Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 16.05.2007, Az.: L 6 AS 254/07 ER

Erbringung weiterer Leistungen für Unterkunft und Heizung entsprechend dem Mietspiegel; Ermittlung der konkreten örtlichen Gegebenheiten auf dem Wohnungsmarkt; Zulässigkeit einer kombinierten Anfechtungsklage und Leistungsklage; Notwendigkeit einer einstweiligen Anordnung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
16.05.2007
Aktenzeichen
L 6 AS 254/07 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2007, 33736
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2007:0516.L6AS254.07ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Lüneburg - 10.04.2007 - AZ: S 28 AS 475/07 ER

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 10. April 2007 aufgehoben. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelung wird abgelehnt. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Dem Kläger wird für das Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt C., D., beigeordnet; Raten sind nicht zu zahlen.

Gründe

1

Die Antragsgegnerin wendet sich gegen die Verpflichtung, dem Antragsteller für die Monate August 2006 bis Januar 2007 und ab 12. März 2007 längstens bis zum Ablauf des Monats Juli 2007 weitere 33 EUR monatlich für Unterkunft zu erbringen.

2

Mit Bescheid vom 18. Juli 2006 bewilligte sie dem Antragsteller Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 356 EUR. Die Zugrundelegung der tatsächlichen Kosten in Höhe von 346 EUR zuzüglich 50 EUR Heizkosten einschließlich Warmwasser lehnte sie ab, weil sie nicht angemessen seien und sie den Antragsteller bereits im Juli 2005 darauf hingewiesen habe. Der Widerspruch blieb erfolglos. Auf die am 24. Januar 2007 erhobene Klage hat das SG die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört: Es sei beabsichtigt, den angefochtenen Bescheid aufzuheben und das Verfahren wegen erheblichen Aufklärungsbedarf an die Antragsgegnerin zurückzuverweisen. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung habe die Antragsgegnerin die konkreten örtlichen Gegebenheiten auf dem Wohnungsmarkt zu ermitteln und zu berücksichtigen. Es sei nicht erkennbar, welche Erhebungen sie im Rahmen ihrer Amtsaufklärungspflicht angestellt habe. Konkrete Angaben über den Wohnungsmarkt, die zumindest ansatzweise den Anforderungen eines qualifizierten Mietspiegels entsprächen, habe die Antragsgegnerin nicht getätigt. Ebenso wenig seien konkrete Untersuchungen der einzelnen Faktoren - Lage, Ausstattung und Bausubstanz -erfolgt. Abschließend wies das SG den Antragsteller darauf hin, dass es gemäß § 131 Abs. 5 Satz 2 SGG eine einstweilige Regelung treffen könne, wenn es beantragt werde. Das geschah mit Schriftsatz vom 9. März 2007 und ohne weitere Begründung.

3

Das SG hat durch Gerichtsbescheid vom 5. April 2007 den angefochtenen Bescheid aufgehoben und den Rechtsstreit an die Antragsgegnerin zurückverwiesen. Des Weiteren hat es die Antragsgegnerin im Beschluss vom 10. April 2007 und "im Wege des Erlasses einer einstweiligen Regelung" verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit vom 1. August 2006 bis 31. Januar 2007 Leistungen für die Sicherung der Unterkunft im Rahmen der Leistungsbewilligung nach dem SGB II in Höhe von 346 EUR monatlich für Kaltmiete und Mietnebenkosten zu gewähren. Des Weiteren hat es die Antragsgegnerin "im Wege der einstweiligen Anordnung" verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab dem 12. März 2007 Leistungen für die Sicherung der Unterkunft im Rahmen der Leistungsbewilligung nach dem SGB II in Höhe von 346 EUR monatlich für Kaltmiete und Mietnebenkosten zu gewähren, und zwar längstens bis zum Ablauf des 31. Juli 2007, wenn zuvor nicht eine Entscheidung in der Hauptsache ergehe. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Antrag sei dahin auszulegen, dass sowohl eine einstweilige Regelung nach § 131 Abs. 5 Satz 2 SGG für die Zeit vom 1. August 2006 bis 31. Januar 2007 als auch eine einstweilige Anordnung (86b Abs. 2 Satz 2 SGG) für die Zeit ab dem 12. März 2007, dem Antragseingang bei Gericht, beantragt werde. Sowohl Anordnungsanspruch als Anordnungsgrund seien glaubhaft dargelegt worden. Mangels anderweitiger Möglichkeiten der Beurteilung der Angemessenheit der Unterkunftskosten sei auf die rechte Spalte der Wohngeldtabelle zurückzugreifen. Danach bewegten sich die tatsächlichen Kosten der Unterkunft in diesem Rahmen. Die Eilbedürftigkeit ergebe sich aus dem Umstand, dass das Auflaufen von Mietschulden und damit die Gefährdung der Wohnung des Antragstellers drohe.

4

Dagegen richtet sich die am 18. April 2007 eingelegte Beschwerde, der das SG nicht abgeholfen hat. Sie ist begründet.

5

Allerdings ist das Rechtsmittel nicht schon deshalb erfolgreich, weil das SG die (kombinierte) Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 131 Abs. 5 SGG entschieden hat. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ist die Anwendung dieser Norm, die im Wortlaut § 113 Abs. 3 VwGO entspricht, nicht auf (reine) Anfechtungsklagen beschränkt. Systematische Stellung und insbesondere der in der Gesetzesbegründung verdeutlichte Zweck, einer sachwidrigen Aufwandsverlagerung auf die Gerichte zu begegnen (BT-Drs 15/1508 S 29 li Sp zu Art 8 zu Nr. 1), der bei einer Beschränkung auf (reine) Anfechtungsklagen nicht erreicht würde, sprechen für eine über die Regelungen in § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO und § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO hinausgehende Anwendung auch auf (kombinierte) Anfechtungs- und Leistungs- sowie Verpflichtungsklagen (s auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11. Mai 2005 - L 8 RJ 141/04; Sächs LSG, Urteil vom 26. Oktober 2005 - L 6 SB 43/05; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14. Juni 2006 - L 4 SB 24/06). Indes liegen entscheidend die Voraussetzungen der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hier nicht vor.

6

Nach § 131 Abs. 5 Satz 2 SGG kann das Gericht auf Antrag bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, dass Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Die Norm entspricht § 113 Abs. 3 Satz 2 VwGO und ist auf Abgaben- und Beitragserhebungen zugeschnitten. Sie soll in Anfechtungssachen eine Vollziehbarkeitslücke, die bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts entstehen könnte, schließen. Denn mit der Aufhebung eines Verwaltungsakts entfiele eine sofortige Vollziehbarkeit. Einem Kläger bliebe dann (zunächst) die Erfüllung von Pflichten erspart. Um diese Lücke zu schließen, kann das Gericht einstweilige Regelungen treffen. Für die Abwägungsentscheidung gelten die gleichen Kriterien wie bei § 80 Abs. 5 VwGO und § 86b Abs. 1 SGG (vgl Gerhard in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 113 Rn 53; Wolff in: Sodan/Ziekow VwGO 2. Aufl. 2006 § 113 Rn 385 ff; Meyer-Ladewig SGG § 131 Rn 22).

7

Demgegenüber kommt § 131 Abs. 5 Satz 2 SGG bei (kombinierten) Anfechtungs- und Leistungsklagen keine eigenständige Bedeutung zu. Denn durch die (alleinige) Aufhebung eines Verwaltungsakts entsteht hier keine - nicht anderweitig zu schließende - Lücke. Für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes steht das Instrumentarium des § 86b Abs. 2 SGG zur Verfügung. Erforderlich ist, dass ohne eine einstweilige Anordnung wesentliche Nachteile drohen. Solche sind hier schon deshalb nicht zu erkennen, da der Antragsteller für den streitigen Zeitraum des Hauptsacheverfahrens (August 2006 bis Januar 2007) offensichtlich den Mietzins zu entrichten vermochte. Für die Annahme des SG, es drohe das Auflaufen von Mietschulden und damit die Gefährdung der Wohnung, ergibt sich aus den Prozessakten nichts. Der Antragsteller hat von sich aus - die Antragstellung erfolgte erst nach Hinweis des SG - zu keinem Zeitpunkt die Notwendigkeit einer einstweiligen Anordnung gesehen. Das ist auch plausibel, da es (lediglich) um einen monatlichen Betrag von zusätzlich 33 EUR bei bewilligten Leistungen in Höhe von insgesamt 701 EUR und damit um einen Betrag geht, der weniger als 10 v.H. der Regelleistung beträgt, bei dem auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten die Notwendigkeit einstweiligen Rechtsschutzes nicht ohne Weiteres besteht (BVerfG Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - auch zur Zulässigkeit eines Leistungsabschlags in Eilverfahren). Auch nachdem der Senat ihn auf die erforderliche Eilbedürftigkeit aufmerksam gemacht hat, hat der Antragsteller zu diesem Punkt nichts vorgetragen. Das unterstreicht, dass ein Regelungsbedarf nicht - auch nicht für den laufenden Bewilligungsabschnitt - besteht. Im Übrigen ist die Rüge der Antragsgegnerin berechtigt, das SG habe den Antrag auf eine einstweilige Regelung unzulässig auf den nicht streitgegenständlichen laufenden Bewilligungszeitraum ausgedehnt. Dafür gibt der Antrag im Schriftsatz vom 9. März 2007, der - wie ausgeführt - keine Begründung enthält, nichts her, und Streitgegenstand waren Unterkunftskosten allein für die Monate August 2006 bis Januar 2007.

8

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

9

Auch wenn der Antragsteller unterlegen ist, hat er einen Anspruch auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts, da unbeachtlich ist, ob die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder mutwillig erscheint, wenn - wie hier - der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO).

10

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das BSG angefochten werden (§ 177 SGG).