Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 26.03.2013, Az.: 2 K 23/13

Nichtigkeit von Steuerbescheiden aufgrund überhöhter Schätzungen bei feststellbarer Willkür

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
26.03.2013
Aktenzeichen
2 K 23/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 57686
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2013:0326.2K23.13.0A

Amtlicher Leitsatz

Selbst überhöhte Schätzungen führen nur bei feststellbarer Willkür zur Nichtigkeit der Bescheide.

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen vor mehr als einem Jahrzehnt ergangene Steuerbescheide.

2

Er hatte vor den Streitjahren sein Gewerbe als Industrieschweißer abgemeldet und für die Streitjahre zunächst keine Steuererklärungen abgegeben. Am 23. September 1999 leitete das Finanzamt für Fahndung und Strafsachen A gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Hinterziehung von Einkommensteuer und Umsatzsteuer 1996 bis 1998 ein. Aus Kontrollmaterial (u.a. vom Kläger verfasste Rechnungen) war bekannt geworden, dass er auch nach der Gewerbeabmeldung weiterhin erhebliche Einkünfte als Rohrschweißer oder Eisenflechter erzielt hatte. Das Amtsgericht G erließ am 20. Dezember 1999 Haftbefehl gegen den Kläger.

3

Der Beklagte erließ erstmals am 25. Oktober 1999 und sodann am 18. September 2000 für die Jahre 1996 bis 1998 Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide. Die letztgenannten Bescheide gingen von geschätzten Bruttoerlösen (./. 15 bzw. 16% Umsatzsteuer und ./. 20% Betriebsausgaben) aus und trafen folgende Festsetzungen (zzgl. Zinsen und Verspätungszuschläge):

4
VeranlagungszeitraumBruttoerlöseUmsatzsteuerEinkommensteuer
199674.849,04 DM9.762 DM10.417 DM
1997100.742,43 DM13.140 DM16.541 DM
199887.638,11 DM12.017 DM14.554 DM
5

Mit hiergegen gerichteten Einsprüche vom 19. September 2000 trug der Kläger - ohne Abgabe von Steuererklärungen, Gewinnermittlungen oder Vorlage von Belegen - recht vage vor, dass die Schätzungen zu hoch und zu pauschal seien und diverse Betriebsausgaben nicht berücksichtigt worden seien (Schriftsätze im Fach 1998 der ESt-Akten).

6

Der Beklagte wies die Einsprüche mit Einspruchsbescheid vom 22. Januar 2001 zurück. Dieser Bescheid (Fach 1998 der ESt-Akten a. E.) wurde dem Kläger in der JVA J am 31. Januar 2001 förmlich (durch einen Justizvollzugsbediensteten) zugestellt. Klage hiergegen erhob der Kläger zunächst nicht.

7

Mit sogleich rechtskräftig gewordenem Urteil vom 8. Januar 2002 verurteilte das Amtsgericht ihn wegen Einkommen- und Umsatzsteuerhinterziehung 1996 bis 1998 zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 30 €. Nach den Feststellungen hatte der Kläger folgende Beträge hinterzogen:

8
VeranlagungszeitraumUmsatzsteuerEinkommensteuer
199611.362 DM6.691 DM
199712.199 DM6.094 DM
199811.552 DM6.100 DM
9

Die damalige Steuerberaterin des Klägers beantragte am 11. März 2002 beim Beklagten ergebnislos, die Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide entsprechend zu ändern (Fach 1998 der ESt-Akten a.E.)

10

Für 1999 ist der Kläger aufgrund der von seiner damaligen Steuerberaterin erarbeiteten und übersandten, allerdings nicht von ihm unterschriebenen Umsatzsteuer- und Einkommensteuererklärungen antragsgemäß mit Bescheiden vom 7. Februar 2002 veranlagt worden (Umsatzsteuer 4.121 DM = 2.107,03 €, Gewinn aus Gewerbebetrieb 21.576 DM, festgesetzte Einkommensteuer 2.213 DM = 1.131,49 €). Diese Bescheide wurden ihm zunächst nicht wirksam (öffentlich) zugestellt; am 6. September 2004 wurden aufgrund entsprechender Anordnung der Sachgebietsleiterin VI des Beklagten Aktenausfertigungen einem Steuerberater B an Amtsstelle übergeben (siehe Vermerke des StOI vom 23. August und 6. September 2004 mit handschriftlicher Anordnung der S VI vom 24. August 2004 eingangs der Heftung "K, Schriftverkehr für mehrere Jahre"). Der Steuerberater verfügte über eine Untervollmacht der, vom Kläger mandatierten, Rechtsanwaltskanzlei Y.

11

Der Kläger selbst befindet sich seit Januar 2004 ununterbrochen in Haft; er ist wegen Totschlags zu einer vierzehnjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden.

12

Mit der am 9. Januar 2013 erhobenen Klage wendet sich der Kläger gegen die Steuerschätzungen und Pfändungen (bzw. Vollstreckungsmaßnahmen) der Streitjahre "über 40.000 €". Er ist der Ansicht, dass die für die Streitjahre ergangenen Bescheide nichtig seien. Nach seiner Gewerbeabmeldung sei er - als Ausländer - nach 1990 nicht mehr vom Beklagten zu besteuern gewesen. Im Strafverfahren habe er nur gezwungenermaßen Steuerbescheide abgegeben. Die Sache könne auch nicht verjährt sein, wenn das Finanzamt noch 1999 habe Bescheide erlassen und noch 2004 habe Kontenpfändungen durchführen können. Ihm sei insgesamt ein Schaden von 98.235 DM und 68.924 € entstanden.

13

Der Kläger beantragt,

14

die Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide 1996 bis 1998 vom 18. September 2000 und des sie bestätigenden Einspruchsbescheid vom 22. Januar 2001 sowie die Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide für 1999 vom 7. Februar 2002 aufzuheben.

15

Der Beklagte beantragt,

16

die Klage abzuweisen.

17

Er ist der Ansicht, dass die Klagefrist offensichtlich versäumt und zudem Festsetzungsverjährung eingetreten ist.

18

Der Senat hat den Rechtstreit mit Beschluss vom 14. Februar 2013 dem Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.

19

Soweit sich der Kläger gegen Pfändungs- und Vollstreckungsmaßnahmen wendet, ist ein gesondertes Verfahren bei dem nach dem Geschäftsverteilungsplan des erkennenden Finanzgerichts zuständigen xx. Senat anhängig.

Entscheidungsgründe

20

Die Klage ist nicht begründet.

21

I. Die angefochtenen Bescheide sind entgegen der Auffassung des Beklagten nicht nichtig, so dass eine -auch im Rahmen einer Anfechtungsklage mögliche (vgl. BFH-Urteil vom 18. September 1980, V R 175/74, BStBl. II 1981, 293; BFH-Beschluss vom 16. September 2004, VII B 20/04; BFH/NV 2005, 231; Urteil des hiesigen 6. Senats vom 15. Dezember 2010, 6 K 12146/08, zit. n. [...]; Brockmeyer/Ratschow in Klein, AO, Rz. 15 zu § 125) - entsprechende Nichtigkeitsfeststellung gemäß § 125 Abs. 5 AO nicht in Betracht kommt.

22

Ein Steuerbescheid ist nichtig, wenn - was hier ersichtlich nicht der Fall ist - eine der Voraussetzungen des § 125 Abs. 2 AO vorliegt (fehlende Erkennbarkeit der erlassenden Finanzbehörde, tatsächliche Nichtbefolgbarkeit, Verlangen des Begehens einer rechtswidrigen Tat oder Verstoß gegen die guten Sitten) oder wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommender Umstände offenkundig ist (§ 125 Abs. 1 AO). Besonders schwerwiegend ist nur ein Fehler, der den angefochtenen Bescheid als schlechterdings unerträglich erscheinen lässt, weil er mit tragenden Verfassungsprinzipien, der Rechtsordnung immanenten wesentlichen Wertvorstellungen unvereinbar ist oder wenn er die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen und offenkundigem Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, den Bescheid als verbindlich anzuerkennen (vgl. BFH-Beschl. vom 1. Oktober 1981, IV B 13/81, BStBl. II 1982, 133; BFH-Urteile vom 13. Mai 1987, II R 140/84, BStBl. II 1987, 592; 20. Dezember 2000, I R 50/00, BStBl. II 2001, 381; vom 15. Mai 2002, X R 34/99, zit. n. [...] und vom 16. September 2010, V R 57/09, BStBl. II 2011, 151; Urteil des hiesigen 11. Senats vom 3. November 2011, 11 K 361/10, EFG 2012, 837; Urteil des FG Nürnberg vom 28. November 2012, 3 K 775/12, zit n. [...]; Urteil des FG München vom 9. Dezember 2012, 14 K 2836/09, zit. n. [...]; Brockmeyer/Ratschow a.a.O., Rz. 2).

23

Diese Voraussetzungen liegen offensichtlich nicht vor.

24

1. Der Beklagte hat die Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide 1996 bis 1998 auf Grundlage der (damaligen) Erkenntnisse der Steuerfahndung erlassen, nach denen der Kläger - was er per se auch nicht bestreitet - auch nach seiner Gewerbeabmeldung noch Einkünfte aus einer in Deutschland selbstständig ausgeübten Tätigkeit als Schweißer oder Eisenflechter erzielt hat. Diese Erkenntnisse der Steuerfahndung waren auch nicht etwa aus der Luft gegriffen; ihnen lag unter anderem Kontrollmaterial in Form von Rechnungen des Klägers zu Grunde. Zudem ist der Kläger Anfang 2002 wegen Einkommensteuer- und Umsatzsteuerhinterziehung 1996 bis 1998 zu einer nicht unerheblichen Geldstrafe verurteilt worden, so dass insgesamt nichts dafür ersichtlich ist, dass die angefochtenen Bescheide gegen tragende Verfassungsprinzipien oder wesentliche Wertvorstellungen verstießen, geschweige denn schlechthin unerträglich wären.

25

Auch dass in den angefochtenen Steuerbescheiden teilweise höhere Umsätze beziehungsweise steuerpflichtige Einkünfte des Klägers angenommen und steuermindernde Umstände wie außergewöhnliche Belastungen nicht in der Weise berücksichtigt wurden wie sie später seiner strafgerichtlichen Verurteilung zugrunde gelegt wurden, ist kein Umstand, der zur Nichtigkeit der Bescheide führt.

26

Abgesehen davon, dass erst nach Erlass der angefochtenen Bescheide und Zurückweisung des Einspruchs des Klägers durch sein Vorbringen im Strafverfahren die entsprechenden, steuerlich relevanten Umstände bekannt wurden, weil der Kläger sich - trotz entsprechender Hinweise des Beklagten im Einspruchsverfahren - erst dann bequemte, Steuererklärungen abzugeben, sind Schätzungsbescheide erst dann nichtig, wenn sie entweder auf subjektiver Willkür des handelnden Bediensteten beruhen oder wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären und Schätzungsgrundlagen zu ermitteln, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden (vgl. v.g. BFH-Urteile vom 20. Dezember 2000 und 15. Mai 2002, v.g. Urteil des FG Nürnberg). Dies ist nicht ersichtlich; die Schätzungsgrundlagen sind - zumal nach dem damaligen Erkenntnisstand der Steuerfahndung und des Beklagten - nachvollziehbar und ersichtlich nicht willkürlich angesetzt worden. Dies zeigt sich auch daran, dass bei der Umsatzsteuer für 1996 sogar ein geringerer Steuerbetrag angenommen wurde, als er später der Verurteilung des Klägers zugrunde gelegt wurde und auch für die nachfolgenden Jahre eher geringfügig höhere Beträge.

27

Im Übrigen führten selbst mehrere grobe Schätzungsfehler bei der Feststellung der Besteuerungsgrundlagen regelmäßig nicht zu der Annahme, das Finanzamt habe bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt. Der Schätzungsbescheid ist dann zwar rechtswidrig und anfechtbar, nicht aber nichtig (vgl. BFH-Beschluss vom 20. Oktober 2005, IV B 65/04, BFH/NV 2006, 240; v.g. Urteile des FG Nürnberg und des FG München).

28

2. Noch eindeutiger ist eine Nichtigkeit des Einkommensteuer- und des Umsatzsteuerbescheides 1999 zu verneinen. Diese Bescheide sind nach den Erklärungen erlassen worden, die namens des Klägers von seiner damaligen, von ihm selbst bevollmächtigten, Steuerberaterin im Strafverfahren abgegeben wurden, so dass sie gerade den Anforderungen entsprechen, die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellen sind.

29

Dass auf den Kläger zur Abgabe dieser Erklärungen im Strafverfahren entgegen § 393 AO bzw. den strafprozessualen Schweigerecht und Selbstbelastungsverbot (nemo tenetur se ipsum accusare) ein unzulässiger Zwang ausgeübt wurde, lässt sich den (Straf-)Akten, die dem Senat vorliegen, nicht entnehmen, zumal ein unzulässiger Zwang im Strafverfahren dem hieran nicht beteiligten Beklagten nicht ohne weiteres in der Weise zuzurechnen wäre, dass die von ihm erlassenen Bescheide als schlechthin unerträglich anzusehen wären. Seine diesbezüglichen Behauptungen hat der Kläger auch nicht konkretisiert oder in einer sonst nachprüfbaren Weise erhoben.

30

3. Entgegen der Auffassung des Klägers ist die Gewerbeabmeldung für seine inländische Steuerpflicht nicht von Bedeutung.

31

Er ist - unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit und der Erfüllung gewerberechtlicher Pflichten - schon dann (beschränkt) einkommensteuerpflichtig, wenn er - wie in den Streitjahren - tatsächlich Einkünfte aus einer inländischen gewerblichen Tätigkeit erzielt (§§ 1 Abs. 4, 49 Abs. 1 Nr. 2 EStG). Zudem hatte der Kläger in den Streitjahren seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt ersichtlich im Inland, so dass er sogar unbeschränkt mit seinen gesamten Einkünften der deutschen Einkommensteuer unterlag (§ 1 Abs. 1 EStG).

32

Der deutschen Umsatzsteuer unterliegt grundsätzlich alle Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens im Inland ausführt (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG).

33

Im Übrigen stellte eine fehlerhafte Bejahung der inländischen Steuerpflicht in den angefochtenen Bescheiden noch keinen Grund für ihre Nichtigkeit dar. Selbst ein Steuerbescheid, der einer gesetzlichen Grundlage entbehrt oder die in Frage kommenden Rechtsvorschriften unrichtig angewendet, ist nicht nichtig (vgl. v.g. BFH-Beschluss vom 1. Oktober 1981, v.g. BFH-Urteile vom 13. Mai 1987 und vom 16. September 2010 sowie v.g. Urteil des 11. Senats).

34

4. Auch eine etwaige (örtliche) Unzuständigkeit des Beklagten führte allenfalls zur Rechtswidrigkeit, nicht aber zur Nichtigkeit der angefochtenen Bescheide (§ 125 Abs. 3 Nr. 1 AO).

35

II. Mangels Nichtigkeit der angefochtenen Bescheide ist die Klage wegen Versäumung der Klagefrist abzuweisen; die Frage der Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide ist daher nicht zu prüfen.

36

1. Nach § 47 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) beträgt die Frist für die Erhebung der Klage einen Monat. Die Frist beginnt mit der Bekanntgabe des Einspruchsbescheides (§ 54 Abs. 1 FGO).

37

a) Der gemeinsame Einspruchsbescheid wegen Einkommen- und Umsatzsteuer 1996 bis 1998 ist dem Kläger am 31. Januar 2001 förmlich zugestellt und damit bekannt gegeben worden (§ 122 Abs. 1 und 5 der Abgabenordnung (AO)). Mithin endete die Klagefrist am 28. Februar 2001 (§ 54 Abs. 2 FGO i.V.m. § 222 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) und § 188 Abs. 2 und 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB)). Die Klage ist jedoch erst am 9. Januar 2013, also fast zwölf Jahre verspätet, eingegangen.

38

Auch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 Abs. 1 FGO wegen des Fristversäumnisses kommt ersichtlich nicht in Betracht. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ohne Antrag ist nicht möglich. Die Gründe für das Fristversäumnis sind weder offenkundig noch gerichtsbekannt. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf Antrag scheidet ebenso aus. Einen solchen Antrag hat der Kläger nicht gestellt. Zudem ging die vom Kläger in 2001 beauftragte Steuerberaterin schon im Sommer jenen Jahres davon aus, dass die Klagefrist unrettbar versäumt ist und war ferner bereits am 30. Mai 2001 telefonisch vom Beklagten über den Eintritt der Bestandskraft informiert worden (vgl. Telefonnotiz/Aktenvermerk a.E. des Fachs 1998 der ESt-Akte). Mithin hätte ein Wiedereinsetzungsantrag spätestens innerhalb von zwei Wochen ab dem 30. Mai 2001 gestellt werden müssen (§ 56 Abs. 2 FGO). Nach Fristablauf kann dieser Antrag nicht nachgeholt werden.

39

b) Auch dass der Beklagte den von der Steuerberaterin namens des Klägers nach Abschluss des Steuerstrafverfahrens mit Schriftsatz vom 11. März 2002 gestellten Antrag auf Abänderung der nunmehr angefochtenen Einkommen- und Umsatzsteuerbescheide 1996 bis 1998 nicht abschließend beschieden hat, verhilft der Klage nicht zum Erfolg.

40

Der Antrag konnte im Ergebnis keinen Erfolg haben.

41

Es handelte sich zwar um einen Änderungsantrag, für den auch eine Rechtsgrundlage, nämlich die Regelung der § 172 Abs. 1 Nr. 2d i.V.m. § 173 Abs. 1 AO, in Betracht gekommen wäre. Die Steuerberaterin hatte in diesem Antrag für die Finanzbehörde - wenngleich vage - neue Tatsachen erwähnt. Sie hatte ausgeführt, dass die Besteuerung anhand der zu den im Strafverfahren eingereichten Gewinnermittlungen und Steuererklärungen erfolgen solle und dabei Krankheitskosten als außergewöhnliche Belastungen berücksichtigt werden müssten. Die tatsächliche Höhe der Einkünfte bzw. Umsätze ist - ebenso wie das Vorliegen erheblicher Krankheitskosten - eine Tatsache i.S.d. § 173 Abs. 1 AO (vgl. BFH-Urteile vom 19. Oktober 1995, V R 60/92, BStBl. II 1996, 149, vom 10. April 2003, V R 26/02, BStBl. II 2003, 785 und vom 10. Juli 2008, IX R 4/08, BFH/NV 2008, 1803; Urteil des FG München vom 20. Mai 2010, 14 K 1061/08, zit. n. [...]; Koenig in Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl., Rz. 7, 28, 132 zu § 173).

42

Allerdings kam die beantragte Änderung nicht in Betracht, so dass offen bleiben kann, ob überhaupt im Rahmen dieser Anfechtungs- oder Nichtigkeitsfeststellungsklage eine Verurteilung des Beklagten in Betracht käme, den Antrag vom 11. März 2002 abschließend zu bescheiden.

43

Der Kläger hatte die Steuererklärungen, die zudem nicht beim Beklagten sondern nur zu den dort nicht geführten Strafakten eingereicht wurden, erst Mitte 2001 und damit nach Eintritt der Bestandskraft des vorgenannten Einspruchsbescheides verfassen lassen. Wer (zunächst) keine Steuererklärung abgibt, handelt grob schuldhaft im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO (vgl. BFH-Urteil vom 8. August 1991, V R 106/88, BStBl. II 1992, 12; Urteil des FG Hamburg vom 13. Juli 2004, VI 68/03, zit. n. [...]). Nach Bestandskraft der Schätzbescheide - wie hier - kommt daher deren Änderung zu Gunsten des Steuerpflichtigen grundsätzlich nicht mehr in Betracht.

44

Es kann daher auch dahin stehen, ob der nicht abschließend beschiedene Antrag vom 11. März 2002 zu einer (teilweisen) Hemmung des Ablaufs der nach §§ 169 Abs. 2, 170 Abs. 2 Nr. 1 AO sonst spätestens am 31. Dezember 2011 (für den Veranlagungszeitraum 1998, für 1997 ein Jahr und für 1996 zwei Jahre früher) endenden Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 3 AO geführt haben könnte.

45

c) Selbst wenn der Antrag vom 11. März 2002 entgegen seinem Wortlaut als Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung im Billigkeitswege nach § 163 AO auszulegen sein sollte, kann die Klage keinen Teilerfolg haben. Eine diesbezügliche Aussetzung dieses Rechtsstreits gemäß § 74 FGO bis zu einer entsprechenden abschließenden Entscheidung in einem gesonderten Verfahren ist nicht veranlasst. Schon die tatbestandlichen Voraussetzungen einer solchen Billigkeitsmaßnahme, die zudem im Ermessen der Finanzbehörde stünde, liegen ersichtlich nicht vor.

46

Zwar schließt der vorgenannte Eintritt der Festsetzungsverjährung eine Billigkeitsmaßnahme nicht zwingend aus. Hierbei handelt es sich um einen gesonderten Verwaltungsakt, der Grundlagenbescheid für die davon abhängigen Steuerbescheide ist, die daher nach §§ 171 Abs. 10, 175 Abs. 1 S. 1 AO noch innerhalb von zwei Jahren nach Bekanntgabe der Billigkeitsmaßnahme geändert werden können (vgl. n. rkr. Urteil des hiesigen 4. Senats vom 1. August 2012, 4 K 342/11, EFG 2012, 2086 m.w.N.). Bei entsprechender Auslegung des Antrages vom 11. März 2002 könnte dem Kläger auch nicht vorgeworfen werden, den (Billigkeits-)Antrag unverhältnismäßig spät (= erhebliche Zeit nach Eintritt der Festsetzungsverjährung) gestellt zu haben.

47

Eine abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen ist aber nur bei Vorliegen einer sachlichen oder persönlichen Unbilligkeit möglich. Die ist nicht der Fall, wenn - wie hier der Kläger durch das Unterlassen der rechtzeitigen Klageerhebung - der Steuerpflichtige einen zulässigen Rechtsbehelf nicht eingelegt hat (vgl. BFH-Urteile vom 26. Mai 1994, IV R 51/93, BStBl. II 1994, 833; Cöster in Pahlke/Koenig, AO, Rz. 15 zu § 163 m.w.N.).

48

An diesem, die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 163 AO ausschließenden Umstand ändert auch nichts, dass es zwar - wie auch in dem Antrag vom 11. März 2002 anklingt - für den Kläger schwierig gewesen sein mag, seine Einsprüche gegen die Bescheide vom 18. September 2000 aus der Untersuchungshaft hinaus zu begründen. Er hätte dann aber - die von ihm bereits Ende 1999 mandatierte Steuerberaterin (vgl. Vollmacht eingangs Bd. II der ESt-Akte) - rechtzeitig mit der Erstellung der Gewinnermittlungen und Steuererklärungen und vor allem mit der Führung des Rechtsbehelfsverfahrens und einer etwaigen, ggfls. fristwahrenden, Klage beauftragen müssen. Dass ihm dies nicht möglich war, ist weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich.

49

2. In Bezug auf die Einkommensteuer und Umsatzsteuer 1999 ist die Klage gleichfalls unzulässig.

50

Es fehlt schon an der Durchführung des Vorverfahrens (§ 44 Abs. 1 FGO). Unabhängig von ihrer materiellen Richtigkeit sind die angefochtenen Steuerbescheide für 1999 mit dem Eintritt der Bestandskraft vor mehr als acht Jahren einer gerichtlichen Kontrolle und Aufhebung entzogen. Die angefochtenen Steuerbescheide vom 7. Februar 2002 sind bestandskräftig geworden, nachdem sie wirksam durch Übergabe an den vom Kläger (unter-)bevollmächtigten Steuerberater B am 6. September 2004 bekannt gegeben und bis einschließlich 6. Oktober 2004 keine Einsprüche eingelegt wurden (§§ 355 Abs. 1, 122 Abs. 1 AO).

51

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

52

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 115 FGO) liegen nicht vor.