Sozialgericht Hannover
Urt. v. 13.12.2002, Az.: S 29 P 87/01

Bibliographie

Gericht
SG Hannover
Datum
13.12.2002
Aktenzeichen
S 29 P 87/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 35660
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHANNO:2002:1213.S29P87.01.0A

In dem Rechtsstreit

...

Die 29. Kammer des Sozialgerichts Hannover

hat auf die mündliche Verhandlung vom 13. Dezember 2002

... Vorsitzende,

und die ehrenamtlichen Richterinnen,

für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Der Bescheid der Beklagten vom 15. März 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. August 2001 und des Teilanerkenntnisses vom 22. November 2001 wird abgeändert.

  2. 2.

    Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Leistungen nach Maßgabe der Pflegestufe I ab Januar 2001 zu gewähren.

  3. 3.

    Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

  4. 4.

    Die Beklagte hat die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Tatbestand

1

Die Klägerin, Jahrgang 1920, leidet unter fortschreitender Alzheimerdemenz, somatischer Depression, Osteoporose, Gleichgewichtsstörungen, Herzkrankheit sowie eingeschränkter Seh- und Hörfähigkeit. Sie begehrt die Zuerkennung von Leistungen mindestens der Pflegestufe I bereits ab Januar 2001.

2

Am 16. Januar 2001 stellte die Klägerin einen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung. Die Beklagte holte das nach Hausbesuch erstellte MDK-Gutachten vom 08. März 2001 ein, worin ein täglicher grundpflegerischer Hilfebedarf in Höhe von 24 Minuten täglich festgestellt wurde. Mit Bescheid vom 15. März 2001 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Leistungen der Pflegestufe I seien nicht erfüllt. Am 12. April 2001 erhob die Klägerin Widerspruch. Sie sei in ihrer Beweglichkeit auf das Äußerste eingeschränkt, so dass sie bei der Körperpflege kaum die Pflegeperson unterstützen könne. Allein die Zeitspanne beim Waschen oder Duschen und der Zahnpflege sowie für das An- und Auskleiden betrage weitaus mehr als der vom MDK festgestellte Hilfebedarf. Aufgrund der Knochenschädigung leide die Klägerin unter ständigen und starken Schmerzen und sei nicht mehr in der Lage, allein zu gehen oder zu stehen. Nach Einholung des nach Aktenlage erstellten MDK-Gutachtens vom 18. April 2001 teilte die Beklagte der Klägerin das Ermittlungsergebnis mit. Die Klägerin reichte daraufhin das ärztliche Attest des Allgemeinmediziners vom 19. April 2001 ein, wonach bei der Klägerin immer wieder Angst und Schwindelzustände aufträten, die ein alleiniges Verbleiben in der Wohnung ohne entsprechende Beaufsichtigung unmöglich machten. Die Klägerin sei daher auf die Dauerbetreuung durch die Tochter angewiesen. Mit Bescheid vom 10. August 2001 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit der Begründung zurück, der geltend gemachte allgemeine Betreuungsbedarf sei nicht berücksichtigungsfähig.

3

Mit der am 10. September 2001 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Ziel weiter. Nachdem während des laufenden Klageverfahrens eine Nachbegutachtung durch den MDK mit dem Ergebnis der Pflegestufe II ab 01. August 2001 durchgeführt worden war und die Beklagte mit Schriftsatz vom 22. November 2001 ein entsprechendes Teilanerkenntnis abgegeben hat, hält die Klägerin die Klage im Übrigen aufrecht. Zur Begründung verweist sie auf das ärztliche Attest des vom 25. Oktober 2001, wonach die Voraussetzungen der Pflegestufe II bereits ab Antragstellung vorgelegen hätten. Auch zu diesem Zeitpunkt sei die Klägerin rund um die Uhr auf die Pflege durch die Tochter angewiesen gewesen. Dies gelte, zumal auch damals schon eine deutliche Alzheimer-Symptomatik vorgelegen habe und die Klägerin in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit durch die bestehende Herzkrankheit deutlich beschränkt gewesen sei.

4

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    den Bescheid der Beklagten vom 15. März 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. August 2001 und des Teilanerkenntnisses vom 22. November 2001 abzuändern,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Leistungen nach Maßgabe mindestens der Pflegestufe I ab 16. Januar 2001 zu gewähren.

5

Die Beklagte beantragt,

  1. die Klage abzuweisen.

6

Sie bezieht sich zur Begründung auf die in der Akte enthaltenen MDK-Gutachten und ist der Ansicht, dass für den Zeitraum vor Entlassung aus dem Krankenhaus Ende Juli 2001 keine Pflegebedürftigkeit der Klägerin bestanden habe.

7

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung des Befundberichtes des vom 14. Februar 2002. In der mündlichen Verhandlung hat die Kammer die Tochter der Klägerin, als Zeugin uneidlich vernommen. Wegen der Einzelheiten ihrer Bekundungen wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

8

Außer den Gerichtsakten haben die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Akten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

9

Die Klage ist zulässig und teilweise begründet.

10

Die angefochtenen Bescheide in Gestalt des Teilanerkenntnisses erweisen sich insoweit als rechtswidrig, als die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung von Leistungen der Pflegestufe I ab Antragstellung hat. Die Zuerkennung von Leistungen nach Maßgabe der Pflegestufe II bereits ab Antragstellung kommt hingegen nicht in Betracht.

11

Gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 Sozialgesetzbuch, Elftes Buch, Pflegeversicherung (SGB XI) sind Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen. Gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 2 SGB XI sind Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der entsprechende Zeitaufwand muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen.

12

Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen des täglichen grundpflegerischen Hilfebedarfes in der Pflegestufe I mit mehr als 45 Minuten täglich im streitigen Zeitraum; einen täglichen grundpflegerischen Hilfebedarf in Höhe der Pflegestufe II mit mindestens 120 Minuten täglich hält die Kammer indes nicht für nachgewiesen. Im März 2001 hat der MDK bei einem Hausbesuch einen täglichen grundpflegerischen Hilfebedarf in Höhe von 24 Minuten täglich, im Oktober 2001 einen entsprechenden Hilfebedarf in Höhe von 145 Minuten pro Tag festgestellt. Innerhalb von 5 Monaten ist damit ein Anstieg des Hilfebedarfes in der Grundpflege in Höhe von ca. 120 Minuten dokumentiert. Während die Klägerin bei der Begutachtung im März 2001 noch situationsadäquat reagierte und sinnvolle Antworten gab und insgesamt etwas depressiv und leicht antriebsgemindert war, wird gutachterlicherseits im Oktober 2001 wahrgenommen, dass die Klägerin offensichtlich unter Konzentrationsstörungen und einer ausgeprägten Vergesslichkeit litt; sie machte einen deprimierten und antriebsarmen Eindruck. Der Gutachter führt die Verschlechterung im Oktober gegenüber März des gleichen Jahres auf die Auswirkungen einer dreitägigen stationären Behandlung der Klägerin wegen Skabies Ende Juli 2001 zurück. Nach Angaben der Tochter sei bei der Klägerin nach Verlassen des Krankenhauses ein zunehmender geistiger Abbau mit Persönlichkeitsveränderungen zu beobachten gewesen. Die Kammer ist der Überzeugung, dass zwar entsprechend den gutachterlichen Feststellungen aus Oktober 2001 eine wesentliche Erhöhung des grundpflegerischen Hilfebedarfes der Klägerin auf Pflegestufe II ab August 2001 eingetreten ist. Es erscheint hingegen auch aufgrund der Aussage der Zeugin in der mündlichen Verhandlung für überwiegend wahrscheinlich, dass bereits vor diesem Termin die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Pflegestufe I vorgelegen haben. So wird das Gutachten des MDK vom 08. März 2001 vor dem Hintergrund der Zeugenaussage als nicht zutreffend angesehen. Die Zeugin, gleichzeitig die Tochter der Klägerin, hat die häusliche Pflegesituation nachvollziehbar geschildert; eine Neigung zu Übertreibungen konnte die Kammer nicht feststellen. So hat die Zeugin überzeugend dargelegt, dass die Klägerin am Tag der MDK-Begutachtung am 06. März 2001 kein realistisches Bild der Pflegesituation geboten hat. Die Klägerin hat sich völlig anders verhalten als im Pflegealltag üblich. Sie hat sich Mühe gegeben, den tatsächlich bestehenden Hilfebedarf zu überspielen und sich damit als möglichst selbständig dargestellt. Nach glaubhafter Schilderung der Zeugin war bereits zum damaligen Zeitpunkt regelmäßig eine fast volle Übernahme der Verrichtungen der Körperpflege notwendig. Auch in den Bereichen der Ernährung und Mobilität musste umfangreich unterstützt werden. Diese Einschätzung wird auch durch die Bescheinigung des vom 25. Oktober 2001 bestätigt, wonach bereits in der ersten Jahreshälfte 2001 eine deutliche Alzheimersymptomatik vorlag, aus der auch zu diesem Zeitpunkt schon ein umfassender Hilfebedarf resultierte. So erscheint es der Kammer auch als unwahrscheinlich, dass bei einem durchgängig bestehenden umfassenden Krankheitsbild einer 80jährigen mit Morbus Alzheimer der plötzliche Anstieg des grundpflegerischen Hilfebedarfes um 120 Minuten aufgrund eines lediglich 3tägigen Krankenhausaufenthaltes gegeben ist. Nachvollziehbar erscheint hingegen, dass aufgrund eines bestehenden grundpflegerischen Hilfebedarfes in Höhe von mehr als 45 Minuten aufgrund der Verschlechterung Ende Juli 2001 eine wesentliche Erhöhung auf 145 Minuten täglich erfolgt ist.

13

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.