Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 04.03.2013, Az.: 12 K 279/12

Neue Tatsache; Schätzung

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
04.03.2013
Aktenzeichen
12 K 279/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 64431
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Neue Tatsache nach Schätzung

Revision eingelegt - BFH-Az.: X R 57/13

Tatbestand:

Streitig sind im Wesentlichen die Rechtmäßigkeit der Änderung eines auf geschätzten Besteuerungsgrundlagen beruhenden Feststellungsbescheides sowie die steuerrechtliche Beurteilung eines so genannten „Abschreibungsdarlehens“.

Die Klägerin betrieb im Zeitraum 1. Mai 2004 bis 31. Januar 2008 die Gaststätte „X“ in … und erzielte hieraus gewerbliche Einkünfte (§ 15 Einkommensteuergesetz – EStG -). Ihren Gewinn ermittelte sie durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung gemäß § 4 Abs. 3 EStG.

Mit (privatschriftlichem) Bierbezugsvertrag aus Juni 2006 verpflichtete sich die Klägerin als Betreiberin der Gaststätte gegenüber der Brauerei (B), in der Zeit vom 1. Juni 2006 bis zum 31. Mai 2016 in ihrer Gaststätte ausschließlich das Bier „Y“ zu beziehen und fortlaufend vom Fass sowie näher bezeichnete Biere und Biermischgetränke zum Ausschank zu bringen. Die B verpflichtete sich ihrerseits, der Klägerin für ihre Gaststätte zum Einen ein „Darlehen“ über 7.536,55 € sowie zum Anderen ein „Abschreibungsdarlehen“ in Höhe von 31.000 € zuzüglich 16 v. H. Umsatzsteuer, insgesamt 35.960 €, zu gewähren (§ 1 des Vertrages). Das „Darlehen“ war in monatlichen Raten – beginnend frühestens ab Januar 2007 – in Höhe von 215 € zu tilgen und vom Auszahlungstage an mit 4 v. H. p. a. zu verzinsen. Im Hinblick auf das „Abschreibungsdarlehen“ verpflichtete sich B, der Klägerin bis zur vollständigen Tilgung – höchstens jedoch bis zum Ablauf der Bezugsverpflichtung – für jeden bezogenen Hektoliter an Fass- und Flaschenbieren aus dem anrechenbaren Sortiment nachträglich 21 € zu vergüten und dem Abschreibungsdarlehenskonto gutzuschreiben. Als Gesamtbetrag der Tilgung für das „Abschreibungsdarlehen“ waren 31.000 € angegeben. Für den Fall, dass das „Abschreibungsdarlehen“ nicht bis zum Ablauf der Bezugsverpflichtung vollständig getilgt sein sollte, war die Klägerin zur sofortigen Rückzahlung der ausstehenden Valuta zuzüglich der auf sie entfallenden Umsatzsteuer verpflichtet (§ 2 des Vertrages).

Hinsichtlich der umsatzsteuerlichen Behandlung des „Abschreibungsdarlehens“ hatte die Klägerin im Oktober 2006 unter Vorlage des Vertrags eine verbindliche Auskunft beantragt. Mit Bescheid vom 20. November 2006 lehnte das FA (das Finanzamt – FA -) die Erteilung der Auskunft zwar ab, teilte aber mit, bei dem „Abschreibungsdarlehen“ handele es sich um eine vorgezogene Umsatzrückvergütung, die bereits im Zeitpunkt der Zahlung der Umsatzsteuer unterliege.

Das FA erließ gegenüber der Klägerin wegen der Nichtabgabe einer Feststellungserklärung für den streitigen Feststellungszeitraum 2006 unter dem 10. Dezember 2007 einen Bescheid über die gesonderte Feststellung des Gewinns, in dem dieser mit 10.000 € geschätzt wurde. Der Bescheid stand nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.

Im Rahmen des gegen den Schätzungsbescheid geführten Einspruchsverfahrens reichte die Klägerin die Feststellungserklärung für 2006 samt Anlage EÜR ein, die gewerbliche Einkünfte mit ./. 1.469,71 € auswies. Das FA erließ daraufhin mit Datum vom 9. August 2010 einen gem. § 172 Abs. 1 Nr. 2 Abgabenordnung (AO) geänderten Feststellungsbescheid. Es erhöhte dabei die Betriebseinnahmen um 31.000 €, nahm unstreitige Korrekturen bei den Betriebseinnahmen (vom FA erstattete und ggfs. verrechnete Umsatzsteuer) sowie den Betriebsausgaben (gezahlte Vorsteuerbeträge, an das FA gezahlte und ggf. verrechnete Umsatzsteuer) vor und stellte nunmehr die Einkünfte der Klägerin aus Gewerbebetrieb mit 26.143 € gesondert fest. Zur Begründung verwies es im Wesentlichen darauf, dass das von der B gezahlte „Abschreibungsdarlehen“ eine vorgezogene Umsatzrückvergütung darstelle und somit im Zeitpunkt des Zuflusses im Kalenderjahr 2006 zu einer ertragsteuerlichen Einnahme gemäß § 11 Abs. 1 EStG geführt habe. Mit Einspruchsbescheid vom 22. Dezember 2010 wurde der Einspruch schließlich als unbegründet zurückgewiesen. Das FA wies insbesondere darauf hin, dass ein Hinweis auf Verböserung im Einspruchsverfahren nicht ergehen müsse, weil die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO vorlägen.

Hiergegen wandte sich die Klägerin mit ihrer unter dem 13. Januar 2011 erhobenen Klage, die unter dem Az. 12 K 17/11 geführt wurde. Sie führte zur Begründung aus, das FA sei nicht berechtigt gewesen, im laufenden Einspruchsverfahren eine geänderte Feststellung ihrer gewerblichen Einkünfte in der Weise vorzunehmen, dass es diese höher festgestellt habe, ohne ihr zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme bzw. zur Rücknahme ihres Einspruchs zu geben. Insbesondere hätten insoweit die Voraussetzungen einer Änderung des Feststellungsbescheides gemäß § 173 AO wegen neuer Tatsachen nicht vorgelegen. Zwar sei der mit dem Einspruch angefochtene Feststellungsbescheid wegen der zunächst unterbliebenen Abgabe einer Feststellungserklärung für 2006 im Schätzungswege ergangen. Soweit das FA die höhere Feststellung ihrer gewerblichen Einkünfte aber mit dem zwischen ihr und der B geschlossenen Darlehensvertrag begründet habe, sei dieser Umstand für das FA keineswegs neu gewesen. Denn dieser Vertrag sei dem FA bereits im Rahmen der Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldungen vorgelegt worden. Im Übrigen hätten dem FA seit dem Ablauf des Kalenderjahres 2006 durch die pünktliche Abgabe aller Umsatzsteuer-Voranmeldungen nebst der Vorlage des Darlehensvertrages die Zahlen zu 95 v. H. vorgelegen. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse hätten schon im Rahmen des Schätzungsbescheides vom 10. Dezember 2007 einfließen können. Da das FA im Hinblick auf die von der Auffassung der Klägerin abweichenden steuerrechtlichen Beurteilung der Darlehensgewährung von einer Gewinnerhöhung über 31.000 € ausgehe, habe von vornherein festgestanden, dass eine Schätzung mit einem Reingewinn von 10.000 € für den streitigen Feststellungszeitraum nicht zutreffend gewesen sein könne. Damit fehle es insoweit aber am Vorliegen einer neuen Tatsache. Wenn das FA im Rahmen des Einspruchsverfahrens auf die beabsichtigte Verböserung hingewiesen hätte, wäre von ihr – der Klägerin – der Einspruch umgehend zurückgenommen worden, sodass es bei den im Schätzungsbescheid festgestellten gewerblichen Einkünften von 10.000 € verblieben wäre. Schließlich könne aber auch der materiell-rechtlichen Behandlung des so genannten „Abschreibungsdarlehens“ über 31.000 € (netto) durch das FA nicht gefolgt werden. Die Klägerin begründete ihre Auffassung hierzu im Einzelnen. Das FA verwies im Wesentlichen auf die Begründung des Einspruchsbescheids.

In der mündlichen Verhandlung vom 8. Mai 2012 hob das FA den Änderungsbescheid vom 9. August 2010 und den Einspruchsbescheid vom 22. Dezember 2010 auf (schriftliche Mitteilung des FA vom 21. Mai 2012), die Klägerin nahm zugleich ihren Einspruch gegen den Schätzungsbescheid vom 10. Dezember 2007 zurück. Die Beteiligten erklärten übereinstimmend das Klageverfahren für in der Hauptsache erledigt.

Unter dem 20. Juni 2012 erließ das FA sodann einen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geänderten Feststellungsbescheid, mit dem es den Gewinn mit 26.143,02 € festsetzte. In der Anlage zum Bescheid erläuterte das FA die Änderungsbefugnis. Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sei ein Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art, nicht dagegen Schlussfolgerungen aller Art. Besonderheiten ergäben sich bei der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen, insbesondere bei Schätzung des Gewinns. Da der Besteuerung hier kein besonderer Tatsachenstoff zugrunde gelegen habe, lasse sich nicht sagen, dass ein neu bekannt gewordener Vorgang zu den bisher berücksichtigten Besteuerungsgrundlagen hinzutrete und das steuerliche Ergebnis in bestimmter Weise verändere. Vielmehr könne erst nach Kenntnis aller den Veranlagungszeitraum berührender Vorgänge und ihrer steuerlichen Auswirkungen gesagt werden, ob die bisher festgesetzte Steuer zu erhöhen oder zu ermäßigen sei. Das FA habe in Kenntnis der angemeldeten Umsätze, aber in Unkenntnis anderer für die Höhe des Gewinns erheblicher Geschäftsvorfälle, insbesondere im Bereich der Betriebsausgaben, den Gewinn auf 10.000 € geschätzt. Schätzungsgrundlage seien die vorangemeldeten Umsätze in Höhe von 125.591 € netto gewesen, in denen der Brauereizuschuss von 31.000 € enthalten gewesen sei. Des Weiteren hätten sich aus den Voranmeldungen die vorsteuerbelasteten Betriebsausgaben ableiten lassen sowie anhand der Gewinnermittlungen der Vorjahre die AfA und die Personalkosten. Der Gewinn betrage danach 11.620 €, der auf 10.000 € abgerundet worden sei. Der Prozessbevollmächtigte habe selbst vorgetragen, dass der von der Klägerin ermittelte Verlust in Höhe von 1.469,71 € erst nach Vorlage des Schätzungsbescheids bekannt gewesen sei. Neue Tatsache sei der Gewinn, der sich unter Ansatz dieses Ergebnisses der Gewinnermittlung und der Berücksichtigung weiterer steuerlich erheblicher Sachverhalte wie dem Brauereivertrag ergebe.

Mit dem Einspruch machte die Klägerin geltend, es sei nach Aufhebung des Gewinnfeststellungsbescheids vom 9. August 2010 der Zustand wieder hergestellt worden, der vor der Aufhebung bestanden habe. Eine neue Tatsache läge nicht vor.

Das FA wies den Einspruch mit Einspruchsbescheid vom 24. August 2012 zurück und wiederholte als Begründung die Erläuterung des Änderungsbescheids.

Mit der Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie wiederholt ihr bisheriges Vorbringen und weist insbesondere darauf hin, dass seit der mündlichen Verhandlung am 8. Mai 2012 keine neuen Tatsachen bekannt geworden seien. Das FA missachte das Ergebnis der mündlichen Verhandlung. Am 8. Mai 2012 habe der Vertreter des FA angegeben, das Brauereidarlehen sei in der Schätzung nicht enthalten gewesen. Nunmehr werde die Schätzung aber unter Einbeziehung des Darlehens begründet.

Bei dem Brauereidarlehen handele es sich um ein echtes Darlehen, denn bei Übergabe der Gaststätte an die Nachfolger seien die offenen Beträge mit Zustimmung der Brauerei übertragen worden. Die Klägerin habe sich verpflichtet, 120 Monate lang Bier von der B zu beziehen. Sie habe den Betrieb aber bereits zu Ende Januar 2008 an einen Nachfolger übergeben, also nach 20 Monaten. Für diese Zeit seien ihr insgesamt nur 4.960 € angerechnet worden. Nur diesen Betrag habe sie behalten dürfen. Für die Umsatzsteuer sei eine entsprechende Korrektur erfolgt. Das Ereignis der Betriebsübergabe mit Übergang des „Abschreibungsdarlehens“ sei ein rückwirkendes Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, weil im Nachhinein der Erlös geschmälert sei. Nur 4.960 € seien in der Gewinnermittlung zu erfassen.

Die Klägerin beantragt,

den geänderten Feststellungsbescheid vom 20. Juni 2012 sowie den Einspruchsbescheid vom 24. August 2012 aufzuheben.

Das FA beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Voraussetzungen für eine Änderung des auf der Schätzung beruhenden Bescheids lägen vor. Neue Tatsache sei nicht der Geschäftsvorfall „Bierbezugsvertrag“, sondern der sich anhand der Einnahmeüberschussrechnung ergebende Gewinnbetrag. Nach dem Schreiben der B vom 21. Dezember 2012 handele es sich bei dem Abschreibungsdarlehen nicht um ein echtes Darlehen, sondern um eine Zahlung für das Recht auf die Belieferung für eine bestimmte Warenmenge/Zeit. In 2006 sei dieses „Darlehen“ mit 1.791,51 € abgeschrieben worden.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der angegriffene Feststellungsbescheid vom 20. Juni 2012 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Der Bescheid durfte nicht ergehen, weil die Voraussetzungen für eine Änderung des ursprünglichen und auf geschätzten Besteuerungsgrundlagen beruhenden Bescheids vom 10. Dezember 2007 nicht vorliegen.

1. Nach der Aufhebung des im Laufe des Einspruchsverfahrens ergangenen Änderungsbescheids vom 9. August 2010 und des dazu ergangenen Einspruchsbescheids vom 22. Dezember 2010 sowie der Rücknahme des Einspruchs gegen den Bescheid vom 10. Dezember 2007 war das Besteuerungsverfahren in den Stand zurückversetzt, in dem zum Einen ein bestandkräftiger und nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehender Bescheid vom 10. Dezember 2007 und zum Anderen die am 24. Januar 2008 eingereichte Steuererklärung vorlagen.

2. Gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO – und nur diese Änderungsvorschrift kommt im Streitfall in Betracht - sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.

a) Tatsache ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann; es kann sich handeln um Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art, die eines Beweises zugänglich sind (ständige Rechtsprechung; vgl. Klein AO § 173 Rz. 21; Pahlke/Koenig Abgabenordnung § 173 Rz. 7, jew. mwN). Keine Tatsachen sind Schlussfolgerungen, Wertungen und ähnliche einem gedanklichen Prozess unterliegenden Würdigungen und Ergebnisse (vgl. Pahlke/Koenig § 173 Rz. 12 mwN). Der steuerliche Gewinn oder die Einkünfte aus Gewerbebetrieb sind keine Tatsachen, denn diese Besteuerungsgrundlagen sind selbst Ergebnisse eines wertenden und rechnerischen Vorgangs. Die den Gewinn bestimmenden Faktoren wie die einzelnen Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben sind zwar einerseits Tatsachen, denn sie bilden das Ergebnis geschäftlicher Vorfälle ab. Andererseits ist bei der Gewinnermittlung aber auch eine rechtliche Beurteilung der steuerlichen Maßgeblichkeit der Tatsachen vorzunehmen. So ist zB bei AfA-Beträgen zu prüfen, ob sie dem Grunde und der Höhe nach den steuerrechtlichen Bestimmungen (zB § 7 EStG) entsprechen. Bei Sach-, Nutzungs- und Leistungsentnahmen ist eine Bewertung nach den gesetzlichen Vorgaben anzustellen. Nicht zuletzt ist der Gewinn Ergebnis einer abschließenden Rechenoperation. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in seinem Urteil vom 28. März 1985 IV R 159/82, BStBl. II 1986, 120 ausgeführt, dass zu den Schlussfolgerungen auch eine Schätzung aufgrund von tatsächlichen Schätzungsgrundlagen gehöre.

In Schätzfällen besteht indes die Besonderheit, dass die Schätzung als solche keine Tatsache, sondern das Ergebnis eines wertenden Denkprozesses ist. Tatsachen sind nur die Schätzungsgrundlagen mit der Folge, dass durch die Feststellung einzelner neuer Schätzungsgrundlagen Tatsachen nachträglich bekannt werden. Dies bedeutet zugleich, dass nicht jede nachträglich bekannt werdende Schätzungsgrundlage eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO rechtfertigt. Vielmehr ist für die Anwendbarkeit dieser Änderungsnorm erforderlich, dass solche Schätzungsgrundlagen bekannt werden, die das FA bei rechtzeitiger Kenntnis veranlasst hätten, die Schätzung nicht oder nicht in dieser Weise vorzunehmen. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO dient insbesondere nicht zur Korrektur von Schätzungsfehlern (vgl. Pahlke/Koenig Abgabenordnung § 173 Rz. 26 ff. mwN). Der BFH verlangt im Falle einer vorangegangenen Schätzung von Besteuerungsgrundlagen nicht die Vornahme einer vollständig neuen Gewinnermittlung, sondern vielmehr die Prüfung, ob nach dem Bekanntwerden weiterer Schätzungsgrundlagen die bisherige durch eine neue Schätzung ersetzt werden soll (BFH-Beschluss vom 5. November 2007, BFH/NV 2008, 190 [BFH 05.11.2007 - XI B 42/07] mwN).

Der BFH hat in mehreren Entscheidungen dazu Stellung genommen, unter welchen Voraussetzungen nach einer Schätzung eine Änderung zugunsten (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO) oder zulasten des Steuerpflichtigen (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) erfolgen kann. Bis auf die Frage des Verschuldens bei einer möglichen Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen sind die Voraussetzungen für eine Änderung identisch.

In seinem Urteil vom 30. Oktober 1986 III R 164/82, BFH/NV 1987, 353 hat der BFH ausgeführt, ob eine nachträglich bekannt gewordene Tatsache zu einer niedrigeren Steuer führe, hänge davon ab, von welchen Tatsachen bisher bei der Besteuerung ausgegangen worden sei. Dabei ergäben sich Besonderheiten, wenn die Steuerfestsetzung auf der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen beruhe. Da der Besteuerung in einem solchen Fall kein bestimmter Tatsachenstoff zugrunde liege, lasse sich nicht sagen, dass ein neu bekannt gewordener Vorgang zu den bisher berücksichtigten Besteuerungsgrundlagen hinzutrete und das steuerliche Ergebnis in bestimmter Weise verändere. Vielmehr könne erst nach Kenntnis aller den Veranlagungszeitraum berührender Vorgänge und ihrer steuerlichen Auswirkungen gesagt werden, ob die bisher festgesetzte Steuer zu erhöhen oder zu ermäßigen sei. Deshalb lägen nach einer vorangegangenen Gewinnschätzung nachträglich bekannt gewordene Tatsachen, die zu einer niedrigeren Steuer führten, nur dann vor, wenn sich aus der Gesamtwürdigung der Tatsachen eine niedrigere Steuer ergebe. Die nachträglich getroffenen tatsächlichen Feststellungen könnten nicht in solche zerlegt werden, die steuererhöhend oder steuermindernd wirkten. Das gelte auch, soweit die festgestellten Betriebseinnahmen und die Betriebsausgaben von den früher angenommenen abwichen. Ob § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zur Anwendung komme, ergebe sich vielmehr erst aus dem gemeinsamen Ergebnis von Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben, das insgesamt zu einem niedrigeren Gewinn und damit zu einer geringeren Steuer führe (so auch BFH-Urteile vom 28. März 1985 IV R 159/82 BStBl. II 1986, 120; vom 30. Oktober 1986 III R 163/82, BStBl. II 1987, 161). In Schätzfällen bilden die Besteuerungsgrundlagen insgesamt eine Tatsache (BFH-Urteil vom 22. Mai 2006 VI R 17/05, BStBl. II 2006, 806 mwN).

b) Für das Tatbestandmerkmal des nachträglichen Bekanntwerdens ist auf den Zeitpunkt der maßgeblichen Willensbildung durch den zuständigen Bediensteten der Finanzbehörde abzustellen. Hier kommt es auf die abschließende Zeichnung des Bescheids vom 10. Dezember 2007 an. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist es daher für die Neuheit einer Tatsache unerheblich, ob sie dem FA erst nach der Aufhebung des Änderungsbescheids vom 9. August 2010 und des Einspruchsbescheids vom 22. Dezember 2010 in der mündlichen Verhandlung am 8. Mai 2012 bekannt geworden ist.

3. Im Allgemeinen stellen die Angaben in der nachgereichten Steuererklärung neue Tatsachen im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO dar, die zu einer höheren Steuer führen können. Gibt ein Steuerpflichtiger nach Erlass eines auf geschätzten Besteuerungsgrundlagen beruhenden Steuerbescheids eine Steuererklärung ab, so sind in aller Regel die erklärten Besteuerungsgrundlagen nachträglich bekannt geworden und rechtfertigen die Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Im Streitfall gilt indes etwas anderes, denn es handelt sich um einen Einzelfall mit besonderer Konstellation. Denn der maßgebliche Grund für die Erhöhung des Gewinns nach der Schätzung beruht auf einer bereits zuvor bekannten Tatsache. Diese Tatsache ist offenbar nicht in hinreichendem Maße in die Schätzung eingegangen und rechtfertigt nunmehr keine Korrektur einer fehlerhaften Schätzung in dem streitigen Umfang.

a) Das FA hat die geänderte Gewinnfeststellung im Wesentlichen auf die Beurteilung des von der Klägerin von der Brauerei B gewährten „Abschreibungsdarlehens“ über 31.000 € (netto) gestützt, weil es hierin - im Gegensatz zur Klägerin - eine betriebliche Einnahme gesehen hat. Die darüberhinausgehend erfolgten unstreitigen Änderungen wegen umsatzsteuerlicher Fragen mit Folgewirkungen für die Gewinnfeststellung (Umsatzsteuer-Erstattung als Betriebseinnahme 4.292,92 €; Umsatzsteuer- und Vorsteuer-Zahlungen insgesamt 25.065,30 €, im Ergebnis gewinnmindernd) können an dieser Stelle vernachlässigt werden. Die streitbefangene Zahlung von B nebst dem dieser zugrundeliegenden Vertragswerk waren dem FA jedoch im Zeitpunkt des Erlasses des Schätzungsbescheides zur Feststellung für 2006 vom 10. Dezember 2007 aus den entsprechenden Unterlagen, dem Schriftverkehr wegen der begehrten verbindlichen Auskunft und aus den Umsatzsteuer-Voranmeldungen des streitigen Feststellungszeitraums 2006 positiv bekannt. Dort war die steuerliche Beurteilung des „Abschreibungsdarlehens“ Gegenstand des zwischen den Beteiligten dieses Klageverfahrens geführten Schriftverkehrs. Die Kenntnis des FA von dem Bierbezugsvertrag vor Erlass des Bescheids vom 10. Dezember 2007 ist zwischen den Beteiligen deshalb auch nicht streitig.

Das FA kann sich im Ergebnis auch nicht mit Erfolg darauf stützen, dass wegen Umsatzsteuer 2006 unter dem 10. Dezember 2007 ebenfalls ein auf geschätzten Besteuerungsgrundlagen gestützter Bescheid ergangen ist mit der Folge, dass die Umsätze einschließlich des „Abschreibungsdarlehens“ bei der Gewinnschätzung nicht bekannt waren. Ausgehend von dem in den Voranmeldungen angegebenen Gesamtumsatz von 125.591 € einschließlich des „Abschreibungsdarlehens“ als Umsatz im Monat September hat das FA die steuerpflichtigen Lieferungen und Leistungen mit 127.000 € geschätzt, während sich der von der Klägerin im Nachhinein erklärte entsprechende Umsatz des Jahres 2006 auf insgesamt 125.595 € nebst unentgeltlichen Wertabgaben über 1.490 € (Summe 127.085 €) belaufen hat und vom FA übernommen worden ist. Eine Ungewissheit bzw. Unkenntnis über die von der Klägerin tatsächlich im streitigen Feststellungszeitraum erzielten Umsätze kann daher nicht als Anlass oder Ursache für eine nunmehrige Erhöhung des klägerischen Gewinns 2006 unter Hinweis auf die ertragsteuerliche Behandlung des „Abschreibungsdarlehens“ B herhalten.

Vielmehr erweist sich die durch das FA vorgenommene Schätzung des Gewinns mit lediglich 10.000 € als fehlerhaft. Da das FA von dem „Abschreibungsdarlehen“ dem Grund und der Höhe nach Kenntnis hatte, hätte der geschätzte Gewinn höher ausfallen müssen. Das folgt schon daraus, weil dem Betrag von 31.000 € - soweit seinerzeit ersichtlich – keine Betriebsausgaben gegenüber standen.

Die gleichlautenden Erläuterungen in der Anlage zu dem angegriffenen Bescheid und im Einspruchsbescheid ergeben nichts anderes. Das FA hat hierin ausgeführt, welche Beträge der Schätzung zugrunde gelegen haben (könnten), um auf einen Gewinn von 10.000 € zu kommen. Ausgehend von dem angemeldeten Umsatz von 125.591 € und unter Berücksichtigung von Betriebsausgaben in Anlehnung an die Erkenntnisse aus den Vorjahren habe sich ein Gewinn von 11.620 € ergeben, der auf 10.000 € abgerundet hätte werden können. Diese Argumentation überzeugt das Gericht schon deshalb nicht, weil üblicherweise ein schätzweise ermittelter Gewinn für die Feststellung eher auf- als abgerundet wird.

Insgesamt sind die Angaben in der nachgereichten Steuererklärung zu den an dieser Stelle interessierenden Umsätzen bzw. Betriebseinnahmen keine neuen Tatsachen gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, weil aus Sicht des FA im Zeitpunkt der Schätzung bereits von betrieblichen Einnahmen der Klägerin in Höhe von 127.000 € netto unter Einschluss des „Abschreibungsdarlehens“ von B für die Umsatzsteuer und von einem Betrag in ebensolcher Größenordnung für die Feststellung ausgegangen worden ist. Insoweit ist gerade keine Änderung eingetreten. Lediglich die „Gewinnquote“ ist vom FA offensichtlich zu gering bemessen worden.

b) Die davon abweichende Argumentation des FA im Klageverfahren führt zu keinem anderen Ergebnis. Es will unter Heranziehung der Rechtsprechung des BFH darauf hinaus, dass der Gewinn erst nach Kenntnis aller in der Anlage EÜR aufgeführten Positionen, also aller für die Gewinnermittlung maßgebender Besteuerungsgrundlagen, zuverlässig ermittelt werden kann und der Gewinn unter Einbeziehung bekannter und neuer Tatsachen insgesamt höher ist als bei der Schätzung angenommen. Der BFH hat seine og. Entscheidungen zur Klärung der Frage getroffen, ob nach einer Schätzung die neu bekannt gewordenen Tatsachen in Zusammenschau mit den bekannten Tatsachen zu einer höheren oder niedrigeren Steuer führen. Er hat die getrennte Betrachtung gewinnerhöhender und gewinnverringernder Tatsachen (Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben) abgelehnt. Aus der notwendigen Zusammenschau mit der Folge eines anderweitig zu ermittelnden Gewinns oder der festzusetzenden Steuer hat er aber nicht den Schluss gezogen, dass der neu ermittelte Gewinn nunmehr die neue Tatsache ist. Die Feststellung einer steuerlichen Auswirkung aller Besteuerungsgrundlagen war vielmehr bedeutsam für die Notwendigkeit, bei einer niedrigeren Steuer oder einem niedrigeren Gewinn ein fehlendes Verschulden des Steuerpflichtigen an dem nachträglichen Bekanntwerden feststellen zu müssen.

c) Neu im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind im Streitfall – abgesehen von unstreitigen Korrekturen bei der Umsatz- und Vorsteuer – nur Entnahmen und die Betriebsausgaben. Aus den nachfolgen dargestellten Daten (Abweichungen durch Rundungen) ist zu erkennen, in welchen Positionen die Gewinnermittlung der Klägerin von der angegebenen Schätzungsgrundlage und der Ermittlung des neuen Gewinns durch das FA abweicht. Dies liegt zum einen in der Nichterfassung der 31.000 €, zum anderen in naturgemäß abweichenden Betriebsausgaben. Darüber hinaus hat das FA die Umsatzsteuer und die Vorsteuer korrigiert (unstreitig).

Lt. Schätzung

Lt. Steuererklärung

Lt. FA

Umsatz brutto/Erstattung USt.

145.685 €

119.221 €

150.221 €
Differenz 31.000 €

Eigenverbrauch

---     

 1.490 €

 1.490 €

Betriebsausgaben

 90.000 €

 79.855 €

 79.855 €

AfA     

 5.000 €

 5.377 €

 5.377 €

Personalkosten

 14.000 €

 15.269 €

 15.269 €

Umsatz-/Vorsteuer

 25.065 €

 25.065 €

 25.065 €

Gewinn

 11.620 €

- 4.857 €

 26.143 €

Da das FA das „Abschreibungsdarlehen“ bei Erlass des Schätzungsbescheids kannte und nach eigenen Angaben bereits bei der Schätzung berücksichtigt hatte, sind durch die Steuererklärung nur der Eigenverbrauch und die Betriebsausgaben neu bekannt geworden, die für sich genommen saldiert zu einem höheren Gewinn führen würden. Unter Berücksichtigung korrigierter Umsatzsteuer- und Vorsteuer-Beträge ergibt sich indes ein Verlust (unstreitige Betriebseinnahmen ohne 31.000 € = 120.711 €, unstreitige Betriebsausgaben = 125.566 €, unstreitiger Verlust. 4.857 €). Die Differenz zu dem festgestellten Gewinn von 26.143 € beträgt genau 31.000 €.

Die neuen Tatsachen und die unstreitigen Korrekturen führen insgesamt zu einer Gewinnminderung gegenüber der Schätzung. Ein Verschulden der Klägerin wegen Nichtabgabe der Steuererklärung stünde indes einer Änderung zu ihren Gunsten entgegen. Im Streitfall wird aber im Klageverfahren keine Gewinnminderung, sondern lediglich die Aufhebung des Änderungsbescheids verlangt, sodass es bei dem Schätzungsbescheid (Gewinn 10.000 €) verbleiben muss.

4. Da die Voraussetzungen für die Änderung des bestandskräftigen Bescheids vom 10. Dezember 2007 nicht vorliegen, kommt es auf die rechtliche Beurteilung des „Abschreibungsdarlehens“ nicht an.

5. Der Frage, ob der bestandskräftige Bescheid vom 10. Dezember 2007 wegen eines rückwirkenden Ereignisses (Eintreten des Rechtsnachfolgers der Klägerin in das Abschreibungsdarlehen) geändert werden kann, ist in diesem Klageverfahren nicht zu klären, weil Gegenstand des Klageverfahrens nur der Änderungsbescheid vom 20. Juni 2012 ist.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO). Die Regelungen zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgen aus den §§ 151 Abs. 3, 155 FGO iVm §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).