Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 28.04.2014, Az.: L 11 AL 67/12

Auszahlungsanspruch auf einen rückwirkend bewilligten Existenzgründungszuschuss; Erstattungsanspruch des Grundsicherungsträgers gegen die Bundesagentur; zeitliche Kongruenz

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
28.04.2014
Aktenzeichen
L 11 AL 67/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2014, 42410
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 24.04.2012 - AZ: S 18 AL 91/09

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Für einen Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers gegen den vorrangig verpflichteten Leistungsträger nach § 104 SGB X ist eine zeitliche Kongruenz der Leistungen erforderlich.

Die verspätete Zahlung eines rückwirkend bewilligten Existenzgründungszuschusses bewirkt im Rahmen der Einkommensanrechnung nach § 11 SGB II nicht, dass es sich - bezogen auf den Zeitraum des Arbeitslosengeld II Bezugs - nicht um "bereite Mittel" gehandelt hat. Insoweit hat der Grundsicherungsträger als nachrangig verpflichteter Leistungsträger die zur Beseitigung von Hilfebedürftigkeit bestimmten SGB II Leistungen mit Wirkung für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger erbracht.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 24. April 2012 wird zurückgewiesen.

Über die erstinstanzliche Kostenentscheidung hinaus sind keine weiteren Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt im Berufungsverfahren noch die Auszahlung eines Teilbetrages des ihm gewährten Existenzgründungszuschusses in Höhe von 1580,40 €, den die Beklagte zur Erfüllung eines von dem Beigeladenen geltend gemachten Erstattungsanspruchs an diesen ausgezahlt hat.

Der 1952 geborene Kläger ist ledig und lebt allein. Seit dem 29. Mai 2004 übt er eine selbstständige Tätigkeit als Kunstmaler aus. Die Beklagte gewährte dem Kläger zur Förderung der Aufnahme dieser Tätigkeit einen Existenzgründungszuschuss für die Zeit vom 29. Mai 2004 bis 28. Mai 2005 in Höhe von 600,00 € monatlich (Bescheid vom 1. Juni 2004).

Für das Folgejahr vom 29. Mai 2005 bis 28. Mai 2006 erfolgte die Bewilligung nachträglich mit Bescheid vom 7. Juni 2006 in Höhe von monatlich 360,00 €. Hiervon zahlte die Beklagte einen Betrag in Höhe von 180,00 € an den Rentenversicherungsträger. Den Restbetrag in Höhe von 4140,00 € zahlte sie in einer Summe an den Kläger aus.

In den Monaten Juni 2006 sowie August 2006 bis Mai 2007 bezog der Kläger von dem Beigeladenen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) in Höhe von 632,00 € (vgl Bescheide vom 28. Juni 2006 und 7. Dezember 2006). Der Beigeladene berücksichtigte bei der Leistungsberechnung die Regelleistung in Höhe von 345,00 € und Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 287,28 €. Im Juli 2006 gewährte der Beigeladene keine SGB II-Leistungen, weil die Auszahlung des Existenzgründungszuschusses für das zweite Förderjahr nach seiner Auffassung zum Wegfall der Hilfebedürftigkeit für diesen Monat führte.

Aufgrund des Weitergewährungsantrags vom 28. Mai 2007 bewilligte die Beklagte dem Kläger für das dritte Förderjahr (29. Mai 2006 bis 28. Mai 2007) mit Bescheid vom 7. Oktober 2008 einen Existenzgründungszuschuss in Höhe von monatlich 240,00 € (für 12 Monate = 2880,00 €). Hiervon zahlte sie 1019,50 € an den Kläger aus und behielt den Restbetrag in Höhe von 1860,50 € aufgrund eines Verrechnungsersuchens der Deutschen Rentenversicherung H. zunächst ein. Dem gegen diese Verrechnung gerichteten Widerspruch des Klägers half die Beklagte ab und bewilligte ihm erneut den Existenzgründungszuschuss in Höhe von monatlich 240,00 € für die Zeit vom 29. Mai 2006 bis 28. Mai 2007 (Bescheid vom 11. Februar 2009). Da zwischenzeitlich jedoch auch die im Auftrag des Beigeladenen handelnde Stadt I. einen Erstattungsanspruch in Höhe von monatlich 632,00 € angemeldet hatte (Schreiben vom 5. Februar 2009), teilte die Beklagte dem Kläger mit dem in diesem Verfahren streitgegenständlichen (weiteren) Bescheid vom 11. Februar 2009 mit, dass sein Anspruch in Höhe von 1705,46 € als erfüllt gelte. Dieser Betrag werde nicht ausgezahlt, weil der Beigeladene einen Erstattungsanspruch in dieser Höhe habe. Den Restbetrag in Höhe von 155,04 € (Anspruch in Höhe von 2880,00 € abzüglich des bereits im Oktober 2008 gezahlten Betrages in Höhe von 1019,50 € abzüglich des Erstattungsanspruchs des Beigeladenen in Höhe von 1705,46 €) überwies sie an den Kläger.

Der Widerspruch des Klägers, mit dem er sich gegen die Auszahlung von Teilbeträgen an den Beigeladenen wandte, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 1. April 2009).

Am 28. April 2009 hat der Kläger bei dem Sozialgericht (SG) Lüneburg Klage erhoben und die Auszahlung von 1705,46 € begehrt. Zur Begründung hat er geltend gemacht, es bestehe kein Erstattungsanspruch des Beigeladenen, weil der Existenzgründungszuschuss nicht als Einkommen anrechenbar sei.

Das SG hat mit Urteil vom 24. April 2012 den angefochtenen Bescheid geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger einen weiteren Betrag in Höhe von 125,06 € auszuzahlen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Anspruch des Klägers auf den Existenzgründungszuschuss sei in Höhe von 1580,40 € erloschen, da dem Beigeladenen in dieser Höhe ein Erstattungsanspruch zustehe. Der Beigeladene sei nachrangig verpflichtet, da er bei rechtzeitiger Erbringung des Existenzgründungszuschusses Arbeitslosengeld II nicht in gewährter Höhe an den Kläger hätte erbringen müssen. Der von der Beklagten gewährte Existenzgründungszuschuss sei als Einkommen bei der Leistungsberechnung nach dem SGB II zu berücksichtigen. Insbesondere handele es sich nicht um eine zweckbestimmte Einnahme. Eine Ausnahme vom Einkommensbegriff des § 11 SGB II rechtfertige sich auch nicht aus der verspäteten Zahlung einer Sozialleistung. Allerdings sei monatlich nur ein Betrag in Höhe von 132,00 € (Juni, August bis Dezember 2006) bzw. 131,40 € (ab Januar 2007) anrechenbar. Von dem monatlichen Betrag in Höhe von 240,00 € sei neben der Versicherungspauschale in Höhe von 30,00 € auch noch der Pflichtbeitrag zur Rentenversicherung abzusetzen (78,00 € bis Dezember 2006 bzw. 78,40 € ab Januar 2007).

Gegen das ihm am 15. Mai 2012 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit seiner am 15. Juni 2012 eingegangenen Berufung. Er ist der Auffassung, er habe zu wenig Geld erhalten.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 24. April 2012 und den Bescheid der Beklagten vom 11. Februar 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 2009 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm einen weiteren Betrag in Höhe von 1580,40 € auszuzahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil und die mit ihm überprüfte Entscheidung für zutreffend.

Der Beigeladene beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er weist darauf hin, dass durch das Bundessozialgericht bereits entschieden sei, dass der Existenzgründungszuschuss bei der Gewährung von Leistungen nach dem SGB II anzurechnen sei.

Dem Senat haben die Prozessakte sowie die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, jedoch unbegründet.

Der Senat konnte trotz des Ausbleibens des Klägers, dessen persönliches Erscheinen zur mündlichen Verhandlung angeordnet war, entscheiden. Der Kläger war in der Ladung vom 14. März 2014 (zugestellt mit Postzustellungsurkunde am 18. März 2014) auf diese Möglichkeit hingewiesen worden.

Das SG hat die Klage, soweit sie die Auszahlung eines weiteren Betrages von 1580,40 € an den Kläger betrifft, zu Recht abgewiesen. Insoweit ist der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 11. Februar 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 2009 rechtmäßig und beschwert den Kläger nicht im Sinne von § 54 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Auszahlung des Existenzgründungszuschusses nach § 421l Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) in der bis zum 31. März 2012 geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.) ist in Höhe des streitbefangenen Betrages von 1580,40 € nach § 107 Abs 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) erloschen. Nach dieser Vorschrift gilt der Anspruch des Berechtigten - hier des Klägers - gegen den zur Leistung verpflichteten  Leistungsträger  - hier  die  Beklagte  -  als  erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch - hier des Beigeladenen - besteht.

Die Erstattungspflichten von Leistungsträgern untereinander richten sich nach den §§ 102 ff SGB X, die eigenständige Erstattungsansprüche der Leistungsträger begründen (Bundessozialgericht, Urteil vom 12. Mai 2011 - B 11 AL 24/10 R).

Anspruchsgrundlage für den Erstattungsanspruch des Beigeladenen ist vorliegend § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X, der den Anspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers gegen den vorrangig verpflichteten Leistungsträger regelt. Hiernach ist der für die entsprechende Leistung zuständige Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn der nachrangig verpflichtete Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen des § 103 Abs 1 SGB X vorliegen. Der beigeladene Grundsicherungsträger war vorliegend nachrangig verpflichtet, weil er bei rechtzeitiger Gewährung des Existenzgründungszuschusses nur geringere Leistungen an den Kläger hätte erbringen müssen.

Nach § 9 Abs 1 Nr 2 SGB II in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.) ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht aus dem zu berücksichtigenden Einkommen sichern kann. Nach § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen in Geld oder Geldeswert. Die in § 11 Abs 1 SGB II a.F. weiter normierten Ausnahmen von der Einkommensberücksichtigung (nunmehr seit dem 1. April 2011 in § 11a SGB II geregelt) sind hier rechtlich nicht von Bedeutung. Zum berücksichtigungsfähigen Einkommen zählen insbesondere auch Leistungen anderer Sozialleistungsträger oder Leistungen anderer öffentlicher Träger (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 16. Mai 2012 - B 4 AS 105/11 R mwN), auch der Existenzgründungszuschuss (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 6. Dezember 2007 - B 14/7b AS 16/06 R). Schließlich dient der Existenzgründungszuschuss demselben Zweck wie das Arbeitslosengeld II, nämlich der Sicherstellung des Lebensunterhalts (Bundessozialgericht, a.a.O.; vgl auch Fahlbusch in BeckOK SGB II, Edition 32, Stand: 1. Dezember 2013 § 11a Rn 6; Söhngen in: jurisPK-SGB II, 3. Auflage 2012, § 11a Rn 34).

Die verspätete Zahlung des Existenzgründungszuschusses (Auszahlung für die Zeit vom 29. Mai 2006 bis 28. Mai 2007 erst im Oktober 2008) steht einer Berücksichtigung nicht entgegen. Die Erfüllungsfiktion nach § 107 Abs 1 SGB X dient dem Zweck, Doppelleistungen an den Leistungsberechtigten auszuschließen und zugleich das Verhältnis zwischen Sozialleistungsanspruch des Berechtigten und Erstattungsanspruch klarzustellen (vgl Kater in Kasseler Kommentar, § 107 SGB X Rn 2, Stand Einzelkommentierung Juni 2012). Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass es sich bei dem Existenzgründungszuschuss - bezogen auf den Zeitraum des Arbeitslosengeld II-Bezugs - nicht um "bereite Mittel" gehandelt hat. Denn die Erfüllungsfiktion ändert nichts daran, dass der Beigeladene als nachrangig verpflichteter Leistungsträger die zur Beseitigung von Hilfebedürftigkeit bestimmten SGB II-Leistungen an den Kläger in vollem Umfang erbracht hat, wenn auch mit Wirkung für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger.

Die für den Erstattungsanspruch nach § 104 Abs 1 SGB X erforderliche zeitliche Kongruenz der Leistungen liegt vor. Wäre es zu einer rechtzeitigen Auszahlung des Existenzgründungszuschusses im Juni 2006 bzw. in den Monaten August 2006 bis Mai 2007 gekommen, hätte wegen dessen Berücksichtigung als Einkommen eine Verpflichtung des Beigeladenen zur Erbringung von Leistungen nach dem SGB II an den Kläger in der gewährten Höhe nicht bestanden. Der Kläger hätte lediglich einen um den anrechenbaren Betrag verringerten Anspruch auf Leistungen gegen den Beigeladenen gehabt.

Damit liegt hinsichtlich des durch Existenzgründungszuschuss gedeckten grundsicherungsrechtlichen Bedarfs des Klägers Nachrangigkeit iS des § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X vor. Denn § 104 SGB X bezweckt gerade den nachrangig Verpflichteten - hier den Beigeladenen - möglichst so zu stellen, wie er gestanden hätte, wenn der vorrangig Verpflichtete - hier die Beklagte - rechtzeitig von Anfang an geleistet hätte (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 8. August 1990 - 11 RAr 79/88 - SozR 3-1300 § 104 Nr 3 S 6).

Über die vom SG abgesetzten Beträge (Versicherungspauschale und Rentenversicherungsbeiträge) hinaus sind keine weiteren Abzüge vorzunehmen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 SGG) liegen nicht vor.