Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 07.02.2024, Az.: 1 B 5632/23

Formeller Fehler; Fraktionsausschluss; Geschäftsordnung; Ladungsfrist; strafrechtliche Ermittlungen; Vorwegnahme der Hauptsache; Vorläufiger Rechtschutz bei Ausschluss aus Ratsfraktion

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
07.02.2024
Aktenzeichen
1 B 5632/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 10773
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2024:0207.1B5632.23.00

Amtlicher Leitsatz

Eine besondere Frist zwischen Bekanntgabe des konkreten Antrags und Abstimmung über einen Fraktionsausschluss in einer Geschäftsordnung ist verbindliches Innenrecht und steht nicht zur Disposition der Beteiligten.

Tenor:

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung dazu verpflichtet, dem Antragsteller bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache sämtliche Befugnisse als Mitglied der Antragsgegnerin zu belassen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 10.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich im Wege einstweiligen Rechtschutzes gegen seinen Ausschluss aus der Antragsgegnerin, einer Fraktion aus ursprünglich 13 Mitgliedern im Rat der Stadt E..

Der Antragsteller ist Mitglied der Jungen Union F. und im September 2023 in den Rat der Stadt E. nachgerückt. Seitdem ist er Mitglied der Antragsgegnerin und wurde von dieser in verschiedene Ausschüsse entsandt. Der Antragsteller ist zudem Mitglied im Stadtbezirksrat G. und war dort Mitglied der CDU-Stadtbezirksfraktion und als stellvertretender Bezirksbürgermeister gewählt.

Am 30. September 2023 veranstaltete der Kreisverband der Jungen Union H. eine Mitgliederversammlung und anschließend zusammen mit dem Kreisverband F. ein "Hoffest", in deren Verlauf der Antragsteller Kontakt zu einem weiblichen 16-Jährigen Mitglied der Jungen Union hatte. Nach einer Strafanzeige durch die 16-Jährige ist das Verhalten des Antragstellers Gegenstand polizeilicher Ermittlungen.

In der Sitzung des Fraktionsvorstandes am 10. Oktober 2023 wurden die strafrechtlichen Vorwürfe gegen den Antragsteller diskutiert und die Beschlussempfehlung vereinbart, wonach das Verhalten des Antragstellers auf das Schärfste zu missbilligen sei und er mit Nachdruck aufzufordern sei, mit sofortiger Wirkung die kommunalpolitischen Mandate und Ämter niederzulegen. Sofern dies nicht geschehe, solle die Fraktion kurzfristig zu einer Sondersitzung zusammenkommen, um das Verfahren zum Ausschluss aus der Fraktion einzuleiten. In der Fraktionssitzung unmittelbar im Anschluss an die Sitzung des Fraktionsvorstands wurde der Antragsteller unter dem Tagesordnungspunkt "Bericht des Vorsitzenden" mit den Vorwürfen konfrontiert. Nach dem Protokoll der Sitzung nahm er die Gelegenheit zur Stellungnahme war, äußerte sich aber nicht zum Sachverhalt. Stattdessen schloss er demnach einen Rücktritt aus und griff die Fraktions- und Parteiführung direkt an. Nach anschließender Diskussion schloss sich die Fraktion der Beschlussempfehlung des Fraktionsvorstands an.

Die Mitglieder der Antragsgegnerin wurden mit E-Mail vom 23. Oktober 2023 um 13:58 Uhr zur 35. Fraktionssitzung am "Dienstag, den 26. Oktober 2023, 18:00 Uhr" geladen. Unter Ziffer 2. der Tagesordnung wurde als Ordnungsmaßnahme die Beratung über den Ausschluss des Antragstellers aus der CDU-Fraktion im Rat der Stadt E. aufgeführt. In der beigefügten Beschlussvorlage vom 21. Oktober 2023 führt der Vorsitzende der Antragsgegnerin zu den Vorwürfen gegenüber dem Antragsteller aus, dass er nach Kenntnis der Vorwürfe mehrfach das Gespräch mit dem Antragsteller gesucht habe, um ihn zunächst zum Sachverhalt zu hören, ihm die Folgen eines Festhaltens an Amt und Mandat und einer öffentlichen Diskussion vor Augen zu führen und ihm einen gesichtswahrenden Rücktritt zu ermöglichen, um somit Schaden von ihm, der Partei und der Fraktion abzuwenden. Im Verlaufe dieser Gespräche habe der Antragsteller sich in Widersprüche verstrickt und sein Verhalten bagatellisiert. Hieraus hätten sich Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit ergeben. Der Fraktionsvorstand sei in seiner Sitzung am 10. Oktober 2023 zu der Auffassung gelangt, dass die Übergriffigkeit gegenüber einer Minderjährigen und die Strafanzeige einen erheblichen Reputationsschaden für die Fraktion bedeute. Durch die bisherigen Einlassungen sei das zwingend erforderliche Vertrauensverhältnis gestört. Der Vorstand habe den Antragsteller zum Verzicht auf seine kommunalpolitischen Ämter und Mandate aufgefordert. In der Fraktionssitzung am 10. Oktober 2023 habe der Antragsteller die Möglichkeit gehabt, sich zu erklären. Er habe dabei jedoch zum eigentlichen Sachverhalt keine Angaben gemacht, sondern die Fraktion und die Fraktionsspitze in herabsetzender Weise angegriffen und das Vorgehen als "anarchistisch" bezeichnet. Verschiedene Ratsmitglieder hätten den Antragsteller zum Einlenken bewegen wollen. Anschließend seien ihm die möglichen Ordnungsmaßnahmen vor Augen geführt und der Ausschluss aus der Fraktion in der nächsten Sitzung angedroht worden.

Die Beschlussvorlage sieht für die Fraktionssitzung am 26. Oktober 2023 folgende Beschlüsse vor:

"Die Fraktion stellt fest, dass

das Vertrauensverhältnis zwischen Herrn I. und der Fraktion so nachhaltig gestört ist, dass eine weitere Zusammenarbeit aus ihrer Sicht unmöglich ist;

das Verhalten Ratsherrn J. einer Frau gegenüber, zumal einer Minderjährigen, inakzeptabel, mit den Werten der CDU nicht vereinbar und daher geeignet ist, der Fraktion einen erheblichen Reputationsschaden in der Öffentlichkeit zuzufügen.

Nach Prüfung aller Alternativen kommt die Fraktion daher zu dem Schluss, dass mildere Ordnungsmaßnahmen zur Wiederherstellung eines geordneten Arbeitsverhältnisses untauglich sind.

Die Fraktion beschließt, Ratsherrn K. mit sofortiger Wirkung:

1. gemäß § 71 Abs. 9 Satz 3 Nr. 1 NKomVG aus allen ihm zugewiesenen Ausschüssen abzuberufen,

2. ihn aus der CDU-Fraktion im Rat der Landeshauptstadt E. auszuschließen."

In der Fraktionssitzung am 26. Oktober nahmen zehn Mitglieder in Präsenz und ein Mitglied in Videokonferenztechnik teil. Ein Mitglied war entschuldigt. Laut Protokoll der Sitzung bestritt der Antragsteller die Vorwürfe. In der folgenden Aussprache hätten mehrere Fraktionsmitglieder Unverständnis über das Verhalten geäußert und ihr verlorenes Vertrauen bekräftigt und dem Antragsteller einen Rücktritt nahegelegt, um Schaden von sich, der Partei und der Fraktion abzuwenden. Die Mitglieder der Antragsgegnerin schlossen den Antragsteller schließlich mehrheitlich, d. h. einstimmig ohne die Stimme des Antragstellers, aus der Fraktion aus. Zudem wurde entsprechend der Beschlussvorlage beschlossen, den Antragsteller aus allen Ausschüssen abzuberufen.

Im November 2023 berief die Antragsgegnerin den Antragsteller aus den Ausschüssen des Rates für Personal-, Organisation- und Digitalisierung; für Integration, Europa und Kooperation; dem Schul- und Bildungsausschuss sowie der Kommission "Sanierung Sozialer Zusammenhalt Stöcken" ab. Seitdem ist er gem. § 71 Abs. 4 Satz 3 NKomVG nur noch Einzelvertreter im Ausschuss für Haushalt, Finanzen, Rechnungsprüfung, Feuerwehr und öffentliche Ordnung. Auch im Stadtbezirksrat Herrenhausen-Stöcken wurde er aus der Fraktion ausgeschlossen und ein neuer stellvertretender Bezirksbürgermeister gewählt.

Der Antragsteller hat am 24. November 2023 um einstweiligen Rechtschutz nachgesucht und mit Schreiben vom 29. November 2023 Klage erhoben (1 A 5736/23). Mit der Klage begehrt der Antragsteller die Feststellung der Nichtigkeit der Beschlüsse der Antragsgegnerin und weiter hilfsweise die Feststellung, dass der Antragsteller über den 26. Oktober 2023 hinaus Mitglied der Antragsgegnerin ist.

Zur Begründung des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes macht er geltend, dass die Ladung zur Fraktionssitzung am 26. Oktober 2023 mangelhaft sei. Unter anderem sei die Ladungsfrist unangemessen kurz bemessen. Die Vorgänge in der Sitzung des Fraktionsvorstands am 10. Oktober 2023 würden bestritten. Die Fraktionssitzung am 10. Oktober 2023 habe keinen Tagesordnungspunkt mit einem entsprechenden Beschlussgegenstand enthalten. Mit eidesstattlicher Versicherung vom 11. Dezember 2023 gibt der Antragsteller an, dass er in der Fraktionssitzung am 10. Oktober 2023 eine umfassende Rede gehalten habe, die sich auch auf den Sachverhalt beim Hoffest am 30. September 2023 bezogen habe. Die Vorwürfe seien haltlos. In dem Beschluss der Fraktion sei nur oberflächlich auf die Vorwürfe eingegangen worden. Die Vorwürfe müssten jedoch ausreichend konkret bezeichnet sein, damit die Mitglieder in der Sache, der Betroffene über die Einlegung eines Rechtsmittels, und das Gericht darüber entscheiden könne, ob die zugrunde gelegten Tatsachen zutreffen. Der Ausschluss aus der Fraktion sei zudem ermessensfehlerhaft und unverhältnismäßig. Eine einstweilige Anordnung sei notwendig, um die Möglichkeit der Fraktionsarbeit und die daraus resultierenden Einflussmöglichkeiten in der Gemeinde zu erhalten. Diese ergäben sich auch aus der Teilnahme an Fraktionssitzungen und der damit verbundenen fraktionsinternen Willensbildung. Durch den Ausschluss habe er sein Anwesenheits-, Rede-, Antrags- und Stimmrecht verloren, sodass er in seiner kommunalpolitischen Wirkungsmöglichkeit eingeschränkt sei. Es handele sich nicht um eine Vorwegnahme der Hauptsache, da keine Entscheidung über den Ausschluss aus der Fraktion getroffen werde, sondern die Sache bloß vorübergehend bis zur Rechtskraft der Hauptsache geregelt werde.

Der Antragsteller beantragt,

die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller sämtliche Befugnisse als Mitglied der Antragsgegnerin zu belassen und ihm ungehinderten Zutritt zu den Geschäftsräumen der Antragsgegnerin in E., C-Straße zu gewähren, bis in der Hauptsache rechtskräftig entschieden ist, ob in der Fraktionssitzung der Antragsgegnerin vom 26. Oktober 2023 ein wirksamer Beschluss über den Ausschluss aus der Antragsgegnerin gefasst wurde.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Die begehrte Regelungsanordnung beinhalte teilweise eine Vorwegnahme der Hauptsache. Dies sei nur zulässig, wenn überwiegende Gründe dafür sprächen, dass die beanstandete Maßnahme rechtswidrig sei. Die Maßnahme sei jedoch rechtmäßig. Die Antragsgegnerin legt ein "Protokoll des Tathergangs L." eines Parteimitgliedes vom 3. Oktober 2023 vor. Zudem legt die Antragsgegnerin einen Vermerk des Fraktionsvorsitzenden vom 29. Oktober 2023 zu den Geschehnissen ab dem 2. Oktober 2023 vor. Mit eidesstattlicher Versicherung vom 20. Dezember 2023 erklärt der Fraktionsvorsitzende, dass die tatsächlichen Angaben im Vermerk zutreffend seien.

Gegen den Ausschluss aus der CDU-Fraktion im Stadtbezirksrat Herrenhausen-Stöcken hat der Antragsteller mit Schreiben vom 29. November 2023 Klage erhoben (1 A 5717/23) und um einstweiligen Rechtschutz nachgesucht (1 B 5718/23). Mit Beschluss vom heutigen Tage hat das Gericht den Eilantrag abgelehnt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.

II.

Der Antrag hat Erfolg.

Für den hier vorliegenden Rechtsstreit um die Wahrnehmung der Rechte eines Fraktionsmitglieds ist der Verwaltungsrechtsweg gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet. Da die durch den Fraktionszusammenschluss begründeten Rechtsbeziehungen öffentlich-rechtlicher Natur sind, gilt dies auch für den Entzug der Rechte als Fraktionsmitglied (Wefelmeier, NdsVBl. 2021, 139 m.w.N.; Nds. OVG, Beschl. v. 24.03.1993 - 10 M 338/93 - juris Rn 2; VG Oldenburg, Beschl. v. 12.04.2022 - 3 B 3712/21 - juris Rn. 22).

Der Antrag ist zulässig. Vorläufiger Rechtsschutz gegen den Fraktionsausschluss ist im Wege einer einstweiligen Anordnung statthaft, weil der Fraktionsausschluss mangels Außenwirkung kein Verwaltungsakt i. S. v. § 1 Abs. 1 Nds. VwVfG i.V.m. § 35 VwVfG ist. Daher kommt vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht in Betracht (vgl. § 123 Abs. 5 VwGO). Richtige Klageart im Hauptsacheverfahren ist die auf die Unwirksamkeit des Ausschlusses gerichtete Feststellungsklage, die gegen die Fraktion zu richten ist (Wefelmeier, NdsVBl. 2021, 139 m.w.N.). Mit den im Eilverfahren begehrten Befugnissen eines Fraktionsmitglieds einher geht auch, ein Zutrittsrecht zu den Räumen der Fraktion in der C-Straße, M. zu erhalten, soweit die anderen Fraktionsmitglieder ebenfalls Zutrittsrechte haben.

Der so verstandene Antrag auf Erlass einer einstweiligen (Regelungs-)Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist auch begründet.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus. Ein Anordnungsanspruch ist zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung überwiegende Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen. Für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - also die Eilbedürftigkeit der begehrten Regelung - ist Voraussetzung, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, eine Hauptsacheentscheidung abzuwarten (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl., § 123 Rn. 25, 26). Die tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs und der Grund für die notwendige vorläufige Regelung sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Eine einstweilige Anordnung darf grundsätzlich nicht eine Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen; sie soll möglichst keine endgültigen Verhältnisse schaffen (vgl. Kopp/Schenke, a. a. O., § 123 Rn. 13 f). Einem Antrag, der die Hauptsache vorwegnimmt, "ist im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO nur ausnahmsweise dann stattzugeben, wenn das Abwarten der rechtskräftigen Entscheidung im Klageverfahren für den Antragsteller schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile zur Folge hätte. [...] Dabei ist dem jeweils betroffenen Grundrecht und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen." (BVerwG, Beschl. v. 26.11.2013 - 6 VR 3/13 -, juris Rn. 5). Diese Grundsätze sind auch auf Anträge nach § 123 VwGO im Kommunalverfassungsstreitverfahren anzuwenden (Nds. OVG, Beschl. v. 03.12.2015 - 10 ME 46/15 -, V.n.b.). Der sich (nur) gegen den Fraktionsausschluss richtende Antrag zielt auf eine solche Vorwegnahme der Hauptsache ab.

Zwar ist in zeitlicher Hinsicht zu berücksichtigen, dass die Fraktionsmitgliedschaft ein auf die laufende Wahlperiode (hier: 01.11.2021 bis 31.10.2026) befristetes Dauerrechtsverhältnis darstellt (Nds. OVG, Beschl. v. 17.01.2002 - 10 LA 1407/01-, juris (Orientierungssatz); Beschl. v. 20.02.2019 - 4 KN 251/16 -, juris Rn. 4). Dass ein auf einer stattgebenden Eilentscheidung beruhendes zeitweiliges Mitwirken des Antragstellers sich im Falle einer späteren Klageabweisung nicht ungeschehen machen ließe, genügt nach Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof für sich genommen nicht, um eine - prinzipiell unzulässige - Vorwegnahme der Hauptsache annehmen zu können (vgl. Beschl. v. 10.04.2018 - 4 CE 17.2450 -, juris Rn. 21). Allerdings würde das Ergebnis des Klageverfahrens im vorliegenden Fall im Hinblick auf die zu erwartende Verfahrensdauer in erheblichen Teilen bereits faktisch vorweggenommen. Durch die konkrete Antragstellung ("sämtliche Befugnisse als Mitglied der Antragsgegnerin zu belassen und ihm ungehinderten Zutritt zu den Geschäftsräumen der Antragsgegnerin in E., C-Straße zu gewähren") würde der Antragsteller mit allen Rechten eines Fraktionsmitglieds zur Fraktionsarbeit zugelassen. Damit einher ginge nicht nur die Teilnahme an Fraktionssitzungen mit Rederechten (vgl. dazu Beschl. d. Kammer v. 26.09.2023 - 1 B 4632/23 - juris), sondern auch Antrags- und Stimmrechte in der Fraktion. Der Antragsteller möchte den Fraktionsausschluss daher für die Dauer des Hauptsacheverfahrens außer Kraft setzen und damit sachlich vollständig vorwegnehmen (vgl. VG Oldenburg, Beschl. v. 12.04.2022 - 3 B 3712/21 - juris Rn. 28; Nds. OVG, Beschluss vom 02.12.2015 - 10 ME 46/15 - Umdruck S. 4, n. v.). Aus der Antragstellung und der Begründung ist hingegen nicht erkennbar, dass der Antragsteller sich im einstweiligen Rechtschutz auch gegen die Abberufung aus den Ausschüssen oder die weiteren Beschlüsse aus der Fraktionssitzung vom 26. Oktober 2023 wenden möchte. Diese Folge beruht zudem auf eigenständigen Entscheidungen der Antragsgegnerin, die jeweils nicht rechtlich oder tatsächlich zwingend von der Rechtmäßigkeit des Fraktionsausschlusses abhängig sind (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 3.12.2015 -10 ME 46/15 - n. v., Umdruck, Bl. 5; VG Göttingen, Beschl. v. 07.12.2022 - 1 B 265/22 - juris Rn. 6).

Einem Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung gem. § 123 Abs. 1 VwGO, der die Hauptsache vorwegnimmt, ist nur stattzugegeben, wenn diese schon aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes anzustellenden, bloß summarischen Prüfung des Sachverhalts erkennbar Erfolg haben würde (BVerwG, Beschluss vom 26.11.2013 - 6 VR 3.13 - juris Rn. 7; Nds. OVG, Beschluss vom 29.7.2015 - 8 ME 33/15 - juris Rn. 14, das eine hohe, mithin weit überwiegende Erfolgswahrscheinlichkeit im Hauptsacheverfahren als Voraussetzung nennt). So liegt es hier.

Der Fraktionsausschluss ist nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung in formeller Hinsicht wegen eines Verstoßes gegen eine wesentliche Verfahrensvorschrift rechtswidrig. Dabei ist das Gericht der Auffassung, dass die nachhaltige Störung des Vertrauensverhältnisses wegen des Verhaltens des Antragstellers im Anschluss an die Vorwürfe eines möglicherweise sexuell konnotierten Übergriffs gegenüber einer Minderjährigen zwar grundsätzlich als wichtiger Grund für den Fraktionsausschluss genügen kann (vgl. Beschluss d. Kammer im Parallelverfahren 1 B 5718/23). Angesichts des Beurteilungsspielraums der Fraktion in materiellen Fragen und des damit einhergehenden eingeschränkten gerichtlichen Prüfungsumfangs erlangen die formellen Anforderungen an einen Fraktionsausschluss jedoch besondere Bedeutung. Sie sichern die Verfahrensrechte des Betroffenen und sind vom Gericht vollumfänglich überprüfbar. Gerade bei einem Verstoß gegen wesentliche Verfahrensvorschriften erscheint auch eine Vorwegnahme der Hauptsache gerechtfertigt. Dadurch wird nämlich der Situation Rechnung getragen, dass einerseits den Verfahrensvorschriften ein besonderer Stellenwert zukommt und es andererseits der Fraktion unbenommen bleibt, über den Ausschluss eines Mitglieds im Falle eines (lediglich) verfahrensfehlerhaften Zustandekommens nochmals zu beschließen. Der Fraktionsausschluss des Antragstellers leidet an einem durchgreifenden formellen Fehler.

Die Fraktionen sind politisches Gliederungsprinzip für die Arbeit der Gemeindesvertretungen und für den Willensbildungsprozess von herausgehobener Bedeutung (vgl. BVerfGE, 80, 188, 219 [BVerfG 13.06.1989 - 2 BvE 1/88]). Der Fraktionsausschluss ist eine vornehmlich politische Entscheidung und kann im Einzelfall die Funktionsfähigkeit der Fraktion und die anderen Fraktionsmitglieder in der Wahrnehmung ihres Mandats schützen. Gemäß § 57 Abs. 2 NKomVG wirken Fraktionen und Gruppen bei der Willensbildung und Entscheidungsfindung in der Vertretung, im Hauptausschuss und in den Ausschüssen mit. Ihre innere Ordnung muss demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen. Einzelheiten über die Bildung der Fraktionen und Gruppen sowie über deren Rechte und Pflichten werden in der Regel durch eine Geschäftsordnung vorgegeben (§ 57 Abs. 5 NKomVG).

Gem. § 2 Nr. 1 der Geschäftsordnung der Antragsgegnerin gehören alle in den Rat gewählten Mandatsträger und Mandatsträgerinnen der CDU für die Dauer der Wahlperiode der CDU-Fraktion an. Deren Ziele und Aufgaben sind in § 1 der Geschäftsordnung niedergelegt. Sie beinhaltet unter anderem, die einheitliche Willensbildung der Mitglieder zu fördern und ein geschlossenes Auftreten sicherzustellen. § 7 der Geschäftsordnung rückt die gemeinschaftlichen Ziele und Wertvorstellungen in Gesinnung, Wort und Haltung in den Mittelpunkt. Gem. § 4 Nr. 3 Satz 4 der Geschäftsordnung beträgt die Ladungsfrist für Fraktionsversammlungen mindestens 48 Stunden; in Eilfällen kann sie verkürzt werden. In § 14 der Geschäftsordnung werden die möglichen Ordnungsmaßnahmen festgelegt. Demnach sind Missbilligung (Rüge) eines Verhaltens, Abberufung aus den Ausschüssen oder Ausschluss aus der Fraktion mögliche Ordnungsmaßnahmen. Unter § 14 Nr. 3 der Geschäftsordnung heißt es:

"Über die Ordnungsmaßnahmen beschließt die Fraktionsversammlung bei Vorliegen eines wichtigen Grundes mit der Mehrheit der Stimmen ihrer Mitglieder auf schriftlichen und begründeten Antrag des Vorstandes oder eines oder mehrerer ihrer Mitglieder nach vorheriger Anhörung des Betroffenen. Der Antrag muss allen Fraktionsmitgliedern schriftlich bekannt gegeben werden. Zwischen Bekanntgabe und Abstimmung müssen mindestens drei Tage liegen. [...]"

Die Antragsgegnerin hat die formelle Voraussetzung in § 14 Nr. 3 Satz 3 der Geschäftsordnung für Ordnungsmaßnahmen nicht eingehalten. Die vorgesehene Frist von drei Tagen zwischen Bekanntgabe des schriftlichen und begründeten Antrags und der Abstimmung ist keine reine Ordnungsvorschrift, sondern sichert subjektive Rechte der Fraktionsmitglieder und schlägt daher auf die Rechtmäßigkeit des Fraktionsausschlusses durch.

Die Fraktionsgeschäftsstelle der Antragsgegnerin hat die Fraktionsmitglieder zur Fraktionssitzung am 26. Oktober 2023 mit E-Mail vom 23. Oktober geladen. Als Anlage zur Mail wurde die Beschlussvorlage versandt, die die konkreten Anträge und die schriftliche Begründung durch den Fraktionsvorsitzenden beinhaltete. Erst damit wurde der Antrag ausreichend konkretisiert und entsprechend der Vorgaben in § 14 Nr. 3 Satz 1 und Satz 2 schriftlich und begründet allen Fraktionsmitgliedern bekannt gegeben. Zwischen der Bekanntgabe und der Abstimmung lagen nur zwei Tage.

Die vorherige Befassung der Fraktionsmitglieder mit einem Fraktionsausschluss des Antragstellers genügt den Anforderungen des § 14 Nr. 3 Satz 1 und Satz 2 der Geschäftsordnung an einen schriftlichen und begründeten Antrag nicht. In der Fraktionssitzung vom 10. Oktober 2023 wurde unter "Bericht des Vorsitzenden" laut Protokoll zwar schon einmal über die Thematik gesprochen. Die dazu entstandene Beschlussempfehlung des Vorstands wurde jedoch erst unmittelbar vor der Fraktionssitzung erarbeitet und wohl in der Sitzung bekannt gegeben. Die Empfehlung enthält zudem nur eine Verständigung über das beabsichtigte weitere Vorgehen, wonach ohne freiwillige Niederlegung des Amtes die Fraktion kurzfristig zu einer Sondersitzung zusammenkommen wolle, um das Verfahren zum Ausschluss aus der Fraktion "einzuleiten". Die "Einleitung" des Verfahrens umfasst nicht die Abstimmung über den (sofort wirksamen) Ausschluss. Des Weiteren wurde ein möglicher Fraktionsausschluss weder in der Beschlussempfehlung noch im Rahmen der Fraktionssitzung am 10. Oktober 2023 schriftlich begründet.

Dieser Verfahrensfehler schlägt auch auf die Rechtmäßigkeit der Beschlüsse über die Ordnungsmaßnahmen durch. Die besondere Bedeutung der Ladungsfrist von drei Tagen wird zunächst aus der Geschäftsordnung selbst deutlich, wo in § 4 Nr. 3 der Geschäftsordnung bereits eine allgemeine Frist von 48 Stunden für die Ladung zu Fraktionssitzungen normiert ist. Die Fraktion hat sich (nur) für Beschlüsse über Ordnungsmaßnahmen eine davon abweichende, längere Ladungsfrist gegeben. Diese beruht auf dem Gedanken, dass ein Fraktionsausschluss sowohl das betroffene Mitglied als auch die übrigen Fraktionsmitglieder in ihrem politischen Mandat erheblich beeinflusst. Daher werden von der Rechtsprechung besondere Anforderungen an die Ladung für die Sitzung gestellt, in der über den Ausschluss entschieden werden soll. Um eine verantwortliche Entscheidung zu ermöglichen, die rechtsstaatlichen Anforderungen genügt, müssen alle an der Abstimmung Beteiligten die Gründe für den beantragten Ausschluss kennen, um sich sachgerecht auf die Diskussion in der Fraktionssitzung vorbereiten zu können. Das macht in der Regel eine Beifügung des Antrags nebst schriftlicher Begründung unumgänglich. Sowohl die wirksame Verteidigung des Betroffenen als auch die sachgemäße Entscheidungszeit setzen eine angemessene Vorbereitungszeit voraus (Wefelmeier, NdsVBl. 2021, 131 m. w. N.). Die aus rechtsstaatlichen Gründen erforderliche Ladungsfrist ergibt sich aus der Komplexität des Einzelfalles unter Berücksichtigung des bereits erreichten Informationsstandes der Fraktionsmitglieder (LVerfG Schleswig-Holstein, Urt. v. 29.8.2019 - LverfG 1/19 -, NordÖR, 467, 472 f. m. w. N.). Soweit die Geschäftsordnung Ladungsfristen enthält, sind diese einzuhalten (Wefelmeier, NdsVBl. 2021, 131). Eine solche Frist hat sich die Antragsgegnerin im Rahmen ihrer eigenverantwortlichen Selbstorganisation i. S. v. § 57 Abs. 5 NKomVG selbst auferlegt. Sie dient der Warnung und der Besinnung aller Beteiligten. Die übrigen Fraktionsmitglieder sollen sich der Bedeutung ihres Beschlusses gewahr werden und nicht voreilig über einschneidende Maßnahmen entscheiden. Alle Beteiligten sollen ausreichend Zeit haben, sich auf die entsprechende Sitzung nach Kenntnisnahme der schriftlichen und begründeten Anträge vorzubereiten. Dies wird auch dadurch deutlich, dass in der Geschäftsordnung nicht nur eine genaue Stundenanzahl, sondern ausdrücklich drei volle Tage zwischen Bekanntgabe und Abstimmung liegen sollen. Zudem fehlt in § 14 Nr. 3 der Geschäftsordnung - anders als in § 4 Nr. 3 der Geschäftsordnung - die Möglichkeit die Frist in Eilfällen zu verkürzen. Durch die verspätete Ladung wurde weder die Warn- noch die Besinnungsfunktion der Frist ausreichend gewahrt. Die Geschäftsführung hatte die ausdrücklich von der Geschäftsordnung vorgesehene längere Ladungsfrist offensichtlich nicht im Blick und konnte dadurch auch den Antragsteller und die anderen Fraktionsmitglieder nicht unter Bezugnahme auf die längere Ladungsfrist auf die besondere Bedeutung ihrer Entscheidung aufmerksam machen. Die Beteiligten hatten weniger Zeit, den konkreten Vorwurf nachzuvollziehen und eigene Schlüsse für die Abstimmung über den Fraktionsausschluss zu ziehen.

Es ist für den Antragsteller auch nicht ausgeschlossen, sich nunmehr im gerichtlichen Verfahren auf diese Frist zu berufen. Den Rechtsgedanken einer rügelosen Einlassung (vgl. etwa § 91 Abs. 2 VwGO) hält die Kammer vor dem Hintergrund der besonderen Bedeutung der verfahrensrechtlichen Vorschriften bei Fraktionsausschlüssen nicht für übertragbar. Eine Frist von drei Tagen mag nicht in jedem Fall aus verfassungsrechtlicher Sicht ausreichend sein, um eine hinreichende Vorbereitungszeit für die Beteiligten zu gewährleisten (vgl. zu einer gleichlautenden Frist in einer Geschäftsordnung der AFD, LVerfG Schleswig-Holstein, Urt. v. 29.8.2019 - LVerfG 1/19 -, NordÖR, 467, 473; diesbezüglich führt Wefelmeier (a. a. O, S. 132) aus, dass sich das betroffene Mitglied nicht aus eine Fristverletzung berufen kann, wenn es sich trotz kurzer Frist umfänglich zu den Vorwürfen geäußert hat). Sie ist jedoch zumindest die Mindestvoraussetzung in diesem konkreten Fall, da sie bereits durch die Geschäftsordnung als verbindliches Innenrecht festgelegt ist. Sie steht damit nicht zur Disposition der Beteiligten in einem konkreten Ausschlussverfahren; insbesondere nicht, wenn die Beteiligten durch die Fraktionsgeschäftsstelle nicht auf die besondere Ladungsfrist hingewiesen wurden. Es ist daher auch nicht etwa möglich zu argumentieren, dass den skizzierten Zwecken der besonderen Ladungsfrist der Sache nach bereits auf andere Weise Genüge getan wurde.

Da schon wegen dieses Verfahrensfehlers die angegriffene Entscheidung unwirksam war, bedarf es hier keiner näheren Befassung mit den gegen die materielle Rechtmäßigkeit des Beschlusses vorgebrachten Bedenken.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nrn. 1.5 und 22.7 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung vom 18. Juli 2013 (NordÖR 2014, 11); wegen der Vorwegnahme der Hauptsache wird eine Halbierung des für das Hauptsacheverfahren geltenden Wertes nicht vorgenommen.