Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 08.02.2006, Az.: 1 A 171/05

Abbruch; antidepressiv; Attest; Aufenthaltserlaubnis; Ausreise; Behandlung; Dekompensation; freiwillige Ausreise; Gefahr; Heimatland; Impuls; Jugoslawien; Kettenduldung; Kosovo; Lebensgefahr; Leib oder Leben; Medikament; psychische Erkrankung; Roma; Suizidgefahr; Therapie; Unmöglichkeit; Unzumutbarkeit; Vertretung; Zumutbarkeit

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
08.02.2006
Aktenzeichen
1 A 171/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 53163
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Ausreise ist einem Ausländer nicht im Sinne von § 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG unmöglich, wenn dessen freiwillige Ausreise möglich ist. Bei der Frage, ob die freiwillige Ausreise möglich ist, ist nicht ergänzend zu prüfen, ob die Ausreise auch zumutbar ist.

Tatbestand:

1

Die Kläger begehren die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

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Die Klägerin zu 1) ist die Mutter der minderjährigen Kläger zu 2) bis 4). Die Familie reiste am 02.05.1999 aus dem Kosovo nach Deutschland ein und erhielt erstmalig am 03.05.1999 Duldungen, die zunächst fortlaufend verlängert wurden. Mit Bescheid vom 09.03.2000 forderte die Beklagte die Kläger auf, das Bundesgebiet bis zum 30.04.2000 freiwillig zu verlassen und drohte ihnen andernfalls die Abschiebung in die Bundesrepublik Jugoslawien (Kosovo) an. Hiergegen legten die Kläger Widerspruch ein und legten eine Bescheinigung der „G. Beratungsstelle für Sinti und Roma e. V.“ vor, wonach sie Angehörige der Volksgruppe der Roma sind. Die Duldungen der Kläger wurden daraufhin weiter verlängert. Den Widerspruch gegen den Bescheid vom 09.03.2000 wies die Bezirksregierung Braunschweig mit Widerspruchsbescheid vom 16.07.2004 zurück. Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Göttingen durch Urteil vom 14.12.2004 (1 A 164/04), rechtskräftig seit dem 02.02.2005, ab. Die Duldungen der Kläger wurden unter Berücksichtigung der allgemeinen Verwaltungspraxis in Niedersachsen, Roma nicht abzuschieben, fortlaufend verlängert. Die Kläger sind nicht im Besitz von gültigen Nationalpässen.

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Die Klägerin zu 1) hatte bereits im Jahr 2004 drei ärztliche Atteste und zuletzt in der mündlichen Verhandlung ein „Ärztliches Attest“ von Dr. med. M. vom 07.02.2006 vorgelegt. Nach diesen Attesten ist sie psychisch erkrankt.

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Die Kläger stellten am 03.03.2005 bei der Beklagten Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Diese Anträge lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28.06.2005 (Az. 323.5/2-027863) ab. Zur Begründung führte sie aus, die Voraussetzungen der für die Kläger in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage des § 25 Abs. 5 S. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) lägen nicht vor. Nach dieser Vorschrift könne einem Ausländer dann eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn dessen Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich sei. Dies sei hier nicht der Fall. Die Kläger könnten freiwillig aus Deutschland aus- und in das Kosovo einreisen. Auf die Frage, ob ihnen die Ausreise unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Kosovo auch zumutbar sei, komme es nicht an. Nach dem Wortlaut von Absatz 5 Satz 1 sei bei der Frage, ob die Ausreise möglich sei, nicht zusätzlich die Zumutbarkeit der Ausreise zu prüfen. Ungeachtet dessen erfüllten die Kläger auch nicht die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des AufenthG, auf deren Vorliegen auch im Ermessenswege nicht verzichtet werden könne. Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stehe § 5 Abs. 1 i. V. m. § 3 AufenthG entgegen, da die Kläger ihre Passpflicht nicht erfüllten. Ferner seien die Kläger seit ihrer Einreise auf Sozialleistungen angewiesen und erfüllten deshalb auch nicht die Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 AufenthG, wonach der Lebensunterhalt gesichert sein müsse.

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Die Kläger haben am 18. Juli 2005 Klage erhoben.

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Zur Begründung berufen sie sich darauf, dass ihrem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG die Möglichkeit der freiwillige Ausreise als Ausschlussgrund nicht entgegen gehalten werden könne. Rechtsprechung wie die zu § 30 Abs. 3 und 4 AuslG gebe es zum neuen § 25 Abs. 5 AufenthG nicht.

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Die Kläger beantragen,

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den Bescheid der Beklagten vom 28. Juni 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihnen eine befristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie beruft sich zur Begründung im wesentlichen auf den angefochtenen Bescheid.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat keinen Erfolg.

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Der Bescheid der Beklagten vom 28.06.2005 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Die Kläger haben keinen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von § 11 Abs. 1 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Die Kläger sind aufgrund des rechtskräftigen Bescheides vom 09.03.2000 vollziehbar ausreisepflichtig. Ihre Ausreise ist aber weder aus rechtlichen noch aus tatsächlichen Gründen i. S. v. § 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG unmöglich, denn sie haben die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise.

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Es kann dahin gestellt bleiben, ob den Klägern die freiwillige Ausreise unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Kosovo zumutbar ist. Hierauf kommt es nicht an. Insoweit teilt die Kammer die Auffassung des OVG Lüneburg, das in seinem Beschluss vom 24.10.2005 (8 LA 123/05) folgendes ausgeführt hat:

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„Vorausgesetzt wird in § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG nach dem Wortlaut die Unmöglichkeit, nicht die Unzumutbarkeit der Ausreise. Wenn bei der Gesetzesanwendung zusätzlich die Zumutbarkeit der Ausreise zu prüfen ist, hat der Gesetzgeber dies ausdrücklich angeordnet, wie in § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG. Danach wird eine Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt, wenn die Ausreise in einen anderen Staat möglich und zumutbar ist. Einen entsprechenden Zusatz enthält § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG gerade nicht. Nach dem Gesetzeswortlaut des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kommt es also auf die Zumutbarkeit einer Ausreise nicht an.“

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Dieses Verständnis von § 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG entspricht auch der früheren Rechtsprechung zu dem wohl als Vorgängervorschrift von § 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG anzusehenden § 30 Abs. 3 AuslG. Nach dieser Vorschrift konnte einem Ausländer, der unanfechtbar ausreisepflichtig war, eine Aufenthaltsbefugnis abweichend von § 8 Abs. 1 erteilt werden, wenn die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 für eine Duldung vorlagen, weil seiner freiwilligen Ausreise und seiner Abschiebung Hindernisse entgegenstanden, die er nicht zu vertreten hatte. Auch bei Anwendung dieser Norm kam es nach der früheren Rechtsprechung allein darauf an, ob die freiwillige Ausreise möglich und nicht darüber hinaus auch zumutbar war (siehe z. B. OVG Lüneburg Urteil vom 31.08.2004 - 13 LB 2296/01 -).

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Nichts anderes folgt aus der Gesetzesbegründung zum (Ursprungs-) Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Zuwanderungsgesetz. Die hier in Rede stehende Vorschrift des § 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG war dort wortgleich in § 25 Abs. 6 S. 1 AufenthG enthalten. In der Gesetzesbegründung zu dieser Vorschrift heißt es, bei der Frage, ob eine Ausreisemöglichkeit besteht, sei auch die subjektive Möglichkeit - und damit implizit auch die Zumutbarkeit - der Ausreise zu prüfen (BT-Drucksache 15/420 S. 80). Wie bereits ausgeführt, spricht der Wortlaut von § 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG (und damit auch von § 25 Abs. 6 S. 1 des Entwurfs) eindeutig dagegen, bei der Frage nach der Möglichkeit der freiwilligen Ausreise auch die Zumutbarkeit zu prüfen. Insofern darf und muss die Gesetzesbegründung zur näheren Auslegung dieser Vorschrift nicht ergänzend herangezogen werden. Hinzu kommt, dass das mit dem Gesetzentwurf verfolgte Ziel, die Duldung ganz abzuschaffen (s. BT-Drucksache a.a.O., S. 62) und damit auch der Praxis von sogenannten Kettenduldungen entgegen zu treten, gerade nicht Gesetz geworden ist. Vielmehr ist auf der Grundlage der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 30. Juni 2004 (vgl. BT-Drucksache 15/347) die nunmehr in § 60 a AufenthG geregelte Duldung weiterhin Bestandteil des geltenden AufenthG. Das mit dem ursprünglichen Gesetzentwurf verfolgte Ziel, durch Abschaffung der Duldung den Kreis der Anspruchsberechtigten für eine Aufenthaltserlaubnis zu erweitern, hat sich in der Gesetz gewordenen Fassung des AufenthG nicht niedergeschlagen. Auch vor diesem Hintergrund kann der „weite“ Begriff der freiwilligen Ausreise in der Gesetzesbegründung zum ursprünglichen Gesetzentwurf für das jetzt geltende AufenthaltG nicht von Bedeutung sein.

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Ein Anspruch der Kläger auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ergibt sich auch nicht aus Abs. 5 Satz 2 dieser Vorschrift. Danach soll die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist. Bei dieser Vorschrift handelt es sich nicht um eine eigenständige Anspruchsgrundlage; sie steht vielmehr in unmittelbarem Zusammenhang mit Satz 1. Grundsätzlich steht nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG im Falle der Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Ermessen der Behörde (“kann“), welches jedoch nach Ablauf der genannten Frist regelmäßig dahin auszuüben ist (“soll“), die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Im vorliegenden Fall fehlt es aber bereits an den Tatbestandsvoraussetzungen nach Satz 1.

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Der Klägerin zu 1) steht unter Berücksichtigung ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen auch kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 S. 1 i. V. m. § 60 Abs. 7 AufenthG zu. Nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung nach u. a. § 60 Abs. 7 vorliegen. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche, konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen nach § 60 a Abs. 1 S. 1 berücksichtigt (Satz 2).

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Der Klägerin zu 1) steht kein Anspruch auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zu. Zwar ergibt sich aus den dem Gericht vorliegenden ärztlichen Bescheinigungen von Frau Dr. N. - Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie - vom 22.03.2004 und vom 23.08.2004 sowie aus dem amtsärztlichen Attest der Stadt G. vom 28.04.2004 und auch aus dem in der Gerichtsverhandlung vorgelegten Attest von Dr. med. M. - Fachärztin für Innere Medizin - vom 07.02.2006, dass die Klägerin zu 1) an psychischen Problemen mit Angstzuständen und Panikattacken leidet. Im Jahr 2004 behandelte Frau Dr. N. die Klägerin zu 1) deshalb mit einer intensiven medikamentösen antidepressiven Therapie und versuchte außerdem, die psychische Dekompensation durch stützende Gespräche, die allerdings von der Tochter hätten gedolmetscht werden müssen, zu mildern und dadurch suizidalen Impulsen entgegen zu wirken. In dem amtsärztlichen Attest vom 28.04.2004 heißt es, eine medizinische Behandlung der Klägerin sei erforderlich und erfolge zur Zeit mit Medikamenten. Die Panikstörung sei erstmals im Jahr 1999 durch die psychiatrische Universitätsklinik G. diagnostiziert worden. Hinweise auf eine posttraumatische Belastungsstörung seien bisher nicht vorgetragen worden. In dem für die im Rahmen von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zu treffende Entscheidung maßgeblichen aktuellen Attest von Dr. med. M. vom 07.02.2006 wird bestätigt, dass die Klägerin zu 1) nach wie vor insbesondere an Angstzuständen, Panikattacken, Anpassungsstörungen und einer Hyperventilationsdyspnoe leidet. Aus dem Attest geht jedoch nicht hervor, inwieweit für die Klägerin zu 1) im Falle ihrer Rückkehr in das Kosovo unter Berücksichtigung dieser gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben besteht. Das Attest enthält keinerlei Angaben dazu, ob und welche Medikamente die Klägerin zu 1) zur Zeit einnimmt. Darüber hinaus hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll gegeben, dass sie bei einer freiwilligen Ausreise der Klägerin zu 1) in ihr Heimatland dieser die erforderlichen Medikamente für ein Jahr mitgeben würde und falls darüber hinaus Medikamente benötigt würden, diese ggf. über die Auslandsvertretung des Heimatlandes der Klägerin zur Verfügung stellen würde. Ferner käme auch eine Überlassung der Medikamente durch eine Apotheke nach Wahl der Klägerin zu 1) in ihrem Heimatland in Betracht. In dem Attest vom 07.02.2006 heißt es zwar, eine Fortführung der psychologischen Behandlung sei dringend erforderlich. Es ist jedoch nicht dargelegt, dass, durch wen und in welcher Weise die Klägerin zu 1) zur Zeit eine psychologische Behandlung erfährt, deren Abbruch sich für die Klägerin zu 1) lebensbedrohlich oder stark gesundheitsbeeinträchtigend auswirken könnte. Zusammenfassend ist festzustellen, dass keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür bestehen, dass bei der Klägerin zu 1) eine den Voraussetzungen von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG entsprechende Beeinträchtigung von Leib oder Leben vorliegen könnte. Bereits deshalb bestand für das Gericht auch kein Anlass zur näheren Sachverhaltsaufklärung.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.