulrechtlichen Bestimmungen eine Kostenobergrenze nicht vor. Die Verantwortung und Entscheidungshoheit werden vielmehr auf die einzelne Schule delegiert, wenn es in Ziffer 7.2 des Runderlasses heißt, bei der Planung der Schulfahrten sei darauf zu achten, dass niemand aus finanziellen Gründen von der Teilnahme ausgeschlossen werden dürfe, und Ziffer 8 vorsieht, dass in die Planung der Schulfahrten die Erziehungsberechtigten frühzeitig einzubeziehen seien und mit ihnen insbesondere die Frage der Zumutbarkeit der entstehenden Kosten für alle Erziehungsberechtigten zu erörtern sei.

Im anhängigen Hauptsacheverfahren wird allerdings noch zu berücksichtigen sein, dass an der BBS Jever ausweislich des Internetauftritts ein Förderverein existiert und dieser aus Vereinsmitteln u. a. auch Zuschüsse zu Klassenfahrten ins Ausland gewährt. Der Antragsteller könnte verpflichtet sein, einen entsprechenden Förderantrag zu stellen (vgl. BSG a. a. O. Rn. 26). Dieser Umstand steht der vom SG angesichts der am 15. Februar 2017 ablaufenden Zahlungsfrist getroffenen vorläufigen Regelung allerdings nicht entgegen, da eine kurzfristige Entscheidung über den Förderantrag nicht zu erwarten war. Die erlassene einstweilige Anordnung steht ohnehin unter dem Vorbehalt einer anderslautenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren, so dass der Antragsteller die vorläufig gewährten Leistungen (ggf. teilweise) zurückzuzahlen hat, soweit sich im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Leistungsanspruch nicht oder in geringerer Höhe besteht.

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Dem Antragsteller ist Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren im Hinblick auf die seinen Gunsten getroffene Kostenentscheidung nicht zu bewilligen.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.