Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 19.01.2006, Az.: L 8 AS 191/05
Anspruch auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Versicherungs-Pauschbetrages; Verminderung der Hilfebedürftigkeit durch ein zu berücksichtigendes Einkommen; Berücksichtigungsfähigkeit von Unterhaltszahlungen des Vaters für das Kind einer alleinerziehenden Mutter; Abzug des Kindergeldes vom Gesamtbedarf; Absetzungsfähigkeit der Beiträge zuöffentlichen oder privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen; Ausschluss des Abzugs eines Pauschbetrags bei Personen ohne Einkommen; Abzugsmöglichkeit eines Pauschbetrages für einen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Minderjährigen
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 19.01.2006
- Aktenzeichen
- L 8 AS 191/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2006, 17050
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2006:0119.L8AS191.05.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 04.07.2005 - AZ: S 46 AS 133/05
- nachfolgend
- BSG - 19.03.2008 - AZ: B 11b AS 7/06 R
Rechtsgrundlagen
- § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB II
- § 11 Abs. 2 SGB II
- § 3 Nr. 1 Alg II-VO
Redaktioneller Leitsatz
Bei der Gewährung von ALG II ist auf den ungedeckten Bedarf der minderjährigen Kinder das Kindergeld in voller Höhe anzurechnen.
Die Regelung über die Möglichkeiten des Abzugs eines Pauschbetrages für private Versicherungen in § 3 Nr. 1 Alg II-VO ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Tenor:
Die Berufung der Kläger gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 4. Juli 2005 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch -Grundsicherung für Arbeitssuchende - (SGB II) für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Mai 2005 streitig.
Die am 20. Dezember 1971 geborene Klägerin zu 1. lebt mit ihrem am 26. Dezember 1995 geborenen Sohn J. - dem Kläger zu 2. zusammen. Sie erhielt bis zum 31. Dezember 2004 laufend Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz und nach dem Wohngeldgesetz in Höhe von zuletzt insgesamt 802,18 EUR monatlich.
Am 8. November 2004 beantragte die Klägerin zu 1. die Gewährung von Arbeitslosengeld II (Alg II)/ Sozialgeld. Sie gab an, für den Kläger zu 2. Kindergeld in Höhe von monatlich 154,00 EUR zu beziehen und machte Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 389,20 EUR monatlich geltend. Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen wurden nicht angegeben. Der unterhaltspflichtige Kindesvater zahlte für den Kläger zu 2. für die Zeit von Januar bis Mai 2005 Unterhalt in Höhe von insgesamt 700,00 EUR.
Die Beklagte bewilligte den Klägern mit Bescheid vom 19. November 2004 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 10. Februar 2005 Leistungen nach dem SGB II vom 1. Januar bis zum 31. Mai 2005 in Höhe von 828,20 EUR monatlich, bestehend aus dem Regelsatz für die beiden Kläger sowie aus dem Mehrbedarf für Alleinerziehung abzüglich des bezogenen Kindergeldes in Höhe von insgesamt 439,00 EUR und den Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 389,20 EUR. Damit waren die Kläger nicht einverstanden. Nach ihrer Auffassung sei der Versicherungs-Pauschbetrag von 30,00 EUR monatlich von dem Kindergeld abzuziehen. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 2. März 2005).
Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat mit Gerichtsbescheid vom 4. Juli 2005 die am 21. März 2005 erhobene Klage abgewiesen und die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Hiergegen richtet sich die am 21. Juli 2005 eingelegte Berufung der Kläger.
Sie tragen vor, das Kindergeld sei das einzige Einkommen der Klägerin zu 1 ... Gemäß § 11 Abs. 2 Nr. 3 SGB II seien vom Einkommen der Bedarfsgemeinschaft Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen abzuziehen. Daraus könne keine Zuordnung des Einkommens für Mutter oder Kind entnommen werden. Sollte § 3 Nr. 1 der Alg II/Sozialgeld-Verordnung (Alg II-VO) den Abzug von Versicherungspauschalen in Fallkonstellationen der hier vorliegenden Art ausschließen, stünde die Verordnung nicht mit Artikel 80 Abs. 1 Grundgesetz (GG) im Einklang.
Die Kläger beantragen nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
- 1.
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 4. Juli 2005 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. November 2004 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 10. Februar 2005, dieser in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. März 2005, zuändern,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihnen Leistungen für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Mai 2005 unter Abzug einer Versicherungspauschale in Höhe von 30,00 EUR monatlich vom Kindergeld zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung und die angegriffenen Bescheide.
Wegen des umfassenden Vortrags der Beteiligten und wegen des vollständigen Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten (Kunden-Nr: K.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 in Verbindung mit § 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung.
Die vom SG zugelassene form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. Die Berufung ist nicht begründet. Das SG und die Beklagte haben zu Recht entschieden, dass die Kläger keinen Anspruch auf höhere Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung eines Versicherungs-Pauschbetrages haben. Die Berufung ist daher zurückzuweisen.
Zu entscheiden ist hier ausschließlich über die Höhe der den Klägern zustehenden Leistungen nach dem SGB II in der Zeit vom 1. Januar bis 31. Mai 2005. Während dieser Zeit hatte die Klägerin zu 1) als erwerbsfähige Hilfebedürftige einen Anspruch auf Alg II und der Kläger zu 2) als minderjähriger nicht erwerbsfähiger Hilfebedürftiger einen Anspruch auf Sozialgeld. Die Höhe der Regelleistungen und der Mehrbedarf nach den §§ 20, 21 SGB II (345,00 EUR für die Klägerin zu 1) zzgl 41,00 EUR Mehrbedarf wegen Alleinerziehung sowie 207,00 EUR für den Kläger zu 2), zusammen 593,00 EUR) ist dabei ebenso zutreffend ermittelt worden wie die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 SGB II in Höhe von 389,20 EUR.
Die Hilfebedürftigkeit vermindert sich gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB II um das zu berücksichtigende Einkommen. Dabei ist die Unterhaltzahlung des Vaters des Klägers zu 2) nicht berücksichtigt worden. Der Senat geht davon aus, dass die Klägerin zu 1) entsprechend ihrer am 7. Juni 2005 abgegebenen Erklärung den Betrag an die Beklagte überwiesen hat, zumal letztere sich hierzu im Verfahren nicht geäußert hat.
Als Einkommen ist demnach von dem Gesamtbedarf von 982,60 EUR lediglich das Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR abzuziehen. Den sich daraus ergebenden Anspruch hat die Beklagte mit 828,20 zutreffend ermittelt und an die Kläger ausgezahlt.
Entgegen der Auffassung der Kläger sind vom Kindergeld keine Beträge abzusetzen. Weder § 11 Abs. 2 SGB II noch die Alg II-VO sehen für den hier zu entscheidenden Fall entsprechende Abzüge vor.
Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II wird das Kindergeld für minderjährige Kinder dem jeweiligen Kind zugerechnet, soweit es zur Sicherung des Lebensunterhalts benötigt wird. Der Gesetzgeber geht offenbar davon aus, dass Alg II für ein minderjähriges Kind nicht zuzüglich des Kindergeldes gezahlt werden soll. Soweit das Kindergeld nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts benötigt wird, weil der Bedarf anderweitig abgedeckt ist, verbleibt es bei der Regelung im Kindergeldrecht (§ 62 Abs. 1 Einkommensteuergesetz - EStG ); der überschießende Kindergeldanteil ist dem Kindergeldberechtigten zuzurechnen. Für den hier zu entscheidenden Fall folgt daraus, dass das Kindergeld unabhängig von den Unterhaltsleistungen von 700,00 EUR für fünf Monate entsprechend 140,00 EUR monatlich Einkommen des Klägers zu 2) ist: Zur Sicherung seines Lebensunterhalts von 401,60 EUR (Regelsatz 207,00 EUR zzgl hälftige Unterkunftskosten von 194,60 EUR) bedarf es sowohl des Unterhalts als auch des Kindergeldes in Höhe von insgesamt 294,00 EUR.
Vom Einkommen sind nach § 11 Abs. 2 SGB II (hier in der bis zum 30. September 2005 geltenden Fassung) , soweit hier überhaupt in Betracht kommend, abzusetzen Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen oderähnlichen Einrichtungen, soweit diese Beiträge gesetzlich vorgeschrieben oder nach Grund und Höhe angemessen sind (Nr. 3 der Vorschrift). Die Kläger haben weder im Verwaltungsverfahren geltend gemacht, dass entsprechende Versicherungsbeiträge von ihnen aufzubringen sind, noch haben sie im gerichtlichen Verfahren, nunmehr anwaltlich vertreten, entsprechendes ausgeführt. Eine Reduzierung nach § 11 Abs. 2 SGB II ist deshalb nicht möglich.
Auch aus den Regelungen in der Alg II-VO (ebenfalls in der bis zum 30. September 2005 geltenden Fassung) können die Kläger keine Ansprüche herleiten. In Betracht käme hier allenfalls § 3 Nr. 1 Alg II-VO. Der minderjährige Kläger zu 2), der mit der volljährigen hilfebedürftigen Klägerin zu 1) in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, fällt nicht unter den mit dieser Vorschrift begünstigten Personenkreis. Danach ist ein Pauschbetrag in Höhe von 30,00 EUR monatlich von dem Einkommen volljähriger Hilfebedürftiger und von dem Einkommen minderjähriger Hilfebedürftiger abzusetzen, soweit diese nicht mit volljährigen Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, für die Beiträge zu privaten Versicherungen, die nach Grund und Höhe angemessen sind, gemäß § 11 Abs. 2 Nr. 3 SGB II.
Die Bestimmung des § 3 Nr. 1 Alg II-VO ist ermächtigungskonform (zur Verordnungsermächtigung siehe § 13 Satz 1 Nr. 3 SGB II). Der Verordnungsgeber hat für einen bestimmten Personenkreis eine Pauschale für die fakultativen Versicherungen bestimmt. Die Abzugsfähigkeit für die gesetzlich vorgeschriebenen Versicherungen bleibt unberührt. Ob der Abzug eines Pauschbetrages für private Versicherungen den Abzug höherer tatsächlicher Aufwendungen verhindert, ist hier ebenso wenig zu entscheiden wie die Frage, ab der Pauschbetrag von 30,00 EUR ausreichend ist, da keine Versicherungsbeiträge geltend gemacht worden sind (vgl zu diesen Fragen im Zusammenhang mit der Arbeitslosenhilfe-Verordnung die Urteile des Bundessozialgerichts - BSG - vom 9. Dezember 2004, u.a. BSGE 94, 109 [BSG 09.12.2004 - B 7 AL 24/04 R]-121 = SozR 4-4220 § 3 Nr. 1).
Die Verordnung hält sich auch insoweit im Rahmen der Ermächtigungsnorm, als der Pauschbetrag bei Personen ohne Einkommen nicht abzusetzen ist. Dem Verordnungsgeber ist ein nicht unerheblicher Gestaltungsspielraum zuzubilligen, in dessen Grenzen er eine an Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten orientierte politische Entscheidung treffen kann, er darf nur nicht über den von der Ermächtigung gesteckten Rahmen hinausgehen (BSG a.a.O.; siehe auch BSGE 91, 94 [BSG 27.05.2003 - B 7 AL 4/01 R] = SozR 4-4220 § 6 Nr. 1). Letzteres ist hier nicht geschehen. Die Anknüpfung an die Einkommenserzielung ergibt sich folgerichtig aus der Ermächtigungsnorm des§ 13 Satz 1 Nr. 3 SGB II, die die Erzielung von Einkommen ebenso wie§ 11 Abs. 2 SGB II voraussetzt. Eine Abzugsmöglichkeit für alle Hilfebedürftigen unabhängig von der Einkommenserzielung würde letztlich zu einer Erhöhung des Bedarfs bzw. zur Einführung einer weiteren einmaligen Leistung führen. Eine ungeklärte Frage, wie vom Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen im Beschluss vom 12. August 2005 - L 19 B 29/05 AS - (nv) angenommen, liegt insoweit nicht vor.
Schließlich ist auch nicht zu beanstanden, dass bei minderjährigen Hilfebedürftigen, die wie der Kläger zu 2) mit volljährigen Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ein Absetzen des Pauschbetrages vom Einkommen nicht möglich ist. Hier ist zu berücksichtigen, dass auch für diesen Personenkreis die Abzugsfähigkeit für die gesetzlich vorgeschriebenen Versicherungen unberührt bleibt. § 3 Nr. 1 Alg II-VO schließt zudem nicht aus, dass nachgewiesene Beiträge zu fakultativen Versicherungen, soweit diese nach Grund und Höhe angemessen sind, gemäß § 11 Abs. 2 Nr. 3 SGB II vom Einkommen auch minderjährigen Hilfebedürftiger, die mit volljährigen Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, abgesetzt werden. Der genannte Personenkreis wird deshalb nur insoweit von der andere Hilfsbedürftige begünstigenden Regelung des § 3 Nr. 1 Alg II-VO ausgeschlossen, als er nicht in den Genuss einer (zusätzlichen) Entlastung ohne Nachweis von Aufwendungen kommt. Das ist hinzunehmen. Durch eine Pauschale sollen regelmäßig Zeit raubende Ermittlungen im Rahmen der Massenverwaltung vermieden werden (BSG a.a.O.). Anders als bei Volljährigen ist es bei minderjährigen Hilfebedürftigen eher unwahrscheinlich, dass von ihnen nach Grund und Höhe angemessene Beiträgen für nicht gesetzlich vorgeschriebene Versicherungen gezahlt werden. Die vom Verordnungsgeber vorgenommene Differenzierung erscheint deshalb noch sachgerecht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Da die Kläger unterliegen, tragen sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG beimisst. Zwar gibt es bisher - soweit bekannt keine von diesem Urteil abweichende Entscheidung zu der Frage, ob der Versicherungs-Pauschbetrag von 30,00 EUR monatlich von dem Kindergeld minderjähriger Hilfebedürftiger abzuziehen ist. Klärungsbedürftig erscheint jedoch in einer Vielzahl anhängiger Verfahren, ob die (fehlende) gesetzliche Regelung zur Absetzung von Pauschbeträgen für Versicherungsbeiträge bei minderjährigen Hilfebedürftigen verfassungsgemäß ist (vgl zur Klärungsbedürftigkeit in solchen Fällen BSG Beschluss vom 22. August 1975, BSGE 40, 158).