Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 07.12.2022, Az.: 1 B 265/22
Abberufung; Fachausschuss; Fraktionsarbeit; Fraktionsausschluss; Funktionsfähigkeit; Gemeinderat; Vertrauensverhältnis; Wichtiger Grund; Ausschluss eines Ratsmitglieds aus einer Stadtratsfraktion
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 07.12.2022
- Aktenzeichen
- 1 B 265/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 50420
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2022:1207.1B265.22.00
Rechtsgrundlagen
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Die Abberufung aus einem Fachausschuss ist in Bezug auf den Fraktionsausschluss kein berücksichtigungsfähiger Nachteil.
- 2.
Die formellen Verfahrensanforderungen dürfen sich im Falle des Fehlens einer Fraktionsgeschäftsordnung am bisherigen Vorgehen der Fraktion orientieren.
- 3.
Ist die Funktionsfähigkeit der Fraktionsarbeit eingeschränkt, kommt es nicht primär auf den Verursacher des Konflikts an, sondern auf die Mehrheitsmeinung in einer Fraktion, da innerhalb dieser eine vertrauensvolle Zusammenarbeit möglich sein muss.
[Grunde]
Der vom Antragsteller sinngemäß gestellte Antrag,
den Beschluss der Antragsgegnerin über den Fraktionsausschluss vom 09.11.2022 aufzuheben bzw. bis zu einer Klärung auszusetzen,
ist gemäß den §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO dahingehend auszulegen, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller bis zur Entscheidung über eine noch zu erhebende Klage vorläufig weiterhin mit allen Rechten und Pflichten eines Fraktionsmitglieds zur Fraktionsarbeit zuzulassen.
Der so verstandene Antrag ist zwar zulässig, aber nicht begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Hierzu muss der um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes Nachsuchende gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2 und 294 ZPO glaubhaft machen, dass ihm der geltend gemachte materiell-rechtliche Anspruch (Anordnungsanspruch) zusteht und darüber hinaus im Hinblick auf eine ansonsten drohende Rechtsvereitelung oder -erschwerung eine besondere Dringlichkeit der Rechtsschutzgewährung (Anordnungsgrund) zu bejahen ist.
Vorliegend ist bereits zweifelhaft, ob ein Anordnungsgrund vorliegt. Ein solcher lässt sich jedenfalls nicht mit der vom Antragsteller insofern maßgeblich angeführten und für den heutigen Tag vorgesehenen Abberufung aus drei Fachausschüssen des A-Stadt Stadtrats begründen. Denn bei der Abberufung handelt es sich um eine eigenständige Maßnahme, die nicht rechtlich oder tatsächlich zwingend von der Rechtmäßigkeit des Fraktionsausschlusses abhängt und deshalb nicht zu einem Nachteil führt, der diesem Ausschluss zuzurechnen ist (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 03.12.2015 - 10 ME 46/15 -, V.n.b.; VG Oldenburg, Beschluss vom 12.04.2022 - 3 B 3712/21 -, juris Rn. 30 ff.). Die Entscheidung über die Abberufung ist schon nach dem Wortlaut des § 71 Abs. 9 Satz 3 Nr. 1 NKomVG nicht an besondere Gründe gebunden. Vielmehr steht es den Fraktionen und Gruppen als actus contrarius des Benennungsrechts jederzeit frei, die von ihnen benannten Mitglieder aus Ausschüssen wieder abzuziehen bzw. durch andere zu ersetzen. Daraus folgt, dass Ausschussmitglieder als solche nicht über eine gesicherte rechtliche Position gegenüber den sie entsendenden Fraktionen verfügen (vgl. BeckOK KommunalR Nds/Beckermann, 23. Ed. 1.10.2022, NKomVG § 71 Rn. 27 m.w.N.). Dementsprechend hätte die Antragsgegnerin den Antrag auf Abberufung des Antragstellers auch dann stellen können, wenn er weiterhin Fraktionsmitglied gewesen wäre. Der Antragsteller kann sich auch nicht auf einen in der Wahlentscheidung zum Ausdruck kommenden Bürgerwillen in Bezug auf die Sitzverteilung nebst entsprechender Fraktionsgröße berufen. Die Annahme der Wähler, ein auf der CDU-Liste aufgeführter Wahlbewerber werde sich mutmaßlich als Abgeordneter einer CDU-Fraktion im Rat anschließen, vermittelt nach dem Grundsatz des freien Mandats gemäß § 54 Abs. 1 NKomVG sowie der Freiwilligkeit der Fraktionsbildung gemäß § 57 Abs. 1 NKomVG kein Recht oder keine Pflicht der Abgeordneten, eine solche Fraktion zu bilden. Dementsprechend ist eine dahingehende Erwartungshaltung nicht rechtlich geschützt (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 03.12.2015 - 10 ME 46/15 -, V.n.b.). Andere wesentliche und im hiesigen Verfahren berücksichtigungsfähige Nachteile hat der Antragsteller nicht dargetan.
Letztlich kann das Vorliegen des Anordnungsgrundes hier aber dahingestellt bleiben, weil der Antragsteller jedenfalls keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat. Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand kann nicht von einem durch die begehrte Regelungsanordnung sicherungsbedürftigen Recht des Antragstellers ausgegangen werden. Vielmehr spricht bei summarischer Prüfung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Ausschluss des Antragstellers aus der Stadtratsfraktion der CDU rechtmäßig ist.
Soweit der Antragsteller geltend macht, eine (formelle) Rechtswidrigkeit des Fraktionsausschlusses ergebe sich schon daraus, dass die Einladung zur entsprechenden Sitzung vom 09.11.2022 weder form- noch fristgerecht erfolgt sei, vermag das Gericht dem nicht zu folgen. Abgesehen davon, dass der Antragsteller selbst nicht angibt, welche konkreten Form- oder Fristvorgaben verletzt worden sein sollen, ist es im Falle des Fehlens einer Fraktionsgeschäftsordnung angezeigt, sich an allgemeinen Maßstäben und dem bisherigen Vorgehen der Fraktion zu orientieren (vgl. VG Augsburg, Beschluss vom 19.11.2013 - Au 7 E 13.1721 -, juris Rn. 21; BeckOK KommunalR Nds/Mehde, 23. Ed. 1.10.2022, NKomVG § 57 Rn. 9 m.w.N.). Insofern hat die Antragsgegnerin beschrieben, dass die ggf. auch kurzfristige Einladung per E-Mail zu mündlich vorabgestimmten Terminen ihrer ständigen und seit Jahren nicht bemängelten Praxis entspreche. Zudem ist angesichts des schon seit längerer Zeit schwelenden Konflikts und des in Anwesenheit des Antragstellers nach ausführlicher Diskussion bereits am 30.08.2022 ergangenen Beschlusses der Fraktion zur Einleitung des Fraktionsausschlusses vorliegend kein treuwidriges Überraschungsmoment zu erkennen. Unter dem 08.10.2022 wurde dem Antragsteller - den Gepflogenheiten der Fraktion entsprechend ebenfalls per E-Mail - auch noch einmal Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme gegeben, bevor der Fraktionsausschluss in der Sitzung vom 09.11.2022 vollzogen worden ist.
In materieller Hinsicht ist der Fraktionsausschluss voraussichtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Insoweit ist - auch bei verschiedener Herleitung - jedenfalls allgemein anerkannt, dass ein wichtiger Grund vorliegen muss, der in einer nachhaltigen Störung des Vertrauensverhältnisses bestehen kann. Dabei sind die Mitwirkungsrechte des Betroffenen der ebenfalls nach § 57 Abs. 2 NKomVG gesetzlich geschützten Funktionsfähigkeit der Antragsgegnerin gegenüberzustellen (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 03.12.2015 - 10 ME 46/15 -, V.n.b.). Da die Ausschlussentscheidung als ein Akt interner Selbstgestaltung und "kollektiver" politischer Verantwortung anzusehen ist, kommt den Fraktionen ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 14.06.2010 - 10 ME 142/09 - V.n.b.; BeckOK KommunalR Nds/Mehde, 23. Ed. 1.10.2022, NKomVG § 57 Rn. 10 m.w.N.).
Wendet man die dargelegten Maßstäbe auf den streitgegenständlichen Sachverhalt an, ist zunächst festzuhalten, dass offensichtlich beide Seiten von einer stark gestörten Zusammenarbeit und damit letztlich von einer erheblich eingeschränkten Funktionsfähigkeit der Fraktionsarbeit ausgehen. Außerdem geben beide Seiten an, dass weiteren Einigungsversuchen keine Aussicht auf Erfolg mehr eingeräumt werden könne. All dies wird auch durch die vorliegenden Protokolle der Fraktionssitzungen verdeutlicht, soweit dort mehrere Fraktionsmitglieder angekündigt hatten, die Fraktion zu verlassen, sofern es nicht zum Ausschluss des Antragstellers kommt. Dabei kommt es nach Ansicht des Gerichts nicht primär auf den Verursacher eines auf die gesamte Fraktionsarbeit übergreifenden Konflikts an, sondern auf die Mehrheitsmeinung in einer Fraktion, da letztlich innerhalb dieser eine vertrauensvolle Zusammenarbeit möglich sein muss (vgl. in diesem Sinne ebenfalls: VG Augsburg, Beschluss vom 19.11.2013 - Au 7 E 13.1721 -, juris Rn. 23). Dass der Fraktionsausschluss auf willkürlichen Erwägungen beruhen würde, ist jedenfalls nicht ersichtlich und wird vom Antragsteller auch nicht substantiiert. Vielmehr lässt sich den vorliegenden Unterlagen entnehmen, dass es um grundlegende Fragen der Zusammenarbeit geht, über die ein erheblicher Dissens besteht, der nicht aufzulösen ist, weil auch der Antragsteller bei seiner Haltung zu bleiben gedenkt. Dies bezieht sich u.a. auf die Handhabung intern getroffener Absprachen, den Umgang mit Medien, das geschlossene Auftreten in der Öffentlichkeit und auf unangekündigtes bzw. unabgestimmtes Abstimmungsverhalten in Sitzungen des Stadtrates.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.