Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 01.08.2012, Az.: 4 K 342/11
Möglichkeit einer abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen auch nach Ablauf der Festsetzungsfrist i.R.e. verspäteten Antragstellung
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 01.08.2012
- Aktenzeichen
- 4 K 342/11
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2012, 29830
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2012:0801.4K342.11.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BFH - AZ: VIII R 40/12
Rechtsgrundlagen
- § 163 S. 1 EStG
- § 227 AO
Fundstellen
- AO-StB 2012, 336-337
- DStR 2013, 12
- DStRE 2013, 565-566
- EFG 2012, 2086-2088
Amtlicher Leitsatz
Eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen ist auch noch nach Ablauf der Festsetzungsfrist möglich, wenn der Antrag nicht unverhältnismäßig spät gestellt wird.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin Anspruch auf eine abweichende Feststellung von Besteuerungsgrundlagen aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 der Abgabenordnung (AO) hat.
Die Klägerin ist eine Rechtsanwaltssozietät, die ihren Gewinn gem. § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung ermittelt. Die von ihr erzielten Einkünfte aus selbständiger Arbeit werden von dem Beklagten (dem Finanzamt - FA -) gesondert und einheitlich festgestellt. Die Klägerin reichte die Feststellungserklärungen für die Streitjahre 1998 bis 2000 jeweils in dem auf den Feststellungszeitraum folgenden Kalenderjahr ein. Aufgrund einer in der Zeit von Januar 2002 bis April 2002 durchgeführten Außenprüfung erließ das FA am 13. Mai 2002 geänderte Feststellungsbescheide für die Jahre 1998 bis 2000 und hob den Vorbehalt der Nachprüfung auf.
Nachdem diese Bescheide bestandskräftig geworden waren, stellte sich heraus, dass eine später ausgeschiedene Mitarbeiterin der Klägerin in der Zeit von 1998 bis 2002 zur Aufladung des Gerichtskostenstemplers bestimmte Barabhebungen von Konten der Klägerin teilweise für eigene Zwecke verwendet und ihre Arbeitgeberin durch Vorlage verfälschter Quittungen über den Verbleib der Gelder getäuscht hatte.
Da die Klägerin die Gerichtskosten als durchlaufende Posten behandelte, hatten die unterschlagenen Beträge keine Auswirkungen auf die von der Klägerin ermittelten Gewinne. Erst in der im Dezember 2002 erstellten Gewinnermittlung für 2001 holte sie den Betriebsausgabenabzug der in den Jahren 1998 bis 2000 veruntreuten Beträge nach. Die von der früheren Mitarbeiterin in den Jahren 2003 bis 2005 geleisteten Schadensersatzzahlungen erfasste sie in den Gewinnermittlungen der jeweiligen Jahre als Betriebseinnahmen.
Im Anschluss an eine vom 21. bis 24. November 2005 durchgeführte Außenprüfung für die Jahre 2001 bis 2003 vertrat der Prüfer die Ansicht, dass der im Jahr 2001 nachgeholte Betriebsausgabenabzug nicht gerechtfertigt sei. Er ließ lediglich die im Prüfungszeitraum unterschlagenen Beträge zum Betriebsausgabenabzug zu. Die Erfassung der im Jahre 2003 vereinnahmten Schadensersatzzahlung als Betriebseinnahme ließ er unverändert.
Durch Bescheide vom 15. Mai 2006 änderte das FA die Feststellungsbescheide 2001 bis 2003 entsprechend den Prüfungsfeststellungen. Über die hiergegen eingelegten Einsprüche hat das FA noch nicht entschieden.
Mit Schreiben vom 28. August 2006 beantragte die Klägerin, im Wege einer abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen die in den Jahren 2003 bis 2005 vereinnahmten Schadensersatzleistungen um die unterschlagenen Beträge zu vermindern, hilfsweise die Gewinne der Jahre 1998 bis 2000 um die unterschlagenen Beträge zu verringern. Zur Begründung führte sie aus, die im Anschluss an die Außenprüfung erlassenen Gewinnfeststellungsbescheide für die Jahre 1998 bis 2000 könnten allein wegen der Änderungssperre gemäß § 173 Abs. 2 AO nicht mehr geändert werden. Es sei jedoch sachlich unbillig, die Schadensersatzleistungen als Betriebseinnahmen zu erfassen, ohne dass die vorangegangenen Vermögenseinbußen als Betriebsausgaben abgezogen worden seien.
Durch Bescheid vom 21. September 2006 lehnte das FA die Anträge ab. Den dagegen eingelegten Einspruch wies es durch Einspruchsentscheidung vom 5. April 2007 als unbegründet zurück. Die dagegen erhobene Klage hatte teilweise Erfolg. Durch Urteil vom 2. Dezember 2009 hob das Niedersächsische Finanzgericht den Ablehnungsbescheid mitsamt des dazu ergangenen Einspruchsbescheids insoweit auf, als das FA die von der Klägerin hilfsweise begehrte Billigkeitsmaßnahme für die Jahre 1998 bis 2000 abgelehnt hatte, und verpflichtete das FA, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Es vertrat die Ansicht, dass die Voraussetzungen für eine abweichende Feststellung der Besteuerungsgrundlagen aus Billigkeitsgründen vorlägen, weil die Feststellungsbescheide 1998 bis 2000 offensichtlich und eindeutig unrichtig seien und die Klägerin durch die eingetretene Bestandskraft und die Änderungssperre nach § 173 Abs. 2 AO gehindert gewesen sei, deren Änderung herbeizuführen. Der Eintritt der Feststellungsverjährung stehe der Gewährung der Billigkeitsmaßnahme nicht entgegen, doch werde das FA zu prüfen haben, ob die Klägerin ihren Billigkeitsantrag unverhältnismäßig spät gestellt habe.
Durch Bescheid vom 23. Juni 2011 lehnte das FA den auf die Jahre 1998 bis 2000 bezogenen Billigkeitsantrag erneut ab. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies es durch Einspruchsbescheid vom 1. Dezember 2011 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte es aus: Offensichtlich und eindeutig unrichtige Steuerfestsetzungen könnten nach § 163 AO im Billigkeitswege geändert werden, wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und zumutbar gewesen sei, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren. Dies gelte grundsätzlich auch nach Eintritt der Festsetzungsverjährung. Ein unverhältnismäßig spät gestellter Billigkeitsantrag könne aber mit Rücksicht auf den eingetretenen Zeitablauf abgelehnt werden. Anhaltspunkte für die Beurteilung der Unverhältnismäßigkeit könnten den gesetzlichen Fristen entnommen werden, deren Versäumung zu Rechtsverlusten führe (Hinweis auf die Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 17. März 1987 VII R 26/84, BFH/NV 1987, 620, und vom 14. März 2006 VIII R 45/03, BFH/NV 2006, 1448). Als solche komme im Streitfall die vierjährige Feststellungsfrist in Betracht. Da der Gesetzgeber mit der Regelung des § 173 Abs. 2 AO für die aufgrund einer Außenprüfung ergangenen Bescheide aus Gründen des Rechtsfriedens eine besondere Änderungssperre geschaffen habe, sei für den Beginn dieser Frist auf den 17. Juni 2002 abzustellen, mit dessen Ablauf die aufgrund der Außenprüfung geänderten Feststellungsbescheide unanfechtbar geworden seien. Damit sei die Frist für die Stellung eines Antrags auf abweichende Steuerfestsetzung spätestens mit Ablauf des 19. Juni 2006 - eines Montags - verstrichen. Tatsächlich habe die Klägerin den darauf gerichteten Antrag aber erst am 28. August 2006 gestellt.
Hiergegen richtet sich die Klage. Zu deren Begründung trägt die Klägerin vor: Ausgehend von dem BFH-Urteil in BFH/NV 1987, 620 [BFH 17.03.1987 - VII R 26/84] sei ein Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgrundsätzen zwar innerhalb einer Frist von vier Jahren zu stellen. Entgegen der von dem FA vertretenen Ansicht beginne diese aber nicht bereits mit Eintritt der Bestandskraft der Änderungsbescheide vom 13. Mai 2002, sondern erst mit der Schlussbesprechung zu der Außenprüfung für die Jahre 2001 bis 2003, die am 17. Januar 2006 stattgefunden habe, frühestens aber zu dem Zeitpunkt, zu dem sie von den Unterschlagungen Kenntnis erlangt habe. Dies sei nicht vor April 2003 der Fall gewesen. Die von ihr - der Klägerin - mit den Abschlussarbeiten für 2001 beauftragte Steuerberatungsgesellschaft habe diese Arbeiten am 28. Mai 2002 begonnen und am 5. Dezember 2002 mit dem Entwurf der Einnahmen-Überschussrechnung abgeschlossen. In dem am 6. Dezember 2002 übersandten Leseexemplar sei erwähnt, dass darin die Differenz zwischen dem Konto "Durchlaufende Posten", auf dem die von der Klägerin verauslagten Gerichtskosten gebucht worden seien, und der Aufzeichnung dieser Kosten in dem von ihr benutzten Rechtsanwaltsprogramm als Aufwand gebucht worden sei. Dieser Entwurf sei am 29. Januar 2003 mit ihren Gesellschaftern besprochen worden. Da sich niemand die Höhe des Differenzbetrages habe erklären können, sei eine Sonderprüfung veranlasst worden, die in der Zeit von Februar bis April 2003 stattgefunden und zur Aufdeckung der Unterschlagungen geführt habe.
Außerdem - so führt die Klägerin weiter aus - habe sie aufgrund des Verlaufs der Außenprüfung für die Jahre 2001 bis 2003 zunächst davon ausgehen können, dass das FA die Nachholung des Betriebsausgabenabzugs der unterschlagenen Beträge im Jahr 2002 anerkennen werde. Mit Telefax vom 1. Dezember 2005 habe ihre steuerliche Beraterin ihr mitgeteilt, dass die Prüfung bis dahin ohne Mehrergebnis geblieben sei. Erst später habe der Prüfer auf Weisung des Sachgebietsleiters seine Meinung geändert. Dabei sei es auch in der Schlussbesprechung vom 17. Januar 2006 geblieben.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 23. Juni 2011 und des hierzu ergangenen Einspruchsbescheides vom 1. Dezember 2011 zu verpflichten, die Gewinne der Jahre 1998 bis 2000 um die in diesen Zeiträumen unterschlagenen Beträge niedriger festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält an der seinem Einspruchsbescheid zugrunde liegenden Beurteilung fest und führt aus: Die Änderungsbescheide vom 13. Mai 2002 seien mit Ablauf des 17. Juni 2002 bestandskräftig geworden und hätten seitdem der besonderen Änderungssperre nach § 173 Abs. 2 AO unterlegen. Dieser Zeitpunkt liege innerhalb des Zeitraums, in dem die Klägerin von den Unterschlagungen Kenntnis erlangt habe. Damit sei die maximale Frist von vier Jahren bei Stellung des Antrags auf abweichende Steuerfestsetzung am 28. August 2006 bereits verstrichen gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist sie unbegründet.
1. Gemäß § 163 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Diese Vorschrift gilt für die gesonderte Feststellung der Besteuerungsgrundlagen sinngemäß (§ 181 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Entscheidung über die Gewährung der Billigkeitsmaßnahme stellt eine Ermessensentscheidung dar. Die Ausübung dieses Ermessens kann von dem Gericht nur darauf überprüft werden, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 102 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
a) Im Streitfall steht es aufgrund des rechtskräftigen, die Beteiligten nach § 110 Abs. 1 FGO bindenden Urteils des Senats vom 2. Dezember 2009 fest, dass die Nichtberücksichtigung der unterschlagenen Geldbeträge als Betriebsausgaben in den Jahren 1998 bis 2000 im Feststellungsverfahren unbillig ist, weil sie darauf beruht, dass die aufgrund der Außenprüfung für die Jahre 1998 bis 2000 ergangenen Änderungsbescheide allein wegen der Sperrwirkung des § 173 Abs. 2 AO nicht mehr wegen nachträglich bekannt gewordener steuermindernder Tatsachen zugunsten der Klägerin geändert werden konnten. Gegenstand der erneuten Ermessensentscheidung des FA und des Klageverfahrens ist daher allein die Frage, ob die von der Klägerin begehrte abweichende Feststellung der Besteuerungsgrundlagen deshalb abgelehnt werden kann, weil diese den darauf gerichteten Antrag zu spät gestellt hat.
b) Da die Klägerin die Feststellungserklärungen jeweils in dem auf den Feststellungszeitraum folgenden Kalenderjahr abgegeben hatte, endeten die Feststellungsfristen für die Jahre 1998 und 1999 mit Ablauf der Jahre 2003 bzw. 2004 und die Feststellungsfrist für das Jahr 2000 mit Ablauf des Jahres 2005 (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 181 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO). Bei der Stellung des Billigkeitsantrags am 28. August 2006 war die Feststellungsfrist damit für alle streitigen Feststellungszeiträume abgelaufen.
Dieser Umstand steht der Gewährung einer Billigkeitsmaßnahme nach § 163 Satz 1 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO allerdings nicht zwingend entgegen. Der Verwaltungsakt, der die Billigkeitsmaßnahme gewährt, ist Grundlagenbescheid für den davon abhängigen Steuer- bzw. Feststellungsbescheid (ständige Rechtsprechung des BFH: Beschluss vom 4. Dezember 1987 V S 9/85, BFH/NV 1988, 466, BStBl. II 1988, 702; Urteile vom 26. Februar 1991 IX R 95/88, BFHE 163, 562, [BFH 26.02.1991 - IX R 95/88] BStBl. II 1991, 572; vom 21. Januar 1992 VIII R 51/81, BFHE 168, 500 [BFH 21.01.1992 - VIII R 51/88], [BFH 21.01.1992 - VIII R 51/88] BStBl. II 1993, 3; vom 21. September 2000 IV R 54/99, BFHE 193, 301 [BFH 21.09.2000 - IV R 54/99], BStBl. II 2001, 178), so dass die Festsetzungs- bzw. Feststellungsfrist für die Änderung des Folgebescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe der Entscheidung über die Gewährung der Billigkeitsmaßnahme endet (§ 171 Abs. 10 Satz 1, § 181 Abs. 1 Satz 1 AO).
Aus dem Fehlen einer gesetzlichen Frist für den Billigkeitsantrag folgt jedoch nicht, dass es für dessen Stellung keinerlei zeitliche Grenze gibt. In Bezug auf Erlass- bzw. Erstattungsanträge nach § 227 AO hat der BFH die Auffassung vertreten, dass grundsätzlich zwar auch bereits verjährte Ansprüche eine Erstattung im Rahmen von Billigkeitsmaßnahmen erlaubten, die Ablehnung eines Erstattungsantrags jedoch rechtmäßig sein könne, wenn der Antrag unverhältnismäßig spät gestellt worden sei und die Säumnis vom Antragsteller zu vertreten sei (Urteil vom 17. März 1987 VII R 26/84, BFH/NV 1987, 620; ebenso die noch zu § 131 der Reichsabgabenordnung ergangenen Urteile vom 8. Oktober 1980 II R 8/76, BFHE 131, 446, BStBl. II 1981, 82, und vom 3. Februar 1976 VII R 47/74, BFHE 118, 3 [BFH 13.01.1976 - VII R 47/74]). Anhaltspunkte für eine unverhältnismäßig späte Antragstellung könnten sich aus den gesetzlichen Fristen ergeben, deren Versäumung zu Rechtsverlusten führe. Ohne sich auf eine feste Obergrenze festzulegen, hat der BFH jedenfalls einen mehr als vier Jahre nach Bestandskraft der ersten Ablehnung gestellten erneuten Billigkeitsantrag für verspätet gehalten.
Da sich Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 Satz 1 AO unmittelbar auf die Steuerfestsetzung bzw. Feststellung der Besteuerungsgrundlagen auswirken, hält es der Senat grundsätzlich für ermessensgerecht, darauf bezogene Anträge dann als verspätet abzulehnen, wenn sie erst nach Ablauf der Festsetzungs- oder Feststellungsfrist gestellt werden, obwohl der Steuerpflichtige bereits vor Ablauf der Frist von den die Billigkeitsmaßnahme rechtfertigenden Umständen Kenntnis erlangt hat und ihm ausreichende Zeit verblieben war, den Antrag vor Fristablauf zu stellen.
c) Danach hat das FA die auf die Jahre 1998 und 1999 bezogenen Anträge zu Recht abgelehnt. Selbst wenn man der Darstellung der Klägerin folgt, dass sie vor April 2003 keine sichere Kenntnis von dem Umfang der Unterschlagungen hatte, standen ihr bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist für das Jahr 1998 noch mehr als acht Monate und bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist für das Jahr 1999 sogar noch mehr als 20 Monate zur Verfügung, um einen Antrag auf abweichende Feststellung der Besteuerungsgrundlagen zu stellen. Da sie hierauf verzichtet und zunächst - ohne den Sachverhalt gegenüber dem FA offenzulegen - versucht hat, den Betriebsausgabenabzug der Unterschlagungsverluste im Jahr 2001 nachzuholen, war es ermessensgerecht, dass das FA den erst im Jahr 2006 gestellten Billigkeitsantrag als verspätet abgelehnt hat.
d) Demgegenüber hält die Ermessensausübung bezogen auf das Jahr 2000 der gerichtlichen Nachprüfung nicht stand. Zwar hat die Klägerin auch den Antrag für dieses Jahr erst nach Ablauf der Feststellungsfrist gestellt. Insoweit ist jedoch zu beachten, dass das FA aufgrund der Außenprüfung für die Jahre 2001 bis 2003 bereits im November 2005 und damit vor Ablauf der Festsetzungsfrist von den Umständen Kenntnis erlangt hat, die eine abweichende Feststellung der Besteuerungsgrundlagen für dieses Jahr gerechtfertigt hätten. Selbst wenn Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 Satz 1 AO in der Regel auf Initiative des Steuerpflichtigen erfolgen, hängt ihre Gewährung doch nicht von einem darauf gerichteten Antrag ab. Vielmehr kann die Finanzbehörde sie - von den Fällen des § 163 Satz 2 AO abgesehen - auch von sich aus treffen. Vor diesem Hintergrund hätte das FA im Rahmen seiner Ermessensabwägung die Frage prüfen müssen, ob der Umstand, dass der formelle Billigkeitsantrag erst nach Ablauf der Feststellungsfrist gestellt wurde, nicht ausnahmsweise hinter die bereits zuvor erlangte Kenntnis des FA von den die Billigkeitsmaßnahme rechtfertigenden Umständen zurücktritt. Die Außerachtlassung dieses Gesichtspunkts stellt einen Ermessensfehlgebrauch im Sinne des § 102 FGO dar, der bezogen auf das Jahr 2000 zur Aufhebung der ablehnenden Entscheidung führt.
Im Rahmen seiner erneuten Ermessensabwägung wird das FA auch der von der Klägerin im Klageverfahren aufgestellten Behauptung nachzugehen haben, der Prüfer habe ihr gegenüber noch Anfang Dezember 2005 zum Ausdruck gebracht, die Nachholung des Betriebsausgabenabzugs im Jahr 2001 akzeptieren zu wollen, und seine Auffassung erst zu einem nicht näher bezeichneten Zeitpunkt vor der Schlussbesprechung am 17. Januar 2006 revidiert. Sollte diese Darstellung zutreffen und die Revision der von dem Prüfer zunächst vertretenen Auffassung erst nach Ablauf der Feststellungsfrist zum Jahresende 2005 erfolgt sein, könnte dies ein weiterer Gesichtspunkt sein, der dafür spricht, dass die verspätete Stellung des formellen Billigkeitsantrags ausnahmsweise unschädlich ist.
2. Der Ablehnungsbescheid vom 23. Juni 2011 und der dazu ergangene Einspruchsbescheid vom 1. Dezember 2011 sind daher insoweit aufzuheben, als das FA die abweichende Feststellung der Besteuerungsgrundlagen für das Jahr 2000 abgelehnt hat. Insoweit hat das FA die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (§ 101 Satz 2 FGO). Im Übrigen ist die Klage abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. Die Anordnungen zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeben sich aus § 708 Nr. 10 und § 711 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 151 Abs. 1 und 3 FGO. Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 1 i. V .m. Abs. 2 Nr. 1 FGO. Die Frage, innerhalb welcher zeitlichen Grenzen Billigkeitsanträge nach § 163 Satz 1 gestellt werden können, hat grundsätzliche Bedeutung.