Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 24.01.2006, Az.: L 8 SO 83/05 ER
Anforderungen an die Bewilligung von Hilfe zur Pflege nach den Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG); Anforderungen an die Begründetheit einer Beschwerde gegen den Beschluss eines Sozialgerichts
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 24.01.2006
- Aktenzeichen
- L 8 SO 83/05 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 10719
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2006:0124.L8SO83.05ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 07.07.2005 - AZ: S 2 SO 76/05 ER
Rechtsgrundlagen
- § 69b BSHG
- § 172 SGG
- § 173 SGG
- § 86b Abs. 2 S. 2 SGG
Fundstelle
- info also 2007, 92 (amtl. Leitsatz)
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Oldenburg vom 7. Juli 2005 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Widerspruch der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 3. Februar 2005 aufschiebende Wirkung hat.
Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe
I.
Die 1957 geborene Antragstellerin leidet seit langem unter zahlreichen schwer wiegenden Erkrankungen, unter anderem einem zellulären Immundefektsyndrom, wodurch ihr Allgemeinzustand deutlich reduziert ist. Mit Bescheid vom 19. April 1999 bewilligte die Stadt E. der Antragstellerin Hilfe zur Pflege nach den Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG). Dabei enthielt dieser Bescheid folgende Passage:
"Wir bewilligen Ihnen nach § 69b BSHG ab 01.01.99 ein Pflegegeld in Höhe von 919,40 DM monatlich."
Bis einschließlich Februar 2005 wurde durch die Antragsgegnerin ein Pflegegeld in Höhe von 675,08 EUR anerkannt. Die Höhe diese Leistungen beruhte auf dem Bescheid vom 19. April 1999, wobei das von der Pflegeversicherung der Antragstellerin gezahlte Pflegegeld in Höhe von 205,00 EUR angerechnet wurde, so dass Leistungen in Höhe von tatsächlich 470,08 EUR (= 919,40 DM) verblieben. Mit Bescheid vom 3. Februar 2005 stellt die Antragsgegnerin nach Überprüfung fest, dass bei der Antragstellerin ein nicht gedeckter Hilfebedarf von monatlich lediglich 38,32 EUR bestehe. Dieser würde ab dem 1. März 2005 monatlich laufend auf ihr Konto angewiesen werden.
Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch wandte die Antragstellerin sich gegen die Reduzierung des bislang gewährten Pflegegeldes. Über den Widerspruch ist - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden worden.
Außerdem hat die Antragstellerin am 15. April 2005 um vorläufigen Rechtsschutz beim SG Oldenburg nachgesucht, welches den abschlägigen Beschluss vom 7. Juli 2005 erlassen hat. Dagegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin, der das SG nicht abgeholfen, sondern diese dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt hat.
II.
Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Oldenburg vom 7. Juli 2005 ist begründet. Entgegen der Auffassung des SG gilt die Leistungsverpflichtung der Antragsgegnerin aus ihrem Bescheid vom 19. April 1999 weiter, die streitige Pflegegeldleistung ist in unveränderter Höhe zu zahlen.
Die Antragstellerin begehrt die Weiterzahlung der ihr mit Bescheid vom 19. April 1999 bewilligten Leistungen in Höhe von 470,08 EUR monatlich. Mit diesem Begehren ist sie letztlich erfolgreich, weil ihr Widerspruch gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 3. Februar 2005 aufschiebende Wirkung hat. Die Bewilligung aus dem Bescheid vom 19. April 1999 wirkt fort. Der Bescheid vom 19. April 1999 über die Bewilligung von Hilfe zur Pflege war ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung gemäß § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Die Rechtsaufassung der Antragsgegnerin und des SG, wonach es sich bei dem Bescheid vom 19. April 1999 nicht um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt, wird vom Senat nicht geteilt. Nur in einem solchen Fall hätte die Antragsgegnerin - verfahrensrechtlich ungebunden eine neue Entscheidung über den Anspruch auf Zahlung des Pflegegeldes treffen können und die Antragstellerin versuchen müssen, eine Regelungsverfügung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zu erlangen.
Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegt vor, wenn sein Regelungsinhalt - vom Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes her - nach seinen rechtlichen Wirkungen in die Zukunft fortwirken soll, sich also über eine einmalige Gestaltung der Rechtslage hinaus auf eine gewisse - bestimmte oder unbestimmte - zeitliche Dauer in der Zukunft erstreckt (BSGE 56, 165; 58, 27 [BSG 30.01.1985 - 1 RJ 2/84]; 61, 286 [BSG 13.05.1987 - 7 RAr 62/85]; 78, 109) [BSG 20.03.1996 - 6 RKa 51/95]. Für die Feststellung, ob es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt, ist maßgeblich, wie ihn ein Leistungsberechtigter bei objektiver Würdigung verstehen kann (vgl dazu Rothkegel/Grieger in: Sozialhilferecht, 1. Aufl. 2005, Teil IV Kapitel 6 S. 686f, Rdnr 52ff). Die im Bescheid vom 19. April 1999 verwendete einschränkungslose Formulierung "ab 01.01.99" ist ausgehend vom objektivierten Empfängerhorizont des Leistungsberechtigten dahin auszulegen, dass ein Pflegegeld in benannter Höhe für einen unbestimmten Zeitraum nach Erlass des Bescheides bewilligt wurde und nicht nur für einen oder mehrere bestimmte (welche?) Monate. Die Formulierung "ab" stellt aus der Sicht des Empfängers die Leistung für die Folgemonate nicht lediglich in Aussicht, sondern lässt deren weitere Zahlung ohne erneute Prüfung und Bewilligung erwarten. Anhaltspunkte dafür, dass die Bewilligung des Pflegegeldes nur für den nächstliegenden Zeitraum gelten solle, sind weder dem Verfügungssatz noch der Begründung des Bescheides vom 19. April 1999 zu entnehmen.
Zwar stellte nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) Sozialhilfe- Hilfe zum Lebensunterhalt keine rentengleiche Dauerleistung dar, sondern wurde nur zeitabschnittsweise (in der Regel monatsweise) gewährt (BVerwGE 25, 307, 308f [BVerwG 30.11.1966 - V C 29/66]; 89, 81, 85) [BVerwG 26.09.1991 - 5 C 14/87]. Allerdings berücksichtigt auch die neuere Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte das Institut des Dauerverwaltungsaktes im Sozialhilferecht (vgl Rothkegel/Grieger a.a.O. Kapitel 6 S. 684f, Rdnr 45 m.w.N.). Dies beispielsweise, wenn die Behörde den Hilfefall statt für den dem Bescheid nächstliegenden Zeitraum für einen längeren Zeitraum geregelt hat (BVerwGE 99, 149 -). So liegt hier der Fall, wie sich aus der Formulierung "ab" 1.1.99 ergibt. Daneben ist von der ständigen Rechtsprechung des BVerwG (E 99, 149; E 108, 296; FEVS 52, 439) anerkannt, dass der Sozialhilfeträger befugt ist, Entscheidungen über Hilfeleistungen für einen längeren, auch in die Zukunft weisenden Zeitraum zu treffen (vgl Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Sozialhilfekommentar 2005, Einleitung Rdnr 135). Einen solchen Bescheid mit Dauercharakter stellt der genannte Bescheid der Antragsgegnerin dar. Für die Qualifizierung des Bescheides vom 19. April 1999 als Dauerverwaltungsakt spricht weiter, neben der Formulierung "ab 1.1.99" dass es sich um einen langwierigen Hilfefall der Hilfe zur Pflege handelt, bei welchem nach den im Gerichts- und Verwaltungsverfahren vorliegenden ärztlichen Befunden und Attesten eine Besserung des gesundheitlichen Zustands nicht zu erwarten war. Hinzu kommt, dass der Antragstellerin auf Grundlage des genannten Bescheides auch im Januar und Februar 2005 Pflegegelder gemäß § 61 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII) gezahlt wurden (vgl Blatt 15f der Gerichtsakte), ohne dass eine erneute Bewilligung erfolgt wäre.
Die Antragsgegnerin hat mit dem Bescheid vom 3. Februar 2005 die ursprüngliche Bewilligung nicht aufgehoben oder zurückgenommen. Soweit mit dem Bescheid vom 3. Februar 2005 ein Betrag von nur noch 38,32 EUR zugesprochen worden ist, ist dieser Bescheid bereits deshalb rechtsfehlerhaft, weil keine kassatorische Entscheidung getroffen wurde. Eine wirksame Änderung des Bescheides vom 19. April 1999 setzt nämlich voraus, dass dieser entweder gemäß § 48 SGB X aufgehoben oder ggf. gemäß § 45 SGB X zurückgenommen wird. Eine derartige Regelung ist dem Bescheid vom 3. Februar 2005 nicht zu entnehmen, so dass die Wirksamkeit des Bescheides vom 19. April 1999 fortbesteht (§ 39 Abs. 2 SGB X).
Unabhängig davon hat der Bescheid vom 3. Februar 2005 derzeit keine rechtlichen Auswirkungen, weil der Widerspruch der Antragstellerin gegen diesen Bescheid aufschiebende Wirkung hat. Das SGB XII enthält - anders als das Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) in § 39 - keine Vorschrift, wonach die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage entfällt. Hier tritt deshalb der gesetzliche Normalfall ein, wonach der Widerspruch aufschiebende Wirkung hat (§ 86a Abs. 1 Satz 1 SGG). Ein Fall des § 86a Abs. 2 SGG ist vorliegend nicht gegeben.
Da die Antragsgegnerin nicht von der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ausgeht, ist diese Wirkung vom Senat aus Gründen der Rechtssicherheit auszusprechen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).