Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 08.07.2021, Az.: 12 B 6389/20

atypischer Fall; befristete Aufenthaltserlaubnis; Lebensunterhalt; Rentenalter; Vertrauensschutz; Witwe

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
08.07.2021
Aktenzeichen
12 B 6389/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 70690
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin - 12 A 6388/20 - gegen das im Bescheid vom 23.11.2020 unter III. angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot wird angeordnet.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Die Kosten des Verfahren tragen die Antragstellerin zu 7/8 und die Antragsgegnerin zu 1/8.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag der Antragstellerin,

die aufschiebende Wirkung ihrer Klage - 12 A 6388/20 - gegen den Bescheid vom 23.11.2020 anzuordnen,

ist zulässig, hat in der Sache aber nur teilweise Erfolg.

I. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist zulässig, insbesondere statthaft.

1. In Bezug auf die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ist der Antrag statthaft, weil die Antragstellerin ihren Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis am 30.07.2020 und damit vor Ablauf der bis zum 30.08.2020 erteilten Aufenthaltserlaubnis gestellt hat. Deshalb hatte der Antrag gemäß § 81 Abs. 4 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) eine Fiktionswirkung ausgelöst, die mit der nach § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sofort vollziehbaren Ablehnung des Verlängerungsantrags beendet wurde. In dieser Konstellation kann Schutz vor Abschiebung durch die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO erlangt werden, die die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht entfallen lässt.

2. Soweit die Klage sich gegen die Abschiebungsandrohung richtet, ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ebenfalls statthaft, weil diese gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 64 Abs. 4 Satz 1 des Niedersächsischen Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (NPOG) sofort vollziehbar ist.

3. Desgleichen ist der Suspensiveffekt der Klage gegen das unter der aufschiebenden Bedingung der Abschiebung angeordnete befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG ausgeschlossen. Nach der neuen gesetzlichen Konzeption handelt es sich bei der Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1, 2 AufenthG in der seit dem 21.08.2019 geltenden Fassung um einen einheitlichen Verwaltungsakt, der nicht zwischen der Anordnung des Verbots und dessen Befristung aufgespalten werden kann (vgl. Nds.OVG, Urt. v. 06.05.2020 - 13 LB 190/19 -, juris Ls. 2 u. Rn. 54 m.w.N.).

II. Der Antrag ist teilweisebegründet.

Das Verwaltungsgericht kann die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO anordnen, wenn das Interesse des betroffenen Ausländers, von einem Vollzug der Verfügung vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an der gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit überwiegt. Bei dieser Interessenabwägung kommt der Erfolgsaussicht der Klage im Hauptsacheverfahren maßgebliche Bedeutung zu. Hier werden sich die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und die Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 23.11.2020 nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung voraussichtlich als rechtmäßig erweisen (nachfolgend unter 1. und 2.). In Bezug auf das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot wird die Klage jedoch wahrscheinlich Erfolg haben, so dass die aufschiebende Wirkung insoweit angeordnet wird (nachfolgend unter 3.).

1. Die Antragstellerin hat voraussichtlich weder einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ihren Verlängerungsantrag noch über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf anderer rechtlicher Grundlage. Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus familiären oder aus humanitären Gründen liegen nicht vor (nachfolgend unter a), b) und c)).

a) Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ihren Antrag auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 28 Abs. 3 Satz 1, 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG, da die Tatbestandvoraussetzungen für ein eigenständiges Aufenthaltsrechts des Ehegatten nach der erstmaligen Erteilung nicht erfüllt sind. Für eine Ermessensausübung bleibt daher kein Raum.

Gemäß §§ 28 Abs. 3 Satz 1, 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten eines Deutschen im Falle der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft als eigenständiges, vom Zweck des Familiennachzugs unabhängiges Aufenthaltsrecht für ein Jahr verlängert, wenn der Deutsche gestorben ist, während die eheliche Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet bestand, und der Deutsche bis dahin seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte. Gemäß §§ 28 Abs. 3 Satz 1, 31 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AufenthG steht die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII der Verlängerung nicht entgegen. Danach kann die Aufenthaltserlaubnis verlängert werden, solange die Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis nicht vorliegen.

Hier ist unstreitig, dass die Antragstellerin die Voraussetzungen für die erstmalige Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach §§ 28 Abs. 3 Satz 1, 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erfüllte, nachdem ihr deutscher Ehemann im November 2014 nach knapp zweieinhalbjähriger Ehezeit verstarb. Entgegen der gesetzlichen Bestimmung erteilte die Antragsgegnerin ihr die Aufenthaltserlaubnis mit einer Laufzeit von drei Jahren statt einem Jahr. Anschließend verlängerte sie die Aufenthaltserlaubnis um zwei Jahre, obgleich die im Jahr 1946 geborene Antragstellerin neben einer Witwenrente in Höhe von ungefähr 90 Euro ergänzende Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII in Höhe von rund 730 Euro bezog. Erst auf den erneuten Verlängerungsantrag hin versagte die Antragsgegnerin ihr mit dem angegriffenen Bescheid vom 23.11.2020 die weitere Erteilung der Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung, dass der Lebensunterhalt nicht gesichert sei und kein atypischer Fall vorliege.

Zutreffend hat die Antragsgegnerin auch für die weitere Verlängerung darauf abgestellt, dass die Voraussetzungen aus §§ 28 Abs. 3 Satz 1, 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG einschließlich der in § 5 Abs. 1 AufenthG normierten allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen erfüllt sein müssen. § 8 Abs. 1 AufenthG sieht vor, dass auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis dieselben Vorschriften Anwendung finden wie auf die Erteilung (vgl. zu einer Verlängerung nach § 31 AufenthG auch Nds. OVG, Beschl. v. 08.02.2007 – 4 ME 49/07 – juris Rn. 3). Etwaigen Besonderheiten ist im Rahmen der Prüfung Rechnung zu tragen, ob ein von der Regel des § 5 Abs. 1 AufenthG abweichender Fall vorliegt. Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Der Lebensunterhalt eines Ausländers ist nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichendenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Die Antragstellerin sichert ihren Lebensunterhalt nur zu einem geringen Teil aus eigenen Mitteln und ein Ausnahmefall liegt nicht vor. Ein Ausnahmefall von der regelmäßig zu erfüllenden Voraussetzung der Unterhaltssicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unter folgenden Voraussetzungen vor: Es müssen entweder besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder die Erteilung des Aufenthaltstitels muss aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 Grundgesetz (GG) oder im Hinblick auf Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geboten sein, z.B. weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.04.2009 – 1 C 3/08 –, jurist Rn. 11 - 13, juris; s. auch Nds. OVG, Urt. v. 11.07.2014 – 13 LB 153/13 –, juris Rn. 55). Hier folgt ein atypischer Fall weder daraus, dass die Antragstellerin sich beim Versterben des Ehemannes bereits im Rentenalter befand, noch im Einzelfall aus Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes (nachfolgend unter aa) und bb)).

aa) Inwieweit im Einzelfall bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit oder krankheitsbedingter Erwerbsunfähigkeit ein atypischer Fall angenommen werden kann, kann offenbleiben (vgl. dazu VG Hannover, Urt. v. - 12 A 1360/17 – V.n.b., UA S. 6 f.; Nds. OVG, Beschl. v. 08.02.2007 – 4 ME 49/07 – juris Rn. 4; Bender/Leuschner in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 5 Rdnr. 13; Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Loseblatt Stand April 2021, § 5 Rdnr. 39). Denn jedenfalls ist bei der großen Gruppe der Personen, die altersbedingt nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen können und nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, von einer bewussten gesetzgeberischen Entscheidung zugunsten der fiskalischen Interessen der öffentlichen Hand auszugehen (vgl. auch VG Hannover, Urt. v. 13.03.2020 - 12 A 7531/18 -, V.n.b., UA S. 8; Bayerischer VGH, Beschl. v. 24.04.2014 - 10 ZB 14.524 -, juris Rn. 7; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 21.05.2012 – OVG 2 B 8.11 –, juris Rn. 24, juris; Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 5 Rn. 30; BVerwG, Urt. v. 18.04.2013 - 10 C 10/12 – juris prüft ohne weitere Problematisierung, ob bei der Klägerin im Rentenalter der Lebensunterhalt gesichert ist). Diese ist häufig mit Härten verbunden, insbesondere nach langen Voraufenthaltszeiten im Bundesgebiet. Es besteht keine Veranlassung, dies im Zusammenhang mit dem eigenständigen Aufenthaltsrecht des Ehegatten anders zu sehen, zumal der Gesetzgeber hier eine „Schonfrist“ von einem Jahr nach der trennungs- oder todesbedingten Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft normiert hat. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist es nicht Ziel der Verlängerungsmöglichkeit des § 31 Aufenthaltsgesetz, verwitweten Ausländerinnen und Ausländern dauerhaft dieselben Aufenthaltsrechte zu sichern, die sie ohne das Versterben ihres Ehegatten gehabt hätten.

bb) Zu Recht weist die Antragstellerin darauf hin, dass bei der Prüfung, ob ein atypischer Fall vorliegt, aus Gründen der Verhältnismäßigkeit die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu berücksichtigen sind (vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 22.08.2012 – 10 B 33/12 –, juris Rn. 4). In der Verlängerungskonstellation ist es daher erforderlich, die aufgrund der vormaligen Erteilung der Aufenthaltserlaubnis entstandenen Bindungen an das Bundesgebiet angemessen zu gewichten (vgl. den von der Antragstellerin zitierten Beschl. d. Bayerischen VGH v. 02.11.2010 – 19 B 10.1941 –, juris Rn. 19 ff.). Ein weitergehender Vertrauensschutz in den Bestand befristet erteilter Aufenthaltserlaubnisse über ihrer Geltungsdauer hinaus besteht hingegen nicht (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 17.01.2020 – 4 MB 102/19 –, juris Rn. 5; Hessischer VGH, Beschl. v. 16.12.2020 – 9 B 2282/20 –, juris Rn. 21). Die von der Antragstellerin in Bezug genommene verfassungsgerichtliche Rechtsprechung (BVerfG, Beschl. v. 26.09.1978 – 1 BvR 525/77 –, BVerfGE 49, 168-188, juris Rn. 43) betrifft Grundsätze der Ermessensbindung, die hier nicht einschlägig sind. Zudem hat die Antragsgegnerin weder bei der Ausstellung der ersten Aufenthaltserlaubnis nach §§ 28 Abs. 3 Satz 1, 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG über die gesetzlich vorgesehene Geltungsdauer hinaus noch bei der erstmaligen Verlängerung nach §§ 28 Abs. 3 Satz 1, 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG eindeutig zu erkennen gegeben, dass sie dauerhaft von der regelmäßig erforderlichen Unterhaltssicherung absehen wolle, so dass es ohnedies an der Schaffung eines schützenswerten Vertrauenstatbestands fehlt (vgl. zu den Anforderungen BVerwG, Urt. v. 22.02.2017 – 1 C 3/16 –, juris Rn. 39). Die Antragstellerin hält sich seit April 2012 und damit mittlerweile seit über 9 Jahren im Bundesgebiet auf. Seit dem Tod ihres Ehemannes lebt sie in einer Einliegerwohnung im Haus ihrer einzigen Tochter. Sie macht geltend, außer ihr keine Vertrauensperson zu haben und im Vertrauen auf ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland ihr Haus in C. verkauft zu haben. Dieses Vorbringen führt auch unter Berücksichtigung des Alters der Antragstellerin und ihrer Rechtspositionen aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK nicht zur Annahme, eine Rückkehr nach C. sei ihr nicht zuzumuten und deshalb müsse von der Regelerteilungsvoraussetzung der Unterhaltssicherung abgesehen werden.

In den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG fallen auch die Beziehungen zwischen volljährigen Familienmitgliedern. Diesen kommt im Verhältnis zu den widerstreitenden einwanderungspolitischen Belangen aber in der Regel nur ein geringeres Gewicht zu. Allenfalls dann, wenn beispielsweise ein erwachsenes Familienmitglied zwingend auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist und diese Hilfe sich nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt, kann dies einwanderungspolitische Belange zurückdrängen (Nds. OVG, Beschl. v. 09.12.2019 – 8 ME 92/19 –, juris Rn. 11). Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Antragstellerin unter ernsthaften gesundheitlichen Einschränkungen leidet und auf Leistungen der Lebenshilfe durch ihre Tochter angewiesen ist.

Im Hinblick auf den Schutz des Privatlebens kommt einer aufenthaltsrechtlichen Entscheidung eine Eingriffsqualität in Bezug auf Art. 8 Abs. 1 EMRK nur dann zu, wenn der Ausländer ein Privatleben, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiert ist, faktisch nur noch im Aufenthaltsstaat als Vertragsstaat der EMRK führen kann, er mithin ein „faktischer Inländer“ ist. Fehlt es hieran, liegt schon kein Eingriff in die Rechte des Art. 8 Abs. 1 EMRK vor; einer Rechtfertigung nach den Maßgaben des Art. 8 Abs. 2 EMRK bedarf es nicht. Ob der Ausländer ein Privatleben faktisch nur noch im Aufenthaltsstaat führen kann, hängt zum einen von seiner Integration in Deutschland (Dimension „Verwurzelung“) und zum anderen von der Möglichkeit zur (Re-) Integration in seinem Heimatland (Dimension „Entwurzelung“) ab. Gesichtspunkte für die Integration des Ausländers in Deutschland sind dabei eine zumindest mehrjährige Dauer des Aufenthalts in Deutschland, gute deutsche Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in der Innehabung eines Arbeits- oder Ausbildungsplatzes, in einem festen Wohnsitz, ausreichenden Mitteln, um den Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten zu können, und fehlender Straffälligkeit zum Ausdruck kommt (Nds. OVG, Beschl. v. 28.02.2018 – 8 ME 1/18 –, juris Rn. 17). Die Klägerin weist mit einem mittlerweile langjährigen legalen Aufenthalt in Deutschland, Grundkenntnissen der deutschen Sprache und der engen Beziehung zu ihrer Tochter, einer deutschen Staatsangehörigen, ein Mindestmaß an Verwurzelung im Bundesgebiet auf. Es ist jedoch nicht nachvollziehbar, weshalb ihr eine Reintegration in C. nicht möglich sein soll. Sie hat dort bis zu ihrem 65. Lebensjahr gelebt und ist daher mit den Gegebenheiten einschließlich der Sprache vertraut. Daran wird sie trotz ihres fortgeschrittenen Alters von mittlerweile 74 Jahren anknüpfen können. Dass sie ihr Haus verkauft hat, steht einer Rückkehr nicht entgegen, sondern wirft vielmehr Fragen nach der Berechtigung des durchgehenden Bezugs von Sozialleistungen im Bundesgebiet auf.

In die Betrachtung des Einzelfalles ist daneben einzubeziehen, dass die Klägerin ihren Lebensunterhalt möglicherweise durch Unterhaltsleistungen ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes sicherstellen kann. So hat ihr Schwiegersohn bereits im Jahr 2012 – allerdings lediglich für die Erteilung eines Touristenvisums – eine Verpflichtungserklärung abgegeben. Die Tochter und ihr Ehemann sind offenbar Eigentümer einer selbstgenutzten Immobilie, die sie zum Teil an die Antragstellerin vermietet haben. Bei einer Vorsprache der Tochter bei der Antragsgegnerin am 13.11.2020 hat die Tochter zwar angegeben, die Abgabe einer Verpflichtungserklärung komme für sie gegenwärtig nicht in Betracht. Zur Begründung hat sie jedoch nicht auf eine fehlende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verwiesen, sondern auf die derzeit unklare Situation.

b) Die Antragstellerin hat auch keinen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Antragsgegnerin über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen aus §§ 28 Abs. 4, 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Danach kann sonstigen Familienangehörigen eines Deutschen eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Wie bereits erörtert ist eine außergewöhnliche Härte hier nicht erkennbar.

c) Schließlich liegen auch die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nicht vor. Gemäß §§ 25 Abs. 5 Satz 1, 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kann einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer auch ohne Sicherung des Lebensunterhalts eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Im Falle der Antragstellerin ist weder eine tatsächliche noch eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise – namentlich wegen einer etwaigen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG oder Art. 8 EMRK - gegeben.

2. Die Abschiebungsandrohung entspricht den gesetzlichen Anforderungen aus §§ 58, 59 AufenthG. Die Antragstellerin war und ist nach § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig, da sie die erforderliche Aufenthaltserlaubnis nicht mehr besitzt. Die der Antragstellerin gesetzte Ausreisefrist schöpft das Höchstmaß von 30 Tagen aus und ist daher angemessen.

3. Die bedingte Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots für den Fall der Abschiebung wird sich jedoch voraussichtlich als rechtswidrig erweisen. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristeten. § 11 Abs. 3 AufenthG sieht vor, dass nach Ermessen über die Länge der Frist zu entscheiden ist und dass sie außer in den Fällen der Absätze 5 und 5b fünf Jahre nicht überschreiten darf.

Eine Überprüfung der Ermessensentscheidung nach Maßgabe von § 114 Satz 1 VwGO ergibt, dass die Antragsgegnerin von ihrem Ermessen nicht ausreichend Gebrauch gemacht hat. Für die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots, das für den Fall der Abschiebung erlassen wird, gilt grundsätzlich derselbe Maßstab wie für ein ausweisungsbedingtes Einreise- und Abschiebungsverbot (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 14.02.2013 – 8 LC 129/12 –, juris Rn. 62). Demnach muss die Behörde bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist den Zweck des mit der Abschiebung verbundenen Einreise- und Aufenthaltsverbots in den Blick nehmen. Dieses soll den Ausländer treffen, weil er Anlass für Vollstreckungsmaßnahmen gegeben hat und die Besorgnis besteht, dass dies bei einem künftigen Aufenthalt im Bundesgebiet erneut der Fall sein könnte. Insofern soll die Abschiebesperrfrist den abgeschobenen Ausländer zur Beachtung des deutschen Aufenthaltsrechts im Allgemeinen und der Ausreisepflichten im Besonderen anhalten, um erneuten Zwangsvollstreckungsbedarf zu verhindern (OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 06.07.2020 - OVG 3 B 3/20 -, juris Rn. 25). In einem ersten Schritt bedarf es der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange dieser Zweck das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr tragen kann. In einem zweiten Schritt muss die so bestimmte Höchstfrist an höherrangigem Recht, das heißt an verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG), sowie unions- und konventionsrechtlich den Vorgaben aus Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) und Art. 8 EMRK gemessen und gegebenenfalls relativiert werden. Dabei sind von der Ausländerbehörde nicht nur die nach § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG schutzwürdigen Bleibeinteressen des Ausländers einzustellen, sondern es bedarf unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einer umfassenden Abwägung der betroffenen Belange (vgl. zu diesem zweischrittigen Prüfprogramm im Fall der Ausweisung BVerwG, Urt. v. 10.07.2012 - 1 C 19.11 -, juris Rn. 42; Urt. v. 22.02.2017 - 1 C 27/16 - juris Rn. 23; Nds. OVG, Urt. v. 14.02.2013 – 8 LC 129/12 –, juris Rn. 50 ff.).

Hier hat die Antragsgegnerin den Zweck des abschiebungsbedingten Einreise- und Aufenthaltsverbots zutreffend umrissen und im ersten Schritt beanstandungslos eine Befristung auf die Dauer von zwei Jahren für verhältnismäßig gehalten. Im zweiten Schritt hat sie dann jedoch festgehalten, es seien keine Anhaltspunkte ersichtlich, die eine Verkürzung rechtfertigen könnten. Dabei hat sie übersehen, dass sie selbst wenige Absätze vorher richtigerweise ausgeführt hat, dass die Beziehung der Antragstellerin zu ihrer volljährigen Tochter sowie der über achtjährige Aufenthalt als schutzwürdige Bindungen zu berücksichtigen seien. Diese Umstände müssten ebenso wie das fortgeschrittene Lebensalter der Antragstellerin in einem zweiten Schritt zu einer Verkürzung der Sperrfrist führen.

Da die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots als einheitlicher Verwaltungsakt anzusehen sind (s.o. unter I.3), wird aufgrund des voraussichtlichen Ermessensfehlers bei der Befristungsentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage gegen das auf zwei Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot als Ganzes angeordnet.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Gericht geht für die Kostenquote davon aus, dass die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots an dem Streitwert einen Anteil von einem Achtel hat (vgl. für den Fall einer Ausweisung mit Abschiebungsandrohung und befristetem Einreise- und Aufenthaltsverbot VG Hannover, Beschl. v. 30.06.2020 - 12 B 1649/20 –, juris Rn. 53).

IV. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich an Nr. 1.5 i.V.m. Nr. 8.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. NordÖR 2014, 11).